Staudinger, Hermann 

Geburtsdatum/-ort: 23.03.1881; Worms (Rhein)
Sterbedatum/-ort: 08.09.1965;  Freiburg i. Br.
Beruf/Funktion:
  • Chemiker, Nobelpreisträger
Kurzbiografie: 1899 Abitur in Worms, dann Chemiestudium in Halle, Darmstadt und München
1903 Promotion bei Prof. Vorländer in Halle
1907 Habilitation bei Prof. Thiele in Straßburg über Ketene
1907 außerordentlicher Prof. der organischen Chemie an der Technischen Hochschule Karlsruhe
1912 ordentlicher Prof. der Chemie an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich
1926 ordentlicher Prof. der Chemie an der Universität Freiburg i. Br.
1939 Herausgeber der Zeitschrift „Die makromolekulare Chemie“
1951 Emeritierung nach 25 Jahren
1951-1956 Direktor des Staatlichen Forschungsinstituts für makromolekulare Chemie in Freiburg i. Br.
1953 Nobelpreis für Chemie. Weitere 37 Ehrungen zwischen 1928-1965, darunter sechs Ehrendoktoren der Universitäten Salamanca, Mainz, Turin, Straßburg, der Technischen Hochschule Karlsruhe sowie der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich, weiter 17 (Ehren-)Mitgliedschaften meist naturwissenschaftlicher Gremien oder Akademien in Europa und Japan
1965 Großes Verdienstkreuz mit Stern und Schulterband des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland
Weitere Angaben zur Person: Religion: ev.
Verheiratet: 1. 1906 Mina Mathilde Dorothea, geb. Förster (1886-1964)
2. 1928 Magda, geb. Woit, Dr. phil. Mag. rer. nat.
Eltern: Vater: Franz Staudinger (1849-1921). Prof. Dr., Neu-Kantianer und Genossenschafter
Mutter: Auguste, geb. Wenck (1852-1944)
Kinder: 4 aus erster Ehe: Eva (geb. 1907), Hilde (geb. 1910), Hansjürgen (geb. 1914), Klara (geb. 1916)
GND-ID: GND/118616927

Biografie: Hans Batzer und Helmut Ringsdorf (Autor)
Aus: Badische Biographien NF 2 (1987), 265-267

Nach dem Abitur hatte Staudinger keineswegs die Absicht, Chemie zu studieren. Er hatte seit frühester Kindheit großes Interesse und Liebe zu Pflanzen und wollte Botanik studieren; dazu ging er nach Halle zu dem bekannten Botaniker Klebs. Gleichzeitig arbeitete er auch analytisch im Volhard'schen Institut, da ihm sein Vater geraten hatte, sich gründlich mit Chemie zu beschäftigen, um besser in die Probleme der Botanik einzudringen. Dieses „Vorstudium“ wurde nie abgeschlossen, denn Staudinger blieb bei der Chemie.
Nach chemischen Studien in Darmstadt, München und Halle führte Staudinger unter der Leitung von Prof. Vorländer seine Promotionsarbeit über „Anlagerung des Malonesters an ungesättigte Verbindungen“ durch. Im Institut von Prof. Thiele in Straßburg arbeitete Staudinger über Umwandlungen von Carbonsäuren in Aldehyde sowie über die Chlor-Entziehung aus einigen α-chlorierten Fluorenderivaten. Bei diesen Arbeiten wurde das erste Keten entdeckt, das wegen seiner großen Reaktionsfähigkeit von Interesse war.
Mit einer Arbeit über Ketene habilitierte sich Staudinger in Straßburg. 1907 folgte er einem Ruf der Technischen Hochschule in Karlsruhe als Nachfolger von Roland Scholl. Der Institutsleiter Carl Engler machte einen sehr starken, bleibenden Eindruck auf ihn, und die Freundschaft bestand bis zu Englers Tod. In Karls ruhe führte Staudinger seine Arbeiten über Ketene weiter und nahm zahlreiche andere Untersuchungen in Angriff, so u.a. über aliphatische Diazoverbindungen, Oxalylchlorid und seine Umsetzungen, sowie über die Darstellung von Isopren und Butadien; hier kam er erstmals mit der Polymerisationsreaktion und ihren Produkten in Berührung.
1912 folgte der Ruf als Nachfolger von R. Willstätter an die Eidgenössische Technische Hochschule Zürich. Der Umzug nach Zürich wurde erleichtert, da ihn verschiedene seiner Mitarbeiter dorthin begleiteten. Dort setzte Staudinger die in Karlsruhe begonnenen Arbeiten insbesondere über Ketene, Nitrene, Phosphine sowie aliphatische Diazoverbindungen fort. Er befaßte sich zusammen mit L. Ruzicka, der ihn von Karlsruhe begleitet hatte, mit der Strukturbestimmung sowie der Synthese von Pyrethrinen, die als Insektenvertilgungsmittel Interesse beanspruchten; weiterhin synthetisierte er einen Aromastoff, der als synthetischer Pfeffer diente. Darüber hinaus gelang zusammen mit Th. Reichstein nach langwierigen Versuchen auch die Analyse des natürlichen Kaffeearomas und die Bereitung eines Surrogates mit relativ naturgetreuen Eigenschaften. Dieser Ausschnitt aus Staudingers Arbeiten zeigt bereits, daß neben den rein wissenschaftlichen Zielsetzungen praktische Gesichtspunkte bei der Auswahl von Forschungsvorhaben für ihn keineswegs eine untergeordnete Rolle spielten.
Von grundlegender Bedeutung für die Erforschung der hochmolekularen Natur- und Kunststoffe wurde ein am 12. Juni 1920 in den Berichten der Deutschen Chemischen Gesellschaft erschienener Artikel „Über Polymerisation“. Man kann wohl ohne Übertreibung sagen, daß diese Arbeit wegweisend für die moderne makromolekulare Chemie ist. Die darin enthaltenen Thesen sind von den Forschungen der nächsten Jahrzehnte bestätigt worden und erscheinen deshalb überraschend modern in ihrer Formulierung, obwohl sie vor über 60 Jahren niedergeschrieben wurden. In den 14 Jahren an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich lehnte Staudinger zwei Berufungen nach Graz und Hamburg ab. Im Jahr 1926 nahm er dann den Ruf nach Freiburg i.Br. als Nachfolger von H. Wieland an. Hier wurden fast ausschließlich die Arbeiten über makromolekulare Verbindungen fortgesetzt und praktisch alle anderen Untersuchungen zu rückgestellt, denn die Erschließung dieses neuen Gebietes erforderte neben der großen Unterrichts- und immer umfangreicheren Verwaltungstätigkeit alle Kräfte.
Es ist bezeichnend, daß Staudinger zunächst seine Untersuchungen auf drei Gebiete konzentrierte:
1. auf den Kautschuk und künstliche Isoprenpolymerisate
2. auf Cellulose
3. auf synthetische Polymere, insbesondere polymeren Formaldehyd (Polyoxymethylen), Polystyrol und Polyäthylenoxid.
In einem Buch faßte Staudinger 1932 die Ergebnisse der 1.-69. Mitteilung über hochpolymere Verbindungen und 1.-39. Mitteilung über Isopren und Kautschuk zusammen; es hatte den Titel: Die hochmolekularen organischen Verbindungen Kautschuk und Cellulose. Hier wurden nicht nur die Strukturaufklärung und Umsetzungen an den Naturstoffen, sondern auch die Herstellung synthetischer Makromoleküle, ihre Identifikation und die Gegenüberstellung zu den natürlichen Analogen beschrieben. Stärke und Eiweiß waren nach Staudingers Ansicht erst nach der Strukturaufklärung der genannten Stoffe mit einiger Aussicht auf Erfolg zu untersuchen.
In der Fachwelt wurde die neue und ungewöhnliche Konzeption kontrovers diskutiert, und es bedurfte der ganzen wissenschaftlichen und persönlichen Eigenwilligkeit Staudingers, um seinen Vorstellungen zum Durchbruch zu verhelfen. Die höchste Anerkennung seines wissenschaftlichen Werkes war die Verleihung des Nobelpreises für Chemie 1953. Staudinger betrachtete das nach seinen eigenen Worten nicht nur als große Ehre und Freude für sich, sondern als Bestätigung der makromolekularen Chemie und der von ihm begründeten Voraussetzungen.
Prof. A. Fredga, der Nobelreferent von Staudinger, begründete die Verleihung des Nobelpreises unter anderem damit, daß Staudinger vor mehr als 30 Jahren schon die Ansicht ausgesprochen hatte, daß ein Molekül eine fast beliebige Größe erreichen könne und daß solche Makromoleküle in unserer Welt eine große Rolle spielten. Staudinger habe seine Ansicht logisch begründet und auch mit mühevollen Untersuchungsreihen die Beweise dazu geliefert. Seine Arbeiten hatten neben der wirtschaftlichen Bedeutung maßgebliche Konsequenzen im Bereich der Biologie und Medizin.
Insgesamt hat Staudinger mit einer großen Zahl Mitarbeiter mehr als 800 (davon rund 500 über makromolekulare Chemie) Arbeiten veröffentlicht. Die Arbeiten über den Aufbau der Makromoleküle schufen die Grundlagen für ein neues Gebiet der organischen Chemie, das in seiner Auswirkung die Lebensweise der zivilisierten Welt, die Industrie und Wirtschaft durch die Produktion und Verarbeitung von synthetischen Makromolekülen als Kunst-, Faserstoffe und Elastomere maßgeblich beeinflußt haben. In der belebten Natur bestehen nicht nur Gerüst- und Depotstoffe, sondern auch Wirk- und Transportsubstanzen (z.B. Insulin und Hämoglobin), wesentliche Bestandteile der Zellmembranen und die Gene aus Makromolekülen; die Vorstellung Staudingers über das Bauprinzip und die inhärenten Variationsfähigkeiten haben zu den Entwicklungen auf diesem Gebiet entscheidend beigetragen (Makromolekulare Chemie und Biologie 1947).
Neben dem so fruchtbaren Werk als Forscher wird in der Öffentlichkeit häufig Staudingers Wirken als Lehrer vergessen. Eine große Zahl von Chemikern und ein Vielfaches mehr von Medizinern und Naturwissenschaftlern wurde in die Denkweise der Chemie eingeführt. Übersichtliche Lehrbücher auch über anorganische Chemie und die Analyse organischer Verbindungen halfen und helfen den Wissensstoff zu vermitteln. Sein besonderes Anliegen aber galt den Doktoranden, die er zu einfacher und klarer Denkweise, zu Pünktlichkeit, Disziplin und Selbstkritik anhielt; stets stand das sauber durchgeführte, reproduzierbare Experiment im Vordergrund. Mit seinen Mitarbeitern behielt er meist ein herzliches Verhältnis weit über die Studienzeit hinaus bei. Die Interessen und Bedürfnisse der Hochschulen und Universitäten waren ihm ein vornehmliches Anliegen, und hier insbesondere die Fragen des Nachwuchses in dem von ihm begründeten Fach der makromolekularen Chemie und Technologie. Wissenschaftler aus seiner Schule erhielten führende Stellungen nicht nur in Industrie und Wirtschaft, sondern auch in der Hochschule und im öffentlichen Leben.
Staudinger war durch seine Engagiertheit in der Wissenschaft geprägt. Wie fast alle bedeutenden Wissenschaftler setzte er sich mit philosophischen und soziologischen Problemen auseinander. Im Ersten Weltkrieg teilte er dem deutschen Oberkommando seine Überlegungen über die Bedeutung der technischen Resourcen mit (wiedergegeben im „Vom Aufstand der technischen Sklaven“) und folgerte daraus, daß der Krieg von den Mittelmächten nicht mehr gewonnen werden könne. Er war auch äußerlich gesehen eine überragende Gestalt mit einem unvergeßlich eindrucksvollen Kopf. Wie von sich selbst, so verlangte er von seinen Mitarbeitern Fleiß, Pünktlichkeit und Disziplin. Trotzdem hatte er menschlich ein enges Verhältnis mit seinen Assistenten; die Zusammenkünfte bei einem Glas Wein unter der großen Linde in seinem Garten waren getragen von einem fröhlichen Geist der Geselligkeit.
Zeit seines Lebens war er ein Freund von Pflanzen. Schon als Kind begann er, sich ein Herbarium anzulegen, und zu seinem 80. Geburtstag schenkte er sich und seiner Frau eine Reise nach Teneriffa, um die dortige Flora kennenzulernen. Auch ging eine der ersten Reisen nach der Emeritierung ins Engadin zur Blüte der Pelzanemonen.
Ein weiteres Interessengebiet war die Geschichte; auch konnte er die in der Schule gelernten Gedichte bis ins hohe Alter auswendig und rezitierte sie bei passenden Gelegenheiten.
Eine Kupferstichsammlung seines Großvaters Dr. E. Wenck, Darmstadt, vergrößerte er mit viel Freude und großer Kenntnis.
Staudinger war ein altruistischer Mensch. Nichts erweist dies eindrücklicher als die Tatsache, daß der Mann, der die wissenschaftlichen und technischen Grundlagen für die Kunststoff- und Faserchemie schuf, keinen Anteil am kommerziellen Erfolg erstrebte und mit seinen Lebensumständen stets zufrieden war. Er liebte eine freundschaftliche und herzliche Gastlichkeit und seinen schönen Garten, er verstand, das Gegebene zu genießen. Die Persönlichkeit war bei allem Temperament, bei aller Dynamik abgerundet.
Werke: Wissenschaftliche Arbeiten: Ketene (50 Mitteilungen), Oxalylchlorid, Autoxydation, aliphatische Diazoverbindungen, Explosionen, insektentötende Stoffe, synthetischer Pfeffer und Kaffeearoma. Von 1920 an Arbeiten über makromolekulare Verbindungen ca. 500 Mitteilungen, davon 120 über Cellulose, ca. 50 über Kautschuk und Isopren.
Bücher: Die Ketene, Verlag Enke, Stuttgart 1912; Anleitung zur organischen qualitativen Analyse, Verlag Springer, Berlin, 1. Aufl. 1923, 6. Aufl. 1955; Tabellen zu den Vorlesungen über allgemeine und anorganische Chemie, Verlag Braun, Karlsruhe, 1. Aufl. 1927, 5. Aufl. 1947; Die hochmolekularen organischen Verbindungen, Kautschuk und Cellulose, Verlag Springer, Berlin 1932, Neudruck 1961; Organische Kolloidchemie, Verlag Vieweg, Braunschweig, 1. Aufl. 1940, 3. Aufl. 1950; Fortschritte der Chemie, Physik und Technik der makromolekularen Stoffe, zusammen mit Prof. Vieweg und Prof. Rohrs, 1. Band 1939, II. Band 1942, Verlag Lehmann, München; Makromolekulare Chemie und Biologie, Verlag Wepf&Co., Basel 1947; Vom Aufstand der technischen Sklaven, Verlag Chamier, Essen-Freiburg 1947; Die makromolekulare Chemie und ihre Bedeutung für die Protoplasmaforschung, im Protoplasmatologie-Handbuch der Protoplasmaforschung –, zusammen mit Dr. Magda Staudinger, Bd. I, 1, Springer-Verlag, Wien 1954; Bibliographie: „Das wissenschaftliche Werk von H. Staudinger“, hg. von Magda Staudinger, Verlag Hüthig&Wepf, 7 Bände 1969-1976.
Arbeitserinnerungen, Verlag Dr. A. Hüthig, Heidelberg 1961.
Nachlaß im Deutschen Museum München.
Nachweis: Bildnachweise: Foto StAF, Bildnissammlung.

Literatur: 20 Beiträge über H. Staudinger von 1954-1969, in: BbG 8/2 Nr. 50950; Hans Sachsse, Ein Chemiker zur Friedensdiskussion: H. Staudinger zu Technik und Politik, in: Nachrichten aus Chemie, Technik und Labor 32, 1984, 974-976.
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