Bekker, Ernst Immanuel 

Geburtsdatum/-ort: 16.08.1827; Berlin
Sterbedatum/-ort: 29.06.1916;  Heidelberg
Beruf/Funktion:
  • Rechtslehrer
Kurzbiografie: 1844 Abitur Berlin
1844-1847 Studium der Rechtswissenschaft in Berlin und Heidelberg
1847 Juristisches Examen in Berlin, anschließend praktische Tätigkeit („Auskultator“)
1849 Dr. jur. in Berlin (Thema der Dissertation: „De evictione citra stipulationem praestanda“)
1849-1852 Aktiver Offizier in der preußischen Armee
1853 Habilitation in Halle (Thema der Habilitationsschrift: „Über die processualische Consumption“)
1855 außerordentlicher Prof. in Halle
1857 ordentlicher Prof. in Greifswald
1862-1863 Hilfsarbeiter im auswärtigen Ministerium Preußens
1874 ordentlicher Prof. in Heidelberg
1884 Geheimrat II. Klasse
1886 Heidelberger Prorektor des Jubiläumsjahres
1899 Dr. phil. h. c.
1903 Geheimrat I. Klasse
1908 In den Ruhestand versetzt
Weitere Angaben zur Person: Religion: ev.
Verheiratet: 1911 mit Helene, geb. Sulzer, verwitwete Zorn
Eltern: Vater: August Immanuel Bekker, ordentlicher Prof. der klassischen Philologie in Berlin (gest. 1871)
Mutter: Sofie, geb. Simon (gest. 1885)
Geschwister: keine
Kinder: keine
GND-ID: GND/118655027

Biografie: Wolfgang Leiser (Autor)
Aus: Badische Biographien NF 1 (1982), 37-38

In der nunmehr definitiv beendeten „Humboldt'schen“ Ära der deutschen Universität waren die Professoren Zugvögel: Keiner blieb in dem Nest, wo er ausgeschlüpft war, und wenige hielt es allzu lange am selben Ort. So wurde auch dieser vollendete Repräsentant Berliner Geistigkeit, Sohn eines berühmten Gelehrten, Patenkind Schleiermachers, Freund Mommsens, Grandseigneur und „preußisch konservativ vom Scheitel bis zur Sohle“ (Anschütz), erst in der Mitte seines Lebens und auf der Höhe seines Ruhmes nach Heidelberg berufen. Dort wirkte er, ein Kathederfürst alten Schlages und gefeierter Lehrer, bis ins höchste Patriarchenalter, letzter der großen Pandektisten, und vertrat mit Geist und Würde eine abtretende Generation, während in Europa die Lichter bereits erloschen waren.
Was Bekker für die Wissenschaft vom römischen Recht geleistet hat, steht in deren Annalen verzeichnet und ist hier nicht zu würdigen. Wir wollen fragen, welche Möglichkeit des Seins dieser Mann in seiner Zeit verkörperte, so daß es noch Jahrzehnte nach seinem Tode lohnt, den Schatten zu beschwören.
Dieser Mann war nicht nur Jurist, sondern höchst vielseitig gebildet: Das war das gehobene Bürgertum des 19. Jahrhunderts auch; immerhin ist die Gestalt des promovierten Berufsoffiziers, der auf der Wachtstube Plautus exzerpiert, auch um 1850 herum wohl nicht alltäglich gewesen; Juristen, die in ihrer Freizeit Kegelschnitte studieren, dürften Seltenheitswert besitzen, denn „iudex non calculat“; das Dilettieren in Musik und Poesie traut man eher den Jüngern Äskulaps zu. Bekker war ein vollendeter Weltmann, der beim großen Heidelberger Jubiläum glänzend die Honneurs machte, als ehemaliger Offizier und zeitweiliger Gehilfe Bismarcks wohl auch das Zeug zu einer diplomatischen Karriere gehabt hätte: Das wird manchem Professor nachgesagt, allerdings nur selten von Dritten.
An wissenschaftlichem Scharfsinn mag ihn sein Lehrer Bruns, an Gelehrsamkeit sein Heidelberger Vorgänger Windtscheid, an Originalität sein Freund Ihering und an Temperament sein germanistischer Antipode Otto von Gierke übertroffen haben: Was an Bekker besticht, ist die Weite des Horizonts und die nüchterne, lebenskluge Unbefangenheit, mit der er das Feld seiner Wissenschaft abschritt.
„Ideologisch“ hoch befrachtet erscheinen uns heute Gelehrte wie Ihering oder Gierke; ihr Pathos erträgt wohl nur noch der historisch geschulte Leser. Gierke wie Bekker hatten in einflußreichen Schriften den 1. Entwurf des BGB kritisiert, Gierke (Der Entwurf eines BGB und das deutsche Recht 1888 und Die soziale Aufgabe des Privatrechts 1889) mit viel Entrüstung über die Preisgabe nationaler Rechtstradition, geschickt gewürzt mit dem Vorwurf, das von Rom übernommene Recht sei „unsozial“. Dagegen nun Bekker (in: „System und Sprache ...“) mit kaum verhohlenem Spott: Wer sich für die „Reaktivierung“ der altehrwürdigen Begriffe „Wahleltern“ und „Mundschaft“ einsetze, müsse wohl auch am „Bürgerlichen Gesetzbuch“ Anstoß nehmen, denn dies sei doch nur Übersetzung von „ius civile“ und sprachlich so mißglückt, wie ein „lederner Handschuhmacher“. Wie wäre es mit „Des Deutschen Reiches Bürgerspiegel“?! Und, ernster werdend: Nicht der Inhalt des römischen Rechts sei vorbildlich – jede Zeit brauche ihr eigenes Recht, das Recht stehe wie alle Dinge in der Evolution (Anschütz irrt, wenn er Bekker den Glauben an das römische Recht als ratio scripta unterschiebt) –, sondern die von den Jureconsulten entwickelte Methode. Als besonders geglückte moderne Gesetzgebung nennt Bekker die Allgemeine Deutsche Wechselordnung von 1848: Die aber reklamierten die Germanisten als Kind ihres Geistes! „Gemeinschaftsfeindlichkeit“ des römischen Rechts? Das kann doch nur behaupten, wer römisches Recht und Corpus Juris Civilis (fälschlich) identifiziert; letzteres ist tatsächlich „das Recht eines alten, müden, zerbröckelnden Volkes“, aber wer verlangt denn die Übernahme materieller Regelungen? Es geht um Begriffe, Methoden und Denkformen! Die geistige Unabhängigkeit Bekkers von der Historischen Schule, die Selbständigkeit gegenüber deren Heros Archegetes Savigny ist bewundernswert: Es fehlt nicht an scharfer, berechtigter Kritik. Vorzüglich zur Charakterisierung der Schule wie seiner eigenen Position zu ihr ist Bekkers Abhandlung „Vier Pandektisten“ (Heidelberger Professoren aus dem 19. Jahrhundert, Bd. 1 [1903], 135f.). Was viel später als neue Entdeckung angeboten wurde, das „Kryptonaturrecht“ der Historischen Schule, wird schon von Bekker scharf herausgestellt. Aufspüren und Anprangern von Naturrecht oder was er darunter verstand, war eine Leidenschaft Bekkers. Hier wird eine Grenze des überzeugten Positivisten deutlich: Das Recht kann beliebig gesetzt werden, aber daß dieses „Belieben“ je die Schranken europäischer Sittlichkeit und Humanität sprengen könnte, gilt als so abwegig, daß es nicht ernsthaft in Erwägung gezogen wird.
Der Dreiundachtzigjährige veröffentlichte in voller geistiger Regsamkeit ein Buch, das man heute noch den Juristen zur Lektüre empfehlen kann: „Grundbegriffe des Rechts und Mißgriffe der Gesetzgebung“ (1910). Überlegen und klar, ohne drückenden Anmerkungsapparat, weithin gelöst von Paragraphen und Tageskontroversen plaudert, so möchte man sagen, ein großer Jurist über sein Fach. Die Fülle und Frische der Gedanken ist erstaunlich. Mit Bekker hat die Pandektistik des 19. Jahrhunderts ein stilvolles Ende gefunden.
Werke: (Schriftenverzeichnis fehlt, in Auswahl): Autobiographie, in Ruperto-Carola, Festchronik der Universität Heidelberg 1886; System und Sprache eines BGB für das Deutsche Reich 1888; Vier Pandekisten, in: Heidelberger Professoren aus dem 19. Jahrhundert, Bd. 1 (1903), 135 f.
Nachweis: Bildnachweise: Ruperto-Carola 1886, 166; Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, romanische Abt. Bd. 37 (1916) vor dem Titel; Ruperto-Carola, Mitteilungen der Vereinigung der Freunde der Studentenschaft der Universität Heidelberg, Bd. 9/10 (1953), 39; weitere Bilder im „Bildarchiv zur Geschichte der Universität Heidelberg“

Literatur: Ernst Immanuel Bekker, Nachruf von O. Gradenwitz, in: Savigny-Z römische Abteilung Bd. 37 (1916), VII-XXXII; Ernst Immanuel Bekker, Nachruf von F. Endemann, in: Deutsche Juristen-Zeitung 1916, Sp. 780 f.; Stintzing-Landsberg, Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft Abt. III 1, 847 f., III 2, 354 f. (1910); G. Anschütz, Aus der Juristischen Fakultät nach der Jahrhundertwende, in: Ruperto-Carola, Mitteilungen der Vereinigung der Freunde der Studentenschaft der Universität Heidelberg, Bd. 21 (1957), 35 ff., 40 f.
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