Bonhoeffer, Karl 

Geburtsdatum/-ort: 31.03.1868;  Neresheim
Sterbedatum/-ort: 04.12.1948; Berlin
Beruf/Funktion:
  • Geheimer Medizinalrat, zuletzt Prof. für Psychiatrie und Neurologie an der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin, Direktor der Klinik für psychische und Nervenkrankheiten an der Charité
Kurzbiografie: 1874-1878 Schule in Heilbronn und Ravensburg
1878-1886 Gymnasium in Tübingen mit Abitur
1886/87 Militärdienst in Stuttgart
1887-1892 Studium der Medizin in Tübingen, Berlin, München
1892 Promotion und Approbation in Tübingen, Doktorvater Paul Grützner. Vertretung in Heidenheim, Abschluß des Militärdienstes in Stuttgart (Sanitätsoffizier)
1893-1897 Assistent bei Carl Wernicke, Direktor der Psychiatrischen Klinik in Breslau
1897 Habilitation, Privatdozent und dirigierender Arzt der Beobachtungsstelle für geisteskranke Gefangene in Breslau; Heirat mit Paula von Hase, Tochter des Theologieprofessors Karl Alfred von Hase und Clara, geb. Gräfin von Kalckreuth
1899 Berufung nach Königsberg
1900 Berufung nach Heidelberg
1904-1912 Prof. und Direktor der Psychiatrischen und Nervenklinik in Breslau
1912-1948 Prof. und Direktor der Psychiatrischen und Nervenklinik an der Charité in Berlin (1938 emeritiert)
1945-1948 Beratende Tätigkeiten an der Klinik Wittenau und der Kuranstalt Westend (beides Berlin); Teilreaktivierung der Professur
Weitere Angaben zur Person: Religion: ev.
Auszeichnungen: Bonhoeffer erhielt viele Ehrungen und Auszeichnungen, u. a. die Goethe-Medaille (1943). Zeitweise war er Mitglied des preußischen Landesgesundheits-, und des Reichsgesundheitsrats, des wissenschaftlichen Senats bei der Kaiser-Wilhelm-Akademie für das militärärztliche Bildungswesen, Vorsitzender des Deutschen Vereins für Psychiatrie und der Berliner Gesellschaft für Neurologie und Psychiatrie. Ehrenmitgliedschaften: Gesellschaft der Ärzte in Wien; Wiener Verein für Psychiatrie und Neurologie; Schweizerische Gesellschaft für Psychiatrie; Rumänische Gesellschaft für Psychiatrie; Royal Society of Medicine (London); Interstate Postgraduate Medical Association of North America; Gesellschaft deutscher Neurologen und Psychiater; Berliner Gesellschaft für Neurologie und Psychiatrie; American Psychiatric Association.
Verheiratet: 1898 Paula, geb. von Hase (geb. 30.12.1876, gest. 1.2.1951)
Eltern: Vater: Friedrich von Bonhoeffer (1828-1907), zuletzt königlich-württembergischer Landgerichtspräsident in Ulm
Mutter: Julie, geb. Tafel (1842-1936)
Geschwister: Gustav-Otto (1864-1932), Chemiker bei Bayer-Leverkusen
Kinder: Karl-Friedrich
Walter
Klaus
Ursula, verheiratete Schleicher
Christine, verheiratete von Dohnanyi
Dietrich
Sabine, verheiratete Leibholz-Bonhoeffer
Susanne, verheiratete Dreß
GND-ID: GND/118661442

Biografie: Uwe Gerrens (Autor)
Aus: Württembergische Biographien 1 (2006), 26-29

In den Lebenserinnerungen, die Bonhoeffer ab 1943 verfasst hat, nehmen die ersten Lebensjahre, die Herkunft aus dem Schwäbischen, Vorfahren, Eltern und Kindheit, einen breiten Raum ein. In der Literatur über Bonhoeffer finden begreiflicher Weise vor allem die letzten Lebensjahre im Nationalsozialismus Beachtung. Dennoch: Den bloßen Daten nach liegt die Hälfte seiner Lebenszeit vor dem Ersten Weltkrieg und der Höhepunkt seines beruflichen Wirkens in der Weimarer Republik, während er den überwiegenden Teil des Nationalsozialismus im Ruhestand verbrachte. 194 Veröffentlichungen (ohne Rezensionen) aus der Breite der Psychiatrie und Neurologie haben Einzelphänomene zum Thema. Ein zusammenfassendes Lehrbuch ist nicht dabei; Karl Jaspers urteilte, Bonhoeffers Werk sei ein „Hauch von Bescheidung vor den ungeheuren Rätseln“.
Familie Bonhoeffer war seit 1513 in Schwäbisch Hall ansässig, hatte dort Bürgerrechte inne und stellte viele Ratsherren und Bürgermeister. Bonhoeffer beschreibt seinen Vater als „konservativ, aber jeglichem württembergischen Lokalpatriotismus abhold“, ihn habe an der schwäbischen Demokratie deren laxe oder ablehnende Stellungnahme zur Kirche abgestoßen. Seine Mutter hingegen sei eine von 1848 beeindruckte Demokratin gewesen, die 1880 begann, „in der damals lebhaft erörterten Frauenfrage sich praktisch zu betätigen“. Durch den Besuch von Schule und Gymnasium in Heilbronn, Ravensburg und Tübingen erhielt Bonhoeffer eine ausgezeichnete humanistische Ausbildung, jedoch unzureichende neusprachliche Kenntnisse. Nach dem einjährigen Militärdienst, von ihm als stupide und voller Schikanen geschildert, studierte er Medizin in Tübingen, Berlin und München und schloss er mit einer schon im fünften Semester verfassten physiologischen Dissertation ab. Der Wechsel in die Psychiatrie ergab sich eher zufällig, als Bonhoeffer über seinen Doktorvater Grützner eine Assistentenstelle bei Carl Wernicke in Breslau vermittelt wurde. Hier lernte Bonhoeffer ein Modell der Entstehung von Geisteskrankheiten kennen, das man heute multifaktoriell bezeichnen würde. Wernicke und später auch Bonhoeffer rechneten damit, dass bei der Krankheitsentstehung mehrere Ursachen zusammenkämen, sowohl organisch-erbliche als auch psychische und soziale. Nach vier Jahren habilitierte Bonhoeffer mit einer Untersuchung der verschiedenen Geisteszustände bei Alkoholdelirium; nahezu gleichzeitig verfasste er einen beinahe wichtigeren neurologischen Aufsatz, mit dem er auf wenigen Seiten erfolgreich die herrschende Lokalisationslehre bei choreatischen Störungen in Frage stellte. Bonhoeffer übernahm die Leitung einer Beobachtungsstelle für geisteskranke Gefangene in Breslau. In mehreren Studien über straffällig gewordene Bettler, Vagabunden und Prostituierte beobachtete er, dass ein großer Teil der Gefängnisinsassen psychisch oder organisch krank seien, aber im Gefängnis „zur Bösartigkeit gewissermaßen erzogen“ würden und empfahl diese (im Sinne der soziologischen Strafrechtsschule von Liszts) aus dem Gefängnis zu entlassen und psychiatrischer Behandlung zuzuführen.
Nur sehr kurze Zeit hatte Bonhoeffer Lehrstühle in Königsberg und Heidelberg inne, bis er nach Breslau als Nachfolger des inzwischen verstorbenen Wernicke zurückkehrte. Die Zwangsjacke schaffte er in den von ihm geleiteten Kliniken ab. Auch in späteren Jahren begegnete Bonhoeffer als Arzt rigorosen therapeutischen Methoden wie der Insulin-Schock-Therapie, der Elektrokrampftherapie und der Lobotomie mit Skepsis. In die zweite Breslauer Zeit fallen Arbeiten zu den von Bonhoeffer so genannten symptomatischen Psychosen, mit denen Bonhoeffer bekannt wurde und bis heute anerkannte Krankheitsklassifikationen beschrieb. Nach acht Jahren nahm Bonhoeffer einen Ruf an die Charité auf den wohl angesehensten deutschen Lehrstuhl an, den er von 1912 bis 1938 über sechsundzwanzig Jahre, länger als irgend jemand vor oder nach ihm, inne hatte. Eine ihm 1928 nahegelegte Kandidatur um das Universitätsrektorat lehnte Bonhoeffer ab, um sich auf Klinik und Forschung konzentrieren zu können.
Der Ehe mit Paula v. Hase waren acht Kinder entsprungen, die in schneller Abfolge zwischen 1899 und 1909 geboren wurden. Ihrer Herkunft nach hatte die Ehefrau als Tochter eines Theologieprofessors und zeitweiligen preußischen Oberhofpredigers ein (im Verhältnis zum Liberalen Bonhoeffer) stärker konservatives Element in die Familie eingebracht, freilich glichen sich die Eheleute im Lauf der Ehe einander an, und insgesamt überwog bei beiden liberales Gedankengut. Zu Beginn des Ersten Weltkrieges unterzeichnete Bonhoeffer mit nahezu sämtlichen deutschen Professoren einen Kriegsaufruf, 1917 trat er gegen den uneingeschränkten U-Boot-Krieg ein. Während die Oberste Heeresleitung empfahl, „Kriegszitterer“ und „Psychopathen“ mit der sogenannten „Kauffmannschen Methode“ durch Stromstöße wieder frontfähig zu machen, forderte Bonhoeffer, sie krank zu schreiben und nicht erneut an die Front zu schicken – bis die Kriegszensur ihm weitere diesbezügliche Veröffentlichungen verbot.
Abgesehen von einer kleinen, satzungsbedingten Unterbrechung hatte Bonhoeffer die ganze Weimarer Republik über den Vorsitz des Deutschen Vereins für Psychiatrie inne. In dieser Eigenschaft brachte Bonhoeffer 1924 ein preußisches Gesetzesvorhaben zur „Irrenfürsorge“ zu Fall, welches für Geisteskranke das Recht freier Arzt- und Therapiewahl eingeschränkt hätte. Vergeblich blieben dagegen Einsprüche gegen Finanzkürzungen Anfang der dreißiger Jahre. Die „Gleichschaltung“ durch die Nationalsozialisten versuchte er mittels Verzögerungstaktik zu verhindern bis er im September 1934 vom Reichsinnenministerium zum Rücktritt gezwungen wurde. Im Reichstagsbrandprozess (1933) wurde Bonhoeffer als psychiatrischer Gutachter des mutmaßlichen Brandstifters von der Lubbe herangezogen. Bonhoeffer hat Lubbe mehrmals untersucht, ihn für geistig zurechnungsfähig gefunden, mit ihm über Tat und Motiv gesprochen, aber Beweise für eine nationalsozialistische Brandstiftung nicht finden können.
Bonhoeffer hatte eine große Zahl von SchülerInnen ausgebildet und damit eine ganze Generation von PsychiaterInnen und NeurologInnen geprägt. Viele von Ihnen, schätzungsweise ein Drittel, wurden nach 1933 aus rassischen oder politischen Gründen zur Emigration gezwungen. Bonhoeffer hat sich (meist vergeblich) für sie eingesetzt; einundzwanzig in die USA geflohene Schüler und Kollegen überreichten ihm 1948 eine reine Emigranten-Festschrift. Die bei Karger erschienene Monatsschrift für Neurologie und Psychiatrie (mit Beiheften) gab Bonhoeffer heraus, bis ihm 1939 die Zusammenarbeit mit dem in die Schweiz geflohenen jüdischen Verleger untersagt wurde.
Von der Zwangssterilisation psychisch Kranker und geistig Behinderter hatte Bonhoeffer 1923 in einem Gutachten für den Preußischen Landesgesundheitsrat mit dem Argument abgeraten, dass der Nachweis für die Notwendigkeit eines derart schweren Eingriffes in die Persönlichkeitsrechte nicht erbracht sei. Nach der Verabschiedung des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ durch die Nationalsozialisten beschränkte er sich in Veröffentlichungen und „Erbgesundheitskursen“ darauf, das Gesetz abzumildern, indem er eine alternative Diagnostik aufzeigte. Das Reichsinnenministerium warnte vor einer Beeinträchtigung des Sterilisationsverfahrens durch Anwendung dieser Kriterien und verbot Bonhoeffer die weitere Durchführung von Erbgesundheitskursen. Auch als Gutachter versuchte Bonhoeffer mäßigend zu wirken; dennoch hat auch er die Durchführung der Zwangssterilisation in zahlreichen Fällen befürwortet. Während der „Euthanasie“-Aktion unterstützte Bonhoeffer Kollegen in ihrem Protest, förderte als Herausgeber eine kritische Veröffentlichung zum Thema, und versuchte vergeblich, seinen Nachfolger von einer Beteiligung an der „Euthanasie“-Aktion abzuhalten.
Bonhoeffer wusste seit Herbst 1938 von den Planungen zum Sturz Hitlers. Da einige Verschwörer in bezug auf einen direkten Mord an Hitler noch Bedenken trugen, erklärte er seine Bereitschaft, diesen im Umsturzfalle durch ein Psychiatergremium für unzurechnungsfähig erklären zu lassen. Nach den Maßstäben des NS-Regimes hatte er sich damit des Hoch- und Landesverrates schuldig gemacht. Freilich ist er selbst nach außen hin nicht aktiv geworden. Seine Söhne Dietrich und Klaus Bonhoeffer, sowie die Schwiegersöhne Hans von Dohnanyi und Rüdiger Schleicher waren aktiv an den Umsturzbemühungen beteiligt und wurden im Zusammenhang mit dem Attentatsversuch vom 20. Juli 1944 nach längerer Haft 1945 ermordet.
Im Alter von 78 Jahren ließ Bonhoeffer seine Professur an der Humboldt-Universität teilreaktivieren, um den Lebensunterhalt für die verwitweten Töchter bestreiten zu können, und übernahm beratende Tätigkeiten in Berlin-Wittenau sowie im Westend. Die Ehrenmitgliedschaft in der „American Psychiatric Association“ (1948) und eine materielle Unterstützung durch die „Royal Medical Society“, London, zeugten von fortdauernder internationaler Wertschätzung. Die Gesellschaft für Psychiatrie und Neurologie der DDR vergab für besondere Verdienste eine Bonhoeffer-Medaille und einen Bonhoeffer-Preis; eine Klinik in Berlin-Wittenau ist nach ihm benannt. Sein Berliner Wohnhaus ist als Bonhoeffer-Haus heute Begegnungs- und Erinnerungsstätte.
Quellen: Dienstlicher NL und PA im UA der Humboldt-Univ. Berlin; privater Briefwechsel zerstreut, u. a. im NL Dietrich Bonhoeffer im BA.
Werke: Über einige Physiologische Eigenschaften dünn- und dickfaseriger Muskeln bei Amphibien, in: Pflügers Archiv für die gesamte Physiologie 47 (1890), 125-146 (Promotionsschrift); Seitenstrangerscheinungen bei acuten Psychosen, 1896; Ein Beitrag zur Localisation der choreatischen Bewegungen, in: Monatsschrift für Neurologie und Psychiatrie 1 (1897), 6-41; Der Geisteszustand des Alkoholdeliranten (Habilitationsschrift 1897); Die akuten Geisteskrankheiten der Gewohnheitstrinker, 1901; Klinische Beiträge zur Lehre von den Degenerationserkrankungen, 1906; Die symptomatischen Psychosen im Gefolge von akuten Infektionen und inneren Erkrankungen, 1910; Die akuten und chronischen choreatischen Erkrankungen und die Myoklonien, 1936; Nervenärztliche Erfahrungen und Eindrücke, 1941.
Nachweis: Bildnachweise: (vgl. Lit.).

Literatur: FS zum 60. Geburtstag, Monatsschrift für Neurologie und Psychiatrie 68 (1928), (mit Bild); zum 70. Geburtstag, ebda. 99 (1937), (mit Bild); zum 80. Geburtstag, ebda. 117, (1949); E. R. Dunn John, Bonhoeffer und die exogenen psychischen Reaktionstypen, Diss. med. Zürich 1966; Hanns Schwarz, Die Bedeutung K. Bonhoeffers für die Psychiatrie der Gegenwart, in: Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie 19 (1967), 81-88; Jürg Zutt/Erwin Strauß/Heinrich Scheller, K. Bonhoeffer zum 100. Geburtstag 1968 (darin Lebenserinnerungen und sehr unvollständiges Literaturverzeichnis); Totgeschwiegen 1933-1945. Zur Geschichte der Wittenauer Heilstätten, seit 1957 K.-Bonhoeffer-Nervenklinik, hg. von der Arbeitsgruppe zur Erforschung der Geschichte der Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik, 2. Aufl. 1989 mit Diskussionsteil; Klaus-Jürgen Neumärker, K. Bonhoeffer, 1990 (mit Bildern); ders., Der Exodus von 1933 und die Berliner Neurologie und Psychiatrie, in: Charité-Annalen N.F. 8 (1988, 1989), 224-229; Uwe Gerrens, Zum Bonhoeffer-Gutachten im Reichstagsbrandprozess, in: Berlin in Geschichte und Gegenwart 1992, 45-116; ders., Medizinisches Ethos und Theologische Ethik. K. und Dietrich Bonhoeffer in der Auseinandersetzung um Zwangssterilisation und „Euthanasie“ im Nationalsozialismus, 1996; Bernhard Meyer, 26 Jahre auf dem Psychiatrie-Lehrstuhl. Der Arzt K. Bonhoeffer (1968-1948), in: Berlinische Monatsschrift 9 (2000), 124-132; Klaus-Jürgen Neumärker, K. Bonhoeffer and the concept of Symptomatic Pychoses, in: History of Psychiatry 12 (2001), 213-226; Uwe Gerrens, Psychiater unter der NS-Diktatur – K. Bonhoeffers Einsatz für rassisch und politisch verfolgte Kolleginnen und Kollegen, in: Fortschritte der Neurologie – Psychiatrie 69 (2001), 330-339; unveröffentlichte, bis 1936 vollständige Bibliographie im UA der Humboldt-Univ. Berlin, NL K. Bonhoeffer, Bd. 1; nahezu vollständig: unveröffentlichte Biographie in der Sammlung Kreuther, Archiv des Max-Planck-Instituts für Psychiatrie, München.
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