Schleyer, Hanns-Martin 

Geburtsdatum/-ort: 01.05.1915;  Offenburg
Sterbedatum/-ort: 18.10.1977; ermordet (an unbekanntem Ort)
Beruf/Funktion:
  • Industrieführer, Opfer des Terrorismus
Kurzbiografie: 1934 Abitur in Rastatt, danach Studium der Rechts- und Wirtschaftswissenschaft in Heidelberg und Innsbruck
1938 Erstes juristisches Staatsexamen, Promotion zum Dr. jur. in Innsbruck (kirchenrechtliches Thema, Titel nicht bekannt)
1939-1940 Wehrdienst
1940-1941 Leiter des Studentenwerks an der Prager Karls-Universität
1942-1945 Leiter des Präsidialbüros des Zentralverbandes der böhmisch-mährischen Industrie
1945-1948 Internierungslager der französischen Besatzungsmacht
1949-1951 Leiter des Außenhandelsbüros der IHK in Baden-Baden
1952-1977 Tätigkeit bei der Daimler-Benz AG, zunächst im Hauptsekretariat; ab 1959 stellvertretendes und ab 1963 ordentliches Mitglied des Vorstandes für das Ressort Personal-, Sozial- und Bildungspolitik; von 1969 bis 1971 auch Chef der Zentralplanung
1962-1973 Vizepräsident, später Präsident des Verbandes der Metallindustrie Baden-Württemberg e. V.
1965-1973 Vizepräsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände
1973-1977 Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände
1977 Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie
Weitere Angaben zur Person: Religion: römisch-katholisch
Verheiratet: 1939 München, Waltrude, geb. Ketterer
Eltern: Vater: Ernst Schleyer (1882-1959), Landgerichtsdirektor
Mutter: Helene, geb. Reithinger (1883-1979)
Geschwister: Ursula (1919-1944)
Kinder: 4 Söhne
GND-ID: GND/118608142

Biografie: Harald Peipers (Autor)
Aus: Baden-Württembergische Biographien 1 (1994), 322-325

Am 5. September 1977 verübten Terroristen im Kölner Stadtteil Braunsfeld einen Anschlag auf Schleyer, den Präsidenten der Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände und des Bundesverbands der Deutschen Industrie. Sein Fahrer und 3 ihn begleitende Polizeibeamte wurden erschossen, Schleyer an unbekannten Ort entführt. Die Terroristen waren Angehörige der „Rote Armeefraktion“ (RAF), einer straff organisierten, hochtrainierten Kleingruppe, deren Ziel die Zerstörung des freiheitlich demokratischen Rechtsstaates war. Sie hatten ihre kriminelle Entschlossenheit und Gefährlichkeit zuvor schon wiederholt unter Beweis gestellt. Von der Bundesregierung forderten sie nach der Entführung die Freilassung von 10 RAF-Angehörigen im Austausch gegen Schleyer. Die Bundesregierung gab der Erpressung nicht nach.
Am 18. Oktober wurde Schleyer von seinen Entführern ermordet. Einen Tag später fand man seine Leiche im Kofferraum eines in Mühlhausen, Elsaß, abgestellten PKW. Bundespräsident Walter Scheel sagte bei der Trauerfeier für Schleyer: „Der Tod Hanns-Martin Schleyers ist, so meine ich mit nachdenklichen Menschen in unserem Land, ein Einschnitt in der Geschichte der Bundesrepublik. Von dieser Stunde der Trauer und der Besinnung muß eine verwandelnde Kraft ausgehen.“
Die Worte des Bundespräsidenten entsprachen einem in der Bevölkerung damals allgemein verbreiteten Gefühl, daß Staat und Gesellschaft einen Teil der Verantwortung an dem tragischen Geschehen mitzutragen hatten. Bezeichnenderweise wurde dieser Aspekt in der öffentlichen Diskussion nur in allgemeiner Form behandelt, doch nie in die Tiefe gehend analysiert und bewertet. Bei einer Würdigung des Wirkens und des Schicksals von Schleyer darf hingegen die Frage nach der Mitverantwortung von Staat und Gesellschaft, denen Schleyer in der vordersten Reihe gedient hatte, nicht ausgeklammert werden.
Die Gründe für das Schweigen der Verantwortlichen sind unschwer zu erkennen. Zu viele von Ihnen, in fast allen Bereichen des politischen, gesellschaftlichen, kirchlichen und geistigen Lebens und in den Medien, mußten sich unmittelbar betroffen fühlen. Nur wenige haben das später bekannt.
Die Entwicklungen in Staat und Gesellschaft, die zum Entstehen terroristischer Gruppen in der Bundesrepublik führten, sind symptomatisch für eine hierzulande bis zum heutigen Tag bestehende Unsicherheit im Umgang mit der Freiheit. Zu oft wurde in der Bundesrepublik seit den sechziger Jahren Toleranz gegenüber dem Intoleranten geübt. Rechtsbrüche wurden hingenommen, Rechtsmißbrauch geduldet, Kritik an Staat und Gesellschaft bösartig überzogen. Die gesellschaftspolitische Diskussion glitt in Hetze gegen Andersdenkende ab. Personifizierte Feindbilder entstanden. Ein solches Zerrbild wurde von Schleyer gezeichnet und mit Hilfe der Massenmedien in die Öffentlichkeit transportiert. Man stellte ihn als den rücksichtslosen Unternehmer frühkapitalistischer Prägung dar.
Die Diffamierung hätte größer nicht sein können. Schleyers Credo war der in Freiheit lebende, der Gemeinschaft verpflichtete und eigenverantwortlich handelnde Mensch, dessen Existenz und Entfaltung nur der freiheitliche, soziale Rechtsstaat gewährleisten konnte. Diese Überzeugung war tief in ihm verwurzelt. Dazu haben die Erfahrungen und Lehren aus der Zeit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft beigetragen. Den unserer Freiheit, unserem Staat und unserer Gesellschaft drohenden vielfältigen Gefahren ist er entschlossen entgegengetreten, öffentlich und in zahlreichen Einzelgesprächen mit denen, die politische und gesellschaftspolitische Verantwortung trugen.
In seinem Buch „Das soziale Modell“, in dem er Gedanken und Leitbilder für eine freiheitliche Wirtschafts- und Sozialordnung formuliert hatte, schrieb er im Jahre 1973 mit Blick auf jene, die unter Inanspruchnahme und Mißbrauch der Freiheitsrechte die Freiheit zerstören wollten: „Die Freiheit ist immer der Versuchung ausgesetzt, sich selbst absolut zu machen, und aus der Endlichkeit des Menschseins auszubrechen. Sie erlebt sich dann als Widerspruch zu jeglicher Ordnung; jedes fremde Gesetz wird negiert. Der extreme Individualismus wird gesellschaftsfeindlich, weil er vergißt, daß die Freiheit der anderen die eigene Freiheit beschränken muß.“
Schleyer sammelte schon in der Jugend erste Erfahrungen mit dem Leben des Einzelnen in einer größeren, gleichen ideellen Zielen verpflichteten Gemeinschaft. Er war in Gernsbach als Sohn eines Amtsrichters in einem sozialbewußten, konservativen Elternhaus aufgewachsen. Auf dem Gymnasium (Konvikt) in Rastatt, das er als Fahrschüler besuchte, trat er einer Schülerverbindung bei, später als Jurastudent dem Corps Suevia in Heidelberg. In beiden Gemeinschaften zeichnete er sich durch volles Engagement aus. Er blieb ihnen bis zu seinem Tod eng verbunden.
Im weiteren Verlauf seines Studiums bezog er die Universitäten Innsbruck und Prag. Dort war er Leiter der Studentenwerke, einer Sozialeinrichtung der Studentenschaft. Nach Referendarexamen, Promotion zum Dr. jur. und Militärdienst, aus dem er aufgrund einer Unfallverletzung ausschied, knüpfte er erste Kontakte zur Wirtschaft. Er wurde beim Zentralverband der böhmisch-mährischen Industrie tätig und war bei Kriegsende dort Abteilungsleiter. Nach Krieg und Internierung übernahm er außenwirtschaftliche Aufgaben bei der Industrie- und Handelskammer Baden-Baden. 1952 trat er in die Dienste der Daimler-Benz AG und stieg dort innerhalb von 7 Jahren vom Sachbearbeiter zum Vorstandsmitglied auf. Seine Aufgaben im Unternehmen konzentrierten sich auf das Personal-, Sozial- und Ausbildungswesen. Darüber hinaus übernahm er überbetriebliche Aufgaben. Er wurde in den Vorstand des Verbandes der Metallindustrie Baden-Württemberg berufen, dessen Vorsitz er 1962 übernahm.
In dieser Zeit wurde er einer breiten Öffentlichkeit bekannt, als er die punktuellen Streiks der baden-württembergischen Metallarbeiter im Jahre 1963, später noch einmal 1971, mit massiven Aussperrungen beantwortete. Schleyers Auffassung war, es gehöre zu den elementaren Voraussetzungen der Tarifautonomie, daß die Tarifparteien in der Lage sind, einander mit gleichen Verhandlungschancen gegenüberzutreten, weil sich sonst das Diktat des Stärkeren durchsetzen würde. Die unter Schleyers Führung für die Metallindustrie von Baden-Württemberg ausgehandelten Tarifverträge trugen seine unverkennbare Handschrift. Sie hatten Modellcharakter für die Metallindustrie der Bundesrepublik.
Mit Leidenschaft und Entschiedenheit hat sich Schleyer auch an der Diskussion des neuen Betriebsverfassungsgesetzes, das im Jahre 1952 in Kraft trat, beteiligt. Er glaubte, daß dieses Gesetz durch sein Übermaß an Institutionalisierung die Funktionsfähigkeit der Unternehmensführung erheblich beeinträchtige und Funktionärsgeist in die Betriebsvertretungen hereintrage.
Hervorzuheben ist auch Schleyers Ringen um ein Mitbestimmungsgesetz, das den Eigentümern in letzter Instanz die Entscheidung über ihr Eigentum beließ. Die Diskussion war von schweren Kontroversen gekennzeichnet. Sie fallen in die letzten Jahre vor seiner Entführung und dauerten darüber hinaus an.
Schleyer hat die komplizierten Zusammenhänge der modernen Industriegesellschaft in der Tiefe durchdacht. Seine Gedanken zu den Aufgaben und der Rolle des Unternehmers im Spannungsfeld zwischen Freiheit und sozialer Gerechtigkeit, zur sozialen Bindung des Eigentums, zum Sozialschicksal und der Menschenwürde des am Wirtschaftsprozeß teilnehmenden Individuums haben an Aktualität nichts verloren. Im eigenen Unternehmen hat Schleyer seine Gedanken in beispielgebender Weise in die Tat umgesetzt. Er war davon überzeugt, daß der arbeitende Mensch die Vorzüge des freiheitlichen, marktwirtschaftlichen Systems und seine humanen Aspekte nur verstehen und sich zu eigen machen kann, wenn er in seiner Arbeitswelt auch als Mensch respektiert wird, daß andererseits eine Enttäuschung in diesem Bereich durch Abdrängung ins bloß Funktionale der Isolation und dem Kollektivdenken Tür und Tor öffnet. Entsprechend waren seine Forderungen an diejenigen, die Vorgesetztenfunktionen ausübten. Wegweisend waren die von ihm initiierten Programme zur Lehrlingsausbildung, zur Einführung von Berufsanfängern in die Unternehmenspraxis und zur beruflichen Weiterbildung. Nicht branchen- und betriebsspezifisches Wissen allein wurde vermittelt. Auch Themen aus der Wirtschafts-, Sozial- und Gesellschaftspolitik, aus dem Kunst- und Kulturleben waren wichtiger Bestandteil der zahlreichen Aus- und Fortbildungsveranstaltungen, die regelmäßig auf dem eigens hierfür vom Unternehmen erworbenen „Haus Lämmerbuckel“ auf der Schwäbischen Alb stattfanden.
Auf Schleyers Gedanken geht auch eine von der Daimler Benz AG gemeinschaftlich mit anderen Unternehmen, einer Berufsakademie und einer Industrie- und Handelskammer entwickelte Ausbildungsform zurück, die den Abiturienten und Hochschulabsolventen aus ihrer oft anzutreffenden theoretisch-ideologischen Verklemmung heraushelfen sollte. Als „Stuttgarter Modell“ wurde diese Ausbildungsform weit über die Landesgrenzen Baden-Württembergs bekannt.
Schleyers Persönlichkeit war der Schlüssel zu einem steil nach oben führenden Weg und auch zu seinem Schicksal. Der Mensch Schleyer war herzlich, natürlich, hilfsbereit und fröhlich. Sein robustes Äußeres täuschte viele über sein sensibles Wesen hinweg. Er war weder ein Mann des Parketts noch der großen Geste. Seinen Freunden und Mitstreitern, aber auch seinen Gegnern war er aufgrund seiner Geradlinigkeit und Charakterfestigkeit ein zuverlässiger Gesprächs- und Verhandlungspartner. Er ging auf die Menschen zu, suchte das Gespräch, auch das Streitgespräch, das er hart, doch stets mit Toleranz und Fairness führte. Nie hat er den Andersdenkenden verunglimpft. Sein hohes Engagement, sein Wissen und sein ausgeprägtes Gespür für soziale Fragen, seine kämpferisch zupackende, doch auch ausgewogene und kompromißbereite Haltung brachten ihm hohen Respekt in allen Lagern ein.
Schleyers große Stärke war seine Überzeugungskraft. Der damalige Bundespräsident sagte in seiner Trauerrede: „Hanns Martin Schleyer hatte seine Überzeugung nicht, weil er in hohe Ämter berufen wurde, sondern er wurde in hohe Ämter berufen, weil er Überzeugungen hatte, die er entschieden vertrat.“
Für seine Überzeugungen mußte er sterben.
Werke: (unvollständige) Bibliographie der ab 1963 erschienenen und postum bis 1981 veröffentlichten Schriften bei Fritz Lüttgens (vgl. Literatur), 470-481
Nachweis: Bildnachweise: Zahlreiche Fotos im Archiv der Daimler-Benz AG Stuttgart

Literatur: Reportagen, Berichte und Kommentare über die Entführung, die Ermordung und den Staatsakt am 25.10.1977 enthalten die Archive des ZDF und der Anstalten der ARD. Zu Dokumentation der Vorgänge und Würdigungen Schleyers aus den Jahren 1977/78 vgl. LbBW 3 Nr. 10399-1409, 4 Nr. 13123-13126, darin: Dokumentation der Bundesregierung zur Entführung von Hans-Martin Schleyer, München 1977, 384 S.; Fritz Lüttgens, Hans-Martin Schleyer. Eine Verkörperung der sozialen Marktwirtschaft 1986, 498 S., Würzburger Diss. 1987
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Kommentare
Eine sehr enttäuschende Biografie die Schleyer's Antisemitismus und Mitgliedschaft in der SS verklärt und ihn als Opfer darstellt, der "für seine Überzeugungen sterben musste".
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Vielen Dank für Ihre Einschätzung, die Kommission für geschichtliche Landeskunde prüft den Text bereits.

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