Reinacher, Eduard 

Andere Namensformen:
  • Alsaticus, Ludwig Gärtner
Geburtsdatum/-ort: 05.04.1892; Straßburg/Elsaß
Sterbedatum/-ort: 16.12.1968;  Stuttgart/Bad Cannstatt
Beruf/Funktion:
  • Schriftsteller
Kurzbiografie: 1898-1911 Volksschule und Lyzeum in Straßburg
1907 Erstes datiertes Gedicht
1911-1914 Studium der Philologie an der Universität Straßburg
1913 Erste Gedichtveröffentlichungen
1914-1915 Militärdienst als Sanitäter, 1916 krankheitshalber entlassen
1916-1918 Journalist bei Straßburger Zeitungen
ab 1916 verschiedene Veröffentlichungen, u. a. in der „Deutschen Rundschau“
1919 Übersiedlung nach Stuttgart; freier Schriftsteller und Verlagsmitarbeiter im Verlag Oskar Wöhrle
1920 Wohnmöglichkeit bei Wilhelm Schäfer am Bodensee
1921 Unterkommen in Stuttgart
1924-1929 Umzug nach Köln; Dramen für die Bühne; Theateraufführungen
1929 Übersiedlung nach Aichelberg bei Esslingen; Kleistpreis für das Drama „Der Bauernzorn“
1931 Ehrenhonorar der Reichsrundfunk-Gesellschaft für das Hörspiel „Der Narr mit der Hacke“
1932 Berufung als Hörspiel-Dramaturg an den Westdeutschen Rundfunk durch Ernst Hardt; schon 1933 wieder entlassen
1933 Rückkehr nach Aichelberg
1938 Verleihung des Johann-Peter-Hebel-Preises
1941 Rückkehr nach Straßburg
1944 Übersiedlung an den Bodensee zu Wilhelm Schäfer
1951 Rückkehr nach Aichelberg bei Esslingen; Leben in einer Hütte
1961 Umzug in ein Altersheim nach Stuttgart-Bad Cannstatt
1962 Verleihung des Erwin-von-Steinbach-Preises
Weitere Angaben zur Person: Religion: evangelisch
Verheiratet: 1923 Dorkas, geb. Härlin, Keramikerin
Eltern: Wilhelm Reinacher, städtischer Bauführer
Salome, geb. Lorch
Geschwister: Margrit, Anna, Wilhelm, Karl, Minna, Marie
Kinder: kinderlos
GND-ID: GND/118744143

Biografie: Norbert Heukäufer (Autor)
Aus: Baden-Württembergische Biographien 2 (1999), 364-366

Als Reinacher im Jahr 1929 auf Antrag von Wilhelm von Scholz den renommierten „Kleist-Preis“ erhielt (zusammen mit dem Ostpreußen A. Brust), stellte ein Kritiker fest, daß der Preis an die „Stillen im Lande“ verliehen worden sei. Obwohl Reinacher zwei Jahre zuvor insgesamt sechs Uraufführungen an verschiedenen Theatern erleben konnte und obwohl die Deutsche Verlagsanstalt Stuttgart schon eine Vielzahl von Gedichten, Erzählungen und dramatischen Arbeiten herausgebracht hatte, war Reinacher immer noch für eine breite Öffentlichkeit ein Unbekannter. Daß Reinacher schon damals ein „abseitiges“ Dichterleben führte und daß er heute fast völlig in Vergessenheit geraten ist, hat mehrere Gründe: seine Herkunft, die Unmöglichkeit, ihn in eine literaturgeschichtliche Richtung einzuordnen, die Thematik seiner Dichtungen und nicht zuletzt die schwer zugängliche Sprache selbst, die Wilhelm Schäfer („der Mäzen unter meinen Mäzenen“) schon früh mit der Luthers verglichen hat.
Geboren und aufgewachsen im damals deutschen Straßburg, entschied sich Reinacher im Jahr 1919 bewußt für eine Übersiedlung nach Deutschland, da er sein dichterisches Werk weiterhin in deutscher Sprache schreiben wollte und im Verlag von Oskar Wöhrle, dem Freund aus Straßburg, zunächst in Stuttgart, dann in Konstanz unterkommen konnte. Heimatlos und fast immer mittellos mußte er sich einen neuen Lebenskreis erarbeiten, was ihm ab 1920 in Stuttgart mit Hilfe des Malers Reinhold Nägele gelang, der ihn in einen Künstlerkreis einführte, bei dem er nicht nur namhafte Musiker und Maler, mit denen er teilweise lebenslang befreundet war (z. B. O. Schlemmer, F. Frank, P. Hindemith), kennenlernte, sondern auch seine spätere Frau, die Keramikerin Dorkas Härlin. Zudem bekam er auch Verbindungen zur DVA, die in den nächsten Jahren seine Werke verlegte.
Die Thematik seines Hauptwerkes, das Reinacher zeitlebens in der Lyrik sah, beschäftigt sich in erster Linie mit dem Tod. Dies nicht zuletzt deshalb, weil er schon früh unter epileptischen Anfällen litt und die Erfahrung dieser ihn lebenslang bedrängenden Krankheit, die Reinacher in seinen Erinnerungen „Am Abgrund hin“ (postum 1972) beschreibt als „das Ich erkannte sich als Nicht-Ich“, in seinen Werken verarbeitete. Hinzu kam eine prägende Begegnung mit den Totentanz-Holzschnitten von H. Holbein d. J., die er als junger Student in Basel gesehen hatte. Diese Eindrücke waren so tief, daß unvermittelt eine Reihe von 10 Totentanz-Gedichten „hervorbrachen“, wie Reinacher selbst schrieb: Der gerade Zwanzigjährige hatte sein zentrales, ihn lebenslang beschäftigendes Motiv gefunden. 1924 wurde Dorkas Reinacher an die Werkkunstschule Köln berufen – und dieser Ortswechsel brachte Reinacher auch den Zugang zum Theater, vor allem durch die Bekanntschaft mit dem Regisseur Dr. W. Kordt. Da der Vertrag von Dorkas Reinacher 1929 auslief und Reinacher das Klima in Köln nicht vertrug, kehrte das Ehepaar wieder nach Aichelberg im Schurwald zurück, wo sich Reinacher verstärkt um Arbeiten für den Rundfunk kümmerte, hatte er doch erkannt, welche Möglichkeiten dieses neue Medium für ihn als Dichter bot. Deshalb hatte er auch mit seinem Hörspiel „Der Narr mit der Hacke“, 1930 in einer Inszenierung durch den Intendanten des WDR Köln erstmalig gesendet, den anhaltendsten Erfolg. Hier verband er dichterische und lyrische Elemente so zwingend, daß man schon damals erkannte, daß Reinacher „der Idee des Hörspiels näher gekommen war als irgendein anderer bis dahin“. Die im Rundfunk gegebene Möglichkeit, die Stimme des Gewissens eines schuldig gewordenen Mönches als körperlose, im Kontrast mit der realen Welt stehende zweite Ebene einsetzen zu können, wird zwingend mit dem unablässig ertönenden Geräusch der Hacke verbunden, die auf der einen Seite das reale Arbeiten (dem Schlagen eines Tunnels durch einen Granitberg) verdeutlicht, auf der anderen Seite auch das Abtragen des Berges der Schuld symbolisiert. Deshalb gilt Reinachers Hörspiel noch heute als eines der ersten poetischen Hörspiele; es wurde seit dieser Zeit immer wieder im In- und Ausland gesendet. Andere Hörspiele folgten, und wohl auf dieses Hörspielschaffen hin ist 1932 die Berufung Reinachers als Hörspieldramaturg an den WDR zurückzuführen; allerdings wurde Reinacher aus dieser Position, der einzigen Zeit einer finanziellen Sicherheit in seinem Leben, schon im Sommer 1933 durch den neueingesetzten, auf der Linie der Partei arbeitenden Intendanten entlassen.
Mit der Verleihung des „Johann-Peter-Hebel-Preises“ im Jahr 1938 wurde Reinacher noch einmal geehrt: Der alemannische Preis mußte, nachdem er zunächst einem Deutschen und dann einem Schweizer zuerkannt worden war, nun einem Elsässer verliehen werden. Obwohl dieser Preis in dieser Zeit eindeutig einen politischen Hintergrund hatte, sah sich Reinacher immer nur als Dichter und „Musikant des Wortes“, der keine politischen oder tagesaktuellen Themen in sein Werk aufnahm und diese Weigerung in einem Gedicht auch einmal begründete. Daß Reinacher sich dem nationalsozialistischen Regime nicht angedient hatte, bezeugten drei Nobelpreisträger (Th. Mann, H. Hesse und A. Schweitzer) kurz nach Kriegsende.
1944 mußte Reinacher zum zweitenmal aus Straßburg, wohin er 1941, die „Befreiung“ begrüßend, zurückgekehrt war, fliehen; wieder nahm ihn Wilhelm Schäfer in seinem Gärtner-Häuschen am Bodensee auf. Als es für Reinacher möglich war, seine Arbeiten für den Funk (vor allem den Südfunk Stuttgart) wieder aufzunehmen, nahm er dankbar das Angebot des Käufers seines Aichelberger Hauses auf, eine Wohnhütte von 4 x 6 m auf dem Grundstück aufstellen zu können, um näher am Stuttgarter Sender zu wohnen.
1951 zog der fast 60jährige mit seiner um 7 Jahre älteren Frau in diese Hütte in die Nähe Stuttgarts um. Der Kampf um den Lebensunterhalt wurde immer stärker: Sowohl mit seinen Themen als auch mit seiner Sprache paßte Reinacher nicht in die Richtung, die das literarische Nachkriegsdeutschland eingeschlagen hatte. Kein Verlag wollte seine Arbeiten herausbringen, an Neuauflagen alter Werke war nicht zu denken; Reinacher behalf sich in seiner künstlerischen Arbeit mit privaten Reproduktionen, die er dann meist an Freunde verschenkte, für den kargen Lebensunterhalt sorgten Tagesarbeiten für den Rundfunk. Neben der Verleihung des Erwin-von-Steinbach-Preises (1962) war Reinacher 1959 noch einmal kurz in die Öffentlichkeit gerückt: Auf der Freitreppe in Schwäbisch Hall wurde seine Fassung der „Agnes Bernauer“ aufgeführt.
Reinacher starb Ende 1968 in einem Altersheim in Stuttgart-Bad Cannstatt, einige Tage später seine Frau Dorkas. In einer Würdigung zum 70. Geburtstag ist ihm von einem Landsmann bestätigt worden, daß er in seiner Dichtung sein Ziel erreicht habe, vom Elsässertum zum reinen großen Menschentum gefunden zu haben. Das Werk, das es wieder zu entdecken gilt, zeugt davon.
Quellen: Nachlaß im Reinacher-Archiv, begründet von Reinachers Großneffen Dr. Gerhard Reinacher, zur Zeit in Hanau, künftig in Bad Homburg; weitere Nachlaßteile (Briefe) im DLA Marbach
Werke: Gerhard Reinacher, Eduard Reinacher – Eine Bibliographie seiner Werke (vgl. Literatur); Bibliographie der Erstausgaben (69 Nrn.) in: Wilpert/Gühring, Erstausgabe deutscher Dichtung 2 Aufl. 1992. – Auswahl: Der Tod von Grallenfels, 1918; Die Hochzeit des Todes, Erzählungen und Verse, 1921; Der Bauernzorn. Dramatische Dichtungen, 1922; Elsässer Idyllen und Elegien, 1925; Harschhorn und Flöte, 1926; Bohème in Kustenz. Komischer Roman, 1929; Silberspäne. Gedichte, 1931; Agnes Bernauer, Dramatische Legende, 1962; Der starke Beilstein, 1938; Am Abgrund hin. Fragmente der Lebenserinnerungen, 1972
Nachweis: Bildnachweise: Ölporträts: von Herbert Graß (1940): im Oberrheinischen Dichter-Museum, Karlsruhe; von Reinhold Nägele (1922) in Staatsgalerie Stuttgart; von Hans Jacoby im Reinacher-Archiv, zur Zeit in Bad Homburg; Fotos in Literatur bei M. Bosch und G. Reinacher

Literatur: Franz Lennartz, Deutsche Dichter und Schriftsteller unserer Zeit, 1963, Bd. 151, 563-566; Die Verleihung des Erwin-von-Steinbach-Preises an Eduard Reinacher, 1963; Franz Büchler, Eduard Reinacher als Autor der Elsässischen Idyllen und Elegien, in: Studien der Erwin-von-Steinbach-Stiftung, Bd. 1 (1971), 263-272; Gerhard Reinacher (Hg.), Eduard Reinacher – Eine Bibliographie seiner Werke, 1984; ders., Geboren unter dem Straßburger Münster, Eduard Reinacher (1892-1968): Leben und Werk, in: Studien der Erwin-von-Steinbach-Stiftung, Bd. 5 (1984), 89-116; Manfred Bosch, Der Johann-Peter-Hebel-Preis 1936-1988 – Eine Dokumentation (1988), 19-27; Norbert Heukäufer, Eduard Reinacher, in: Walter Killy (Hg.), Literaturlexikon – Autoren und Werke deutscher Sprache, Bd. 9 (1991), 354 f.; ders., Eduard Reinacher, Bibliographie der Erstausgaben, in: Wilpert/Gühring, Erstausgaben deutscher Dichtung, 1992, 1228-1231; Manfred Bosch, „... und nagelt keinen Deckel auf die Kiste über mir.“ – Eine Erinnerung an Eduard Reinacher, in: Schwäbische Heimat 43. Jg. (1992), H. 1, 46-50; „Fang auf, Europa, Silberspäne fliegen“, Eduard Reinacher (1892-1968). Ein Leben im Spiegel von Werk und Freundschaften. Ein Porträt von Manfred Bosch und Norbert Heukäufer, 1995, 40 S.; Manfred Bosch, Bohème am Bodensee, 1997, darin: ... Eduard Reinacher ..., 428-432
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