Kaschnitz, Marie Luise Freiin von 

Geburtsdatum/-ort: 31.01.1901;  Karlsruhe
Sterbedatum/-ort: 10.10.1974; Rom, begraben in Bollschweil
Beruf/Funktion:
  • Lyrikerin und Schriftstellerin
Kurzbiografie: 1901-1921 Kindheit und Jugend in Potsdam und (ab 1913) Berlin, seit 1918/19 in der Familienheimat Bollschweil bei Freiburg i. Br.
1919 Erste Veröffentlichung einer Novelle ‚Der Geiger‘ in der ‚Badischen Presse‘
1922-1924 Buchhändlerlehre in Weimar
1924-1925 Arbeit als Buchhändlerin in München und in einem Antiquariat in Rom; 1925 Heirat
1926-1932 Rom. Erste Gedichte und Prosa
1930 Förderung durch Max Tau (1897-1976), der als Lektor im Bruno Cassirer-Verlag ihre ersten Erzählungen in dem Sammelband ‚Vorstoß‘ veröffentlichte
1932-1937 Königsberg, wohin ihr Mann (nach erfolgter Habilitation in Freiburg/Br.) berufen wurde
1933 Erste selbständige Publikation, der Roman ‚Liebe beginnt‘, im Verlag Bruno Cassirers
1935 Lyrikpreis der Zeitschrift ‚Die Dame‘
1937-1941 Marburg/Lahn, wohin ihr Mann berufen wurde
1941-1953 Frankfurt/M.; 1948 Mitherausgeberin der Monatsschrift ‚Die Wandlung‘ (bis 1949)
1949 Mitglied des PEN-Clubs
1953-1956 Rom, wo ihr Mann als Direktor das Deutsche Archäologische Institut leitete
1955 Georg-Büchner-Preis. Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung
1956-1974 Frankfurt/M. mit häufigen Aufenthalten in Rom und Bollschweil
1957 Immermann-Preis der Stadt Düsseldorf
1959 Mitglied der Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz
1960 Inhaberin des Lehrstuhls für Poetik an der Universität Frankfurt/M.
1961 Stipendiatin der Villa Massimo in Rom
1964 Georg-Mackensen-Preis für die beste Kurzgeschichte und Preis des Kulturkreises im Bundesverband der Deutschen Industrie
1965 Mitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Künste in München
1966 Goethe-Plakette der Stadt Frankfurt/M.
1967 Ehrenbürgerin von Bollschweil und Aufnahme in den Orden Pour le mérite
1968 Dr. phil. h. c. der Universität Frankfurt/M.
1970 Johann Peter Hebel-Preis
1971 Goethe-Plakette des Landes Hessen
1973 Roswitha-Gedenkmedaille der Stadt Bad Gandersheim
Ausgedehnte Studienreisen mit ihrem Mann zumeist im Mittelmeerraum (Italien, Griechenland, Nordafrika, Türkei). Lesereisen u. a. nach Südamerika und USA
Weitere Angaben zur Person: Verheiratet: 1925 Bollschweil, Prof. Dr. Guido Kaschnitz von Weinberg (1890-1958), österreichischer Archäologe
Eltern: Adolf Max von Holzing-Berstett (1867-1934), badisch-preußischer Offizier (Generalmajor)
Elsa von Seideneck (1875-1941)
Geschwister: Karola (Mady), verh. Marschall von Bieberstein (1897-1960)
Helene (Lonja), verh. Stehelin-Holzing (1898-1964), Dichterin und Übersetzerin (Werkausgabe mit Nachwort von Marie Luise Kaschnitz 1969)
Adolf Max Arthur (Peter) (1903-1983)
Kinder: Iris Schnebel-Kaschnitz(geb. 1928)
GND-ID: GND/118560395

Biografie: Erich Kleinschmidt (Autor)
Aus: Baden-Württembergische Biographien 2 (1999), 248-250

Das vielseitige und konsequent entwickelte Werk der Kaschnitz gehört sowohl auf dem Gebiet der Lyrik als auch in Roman, Erzählung, Hörspiel, Essay und Tagebuch zu den erstrangigen Leistungen der deutschen Nachkriegsliteratur.
Das Frühwerk, verhaftet in mentalen ‚Kunst‘-Positionen der inneren Emigration, verfügt noch kaum über ein eigenes Profil und wurde deshalb auch von der Autorin zu Lebzeiten mit Ausnahme des ‚Gustave Courbet‘-Buches (1949, 2. Aufl. 1967 als ‚Die Wahrheit nicht der Traum‘) keiner Neuauflage für wert befunden. Ihr erster Roman ‚Liebe beginnt‘ (1933) nach ihrem erzählerischen Debüt mit ‚Spätes Urteil‘ und ‚Dämmerung‘ (1930) kreist wie der Dido-Roman ‚Eilissa‘ (1937) um die Grunderfahrung von Leben und Tod im Spannungsfeld der Geschlechter und entspricht bis in den Einbezug autobiographischer Elemente insofern der Tradition einer ‚Frauenliteratur‘. Doch erliegt sie deren Klischees nicht, sondern wahrt den eigenen, distanzierten Blick, der auch das Gesellschaftliche und Politische (etwa den italienischen Faschismus) einbezieht.
Die dichterische Ausgangslage der stark von autodidaktischer Aneignung bestimmten Kaschnitz wird durch die in späteren essayistischen Arbeiten neu akzentuierte (‚Zwischen Immer und Nie‘, 1971), bildungsbürgerliche Literaturtradition des 19. Jahrhunderts geprägt (daraus neben einer kommentierten Ausgabe zu Grillparzers ‚Medea‘ 1966 eine Gedichtanthologie zu Eichendorff 1969 sowie der Nachlaßtext ‚Florens. Eichendorffs Jugend‘, 1984), was den antiken Kulturfundus als Rückzugsbasis einschließt (‚Griechische Mythen‘, 1946). Für ihre eigene Lyrik sind zunächst Muster mit vormoderner Dichtungssprache prägend, wie auch die Motivwahl (Landschaft, Natur, Kindheit, Liebe, Tod usw.) traditionellen Vorgaben folgt. Der selbst bezeugte Einfluß Trakls (Auswahlausgabe 1974) ist eher grundsätzlicher als formaler Art.
Der Zusammenbruch 1945 bedeutet für Kaschnitz einen künstlerischen Impuls mit Hinwendung zu konkreter Zeiterfahrung. Die zerstörte Welt wird anders als bei Autoren der sogenannten „Trümmerliteratur“ als positiver Neubeginn angenommen und ohne Beschönigung thematisiert. Zunächst noch in eher herkömmlicher, gereimten Form arbeitend (‚Totentanz und Gedichte zur Zeit‘, 1947), erweitert die Autorin ihr Repertoire (‚Zukunftsmusik‘, 1950) zu maßstabsetzender Meisterschaft (‚Neue Gedichte‘, 1957) mit eigenwilliger Sprachverknappung und thematischer Neuorientierung. Der Tod des Gatten führt zur lyrischen Auseinandersetzung mit dem Tod überhaupt (‚Dein Schweigen – meine Stimme‘, 1962), ohne daß dies im weiteren Spätwerk die Abwendung vom ‚öffentlichen‘ Gedicht einleitete. Der bedeutende, das poetische Anliegen zwischen Zeit- und Gesellschaftswahrnehmung sowie persönlicher Lebenssumme zusammenfassende, letzte Gedichtband (‚Kein Zauber-Spruch‘, 1972) bezeugt den Rang dieser großen, zur Selbständigkeit gereiften Dichterin der Moderne, die Sensibilität des Bewußtseins mit gestalterischer Kraft und Ursprünglichkeit verbindet.
Neben die Lyrikerin Kaschnitz tritt die Erzählerin, die in der literarischen Nachkriegsgattung Kurzgeschichte ihre Form fand und sie zu eigenständiger Kontur entwickelte. Die Bände ‚Das dicke Kind‘ (1950, mit autobiographischem Hintergrund), ‚Lange Schatten‘ (1960) und ‚Ferngespräche‘ (1969) sind pointierte Auseinandersetzungen mit einem ‚Anderen‘ unterschiedlicher Gestalt, dem sich das wahrnehmende Ich reflektierend aussetzt und dabei allgemeine Grenzen des Lebens zu markieren versucht. Die narrative Grundhaltung wird dabei von der gleichen Disposition bestimmt, die Kaschnitz dazu veranlaßt, sich dem literarischen Tagebuch und daraus entwickelten Berichtsformen zuzuwenden. Die exerzitienhafte Selbstdisziplinierung für die Aufzeichnung bedeutet für die Autorin eine ausdrückliche, wache und kritische Hinwendung zum Dasein, an dem intensiv teilzuhaben die Ausdrucksbewegung selbst nicht nur Mittel, sondern zugleich intensiv durchgestaltetes Dokument ist.
Neigen die „Römischen Betrachtungen“ ‚Engelsbrücke‘ (1955) noch der essayistischen Stilisierung bei der autobiographischen Impression zu, so gibt ‚Tage, Tage, Jahre‘ (1968) diese Konzeption auf. Der Aufzeichnungscharakter des Textes zielt auf formalen Strukturgewinn, der ureigener Individualität entspringt. Die Entwicklung zu einer charakteristischen Werkidee ist damit eingeleitet, die den skizzierten Ausdruck über das Tagebuch hinaus an einen jeweils eigenen Formierungsprozeß bindet. Das Leitbild dieses Ansatzes wird in ‚Beschreibung eines Dorfes‘, des Heimatortes Bollschweil, schon 1966 exemplarisch realisiert. Gesteigert findet es sich dann in dem Band ‚Neue Prosa‘ (1972) als Mischung kurzer Texte, die konzentrierte Wahrnehmungseindrücke beschreiben und dabei ein sehr spezifisches, die späten sechziger Jahre erfassendes Zeitdokument entstehen lassen. Hier wie im letzten Prosaband ‚Orte‘ (1973), der von einer großen schöpferischen Ausdruckskraft subjektiver Assoziationen zeugt, entwickelt Kaschnitz eine hochverdichtete Gestaltungssphäre, die Räume des Bewußtseins thematisiert.
Über die Intensität des Spätwerks verfügt das 20 Arbeiten umfassende, zumeist den fünfziger Jahren zuzurechnende Hörspielœuvre (zusammengestellt in ‚Hörspiele‘, 1962, und ‚Gespräche im All‘, 1971) zwar nicht, doch kann es auch angesichts seiner zeitgenössischen Wirkung zum festen und bewahrenswerten Bestand dieser wichtigen Radiogattung der Nachkriegszeit gezählt werden. Das Repertoire fußt zumeist auf historischen, antiken und christlichen Stoffen, nutzt aber auch aktuelle, soziale und politische Sujets. Formal zog Kaschnitz bei der Beschäftigung mit dem Hörspiel die dialogische Form an. Die medienbedingte Breite der Darstellung mit handlungsreicher Anlage stand jedoch in einem Spannungsverhältnis zu ihrer sonstigen Tendenz, konzentrierte Ausdrucksformen zu suchen.
Das künstlerisch ebenso anspruchsvolle wie eigenwillige Werk der Kaschnitz vermittelt Humanität und Lebenswissen, ohne den gesellschaftlichen Widersprüchen und Destruktionen der Zeit harmonisierend auszuweichen. Ihr Formwille, der sich von sprachexperimentellen wie hermetischen Tendenzen der Moderne abgrenzt, zielt auf eine in aufklärerischer Tradition stehende Textpraxis, die Bewußtsein schaffen und verändern will.
Quellen: Nachlaß im DLA Marbach
Werke: Über das Gesamtwerk informiert bibliographisch vollständig G. von Wilpert/A. Gühring (Hgg.), Erstausgaben deutscher Dichtung, 2. Aufl. 1992, S. 823-825 (60 Nr.). Gesammelte Werke, 7 Bde., hg. von C. Büttrich/N. Miller, 1981-1989
Eine zuverlässige Forschungsbibliographie fehlt. Veraltet ist die Erfassung in E. Linpinsel, Marie Luise Kaschnitz. Leben und Werk, 1971. Relativ vollständig ist die Zusammenstellung der Sekundärliteratur bei Chr. Büttrich in dem auch sonst wichtigen Sammelband: U. Schweikert (Hg.), Marie Luise Kaschnitz, 1984. Eine umfassende Erforschung und Würdigung des Gesamtwerks, die über den Stand von Aufsätzen zu Einzelaspekten (zumeist der Lyrik) hinausgeht, steht noch aus. An neueren Monographien liegen vor: E. Pulver, Marie Luise Kaschnitz, 1984; E. L. Falkenhof, Marie Luise Kaschnitz’ literarisches Debüt, Diss. Hannover 1987; Th. E. Dohle, Marie Luise Kaschnitz im Dritten Reich und in der Nachkriegszeit, Diss. München 1989. – Biographie: NDB Bd. 11, Sp. 313-315 (A. Kuchinke-Bach); D. von Gersdorff, Kaschnitz. Eine Biographie, 1992; Ulrike Suhr, Poesie als Sprache des Glaubens: eine theologische Untersuchung des literarischen Werks von Marie Luise Kaschnitz. 1992. Weitere Literatur in LB 14 (bis 1993)
Nachweis: Bildnachweise: Umfangreiches Material im DLA Marbach
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