Moericke, Otto 

Geburtsdatum/-ort: 04.12.1880;  Schwäbisch Gmünd
Sterbedatum/-ort: 20.06.1965; Osnabrück
Beruf/Funktion:
  • Oberbürgermeister, Landrat, Vizepräsident des badischen Landesrechnungshofes
Kurzbiografie: 1898 Abitur, dann „Einjährig-Freiwilliger“ in Karlsruhe
1899–1903 Studium d. Rechtswissenschaften in Berlin, München u. Freiburg
1903–1908 I. jur. Staatsexamen, anschließend bis 1907 Vorbereitungsdienst auf das II. jur. Staatsexamen beim Bezirksamt Freiburg u. am Oberlandesgericht Karlsruhe
1905 Promotion bei Gerhard von Schulze-Gaevernitz (1864–1943): „Die Agrarpolitik des Markgrafen Karl Friedrich von Baden“
1907–1914 Stadtrechtsrat in Mannheim
1907/1910 Freiwilliger bei d. Berufs- u. Betriebszählung in Karlsruhe sowie d. Volkszählung in Mannheim
1909 Initiator und Gründungsvorsitzender d. Gartenstadt-Genossenschaft Mannheim
1914–1917 Teilnahme am I. Weltkrieg; mehrfache Verwundung bzw. Gasvergiftung
1917–1919 Bürgermeister von Speyer
1919–1933 Oberbürgermeister von Konstanz
1919/21–1932 Vizepräsident des Verwaltungsrates d. Mittelthurgaubahn
1945 Landrat von Lörrach
1948–1952 Vizepräsident des bad. Landesrechnungshofes
Weitere Angaben zur Person: Religion: ev.
Auszeichnungen: Ehrungen: EK I u. Orden vom Zähringer Löwen (1915); Bundesverdienstkreuz/Steckkreuz (1952)
Verheiratet: 1907 (Freiburg) Minna, geb. Döll (1880–1950)
Eltern: Vater: Otto (1850–1896), Major
Mutter: Louise, geb. Griesbach (1856–1945)
Geschwister: 3; Gertrud (geboren 1883), Dagobert (1885–1961) u. Hildegard (geboren/gestorben 1887)
Kinder: 6;
Hilda (geboren 1908),
Gerda (geboren 1909),
Johanna (geboren 1912),
Volker (geboren 1913),
Marianne (geboren 1917),
Ilse Ursula (geboren 1920)
GND-ID: GND/118809296

Biografie: Michael Kitzing (Autor)
Aus: Baden-Württembergische Biographien 5 (2013), 277-280

Moericke wurde als Sohn eines württembergischen Offiziers in Schwäbisch Gmünd geboren. Die Familie des Vaters stammte aus Ostpreußen und war am Beginn des 18. Jahrhunderts nach Württemberg eingewandert; über den Vater war Moericke mit dem Dichter Eduard Möricke (1804–1875) verwandt. Die Familie der Mutter stammte aus dem Elsass. Aus diesem Familienzweig waren ranghohe Mitarbeiter des Markgrafen Karl Friedrich (1728–1811), auch der erste Karlsruher Oberbürgermeister, hervorgegangen.
Seine Jugend verbrachte Moericke in Heilbronn, Ulm und Karlsruhe, wohin die Familie nach dem frühen Tod des Vaters gezogen war. Hier legte er 1898 sein Abitur ab, um nach einem Jahr bei der Feldartillerie in Karlsruhe, in Berlin, München und Freiburg Rechtswissenschaften zu studieren. Ursprünglich sollte Moericke nach den Vorstellungen seines Doktorvaters Gerhard von Schulze-Gaevernitz die Universitätslaufbahn einschlagen, doch war es das ausdrückliche Ziel Moerickes, in die Kommunalverwaltung zu gehen. Nach dem Vorbereitungsdienst und dem II. Staatsexamen arbeitete er zunächst als unbezahlter Mitarbeiter in der Stadtverwaltung Mannheim; nach einiger Zeit wurde er Stadtrechtsrat. Als Vorbild für Moericke diente in diesen Jahren ohne Zweifel der damalige Mannheimer Oberbürgermeister Otto Beck (1846–1908), als dessen Mitarbeiter er mit nahezu allen zentralen Angelegenheiten einer Kommunalverwaltung vertraut wurde.
Bereits in jungen Jahren hat sich Moericke sozial- und lebensreformerischen Strömungen zugewandt. Als Student engagierte er sich in einem Zirkel, in dem Fragen der Sozialpolitik diskutiert wurden und dem auch Anton Retzbach, Leo Wohleb und Wilhelm Engler angehörten. Während seiner Mannheimer Zeit hat sich Moericke dann besonders in der Wohnungsfrage engagiert. Den „Schäden gesundheitlicher, sittlicher und seelischer Art“ (Erinnerungen, S. 47), die aus dem rasanten Anwachsen der Städte um die Jahrhundertwende und damit verbunden aus Bodenspekulation und der Entstehung von Elendsquartieren resultierten, wollte er nach englischem Vorbild durch die Anlage von Gartenstädten entgegentreten. Nachdem er sich als „freiwilliger Zähler“ bei Volks- und Berufszählungen in Karlsruhe und Mannheim ein Bild über die dort herrschenden Verhältnisse gemacht hatte, rief er zusammen mit Hans Kampffmeyer und einem Mannheimer Industriellen die dortige Gartenstadt Genossenschaft 1909/1910 ins Leben. Als deren Vorsitzender konnte Moericke in den nächsten Jahren den Bau der Mannheimer Gartenstadt verwirklichen. Sie geriet zu einer regelrechten Sehenswürdigkeit, die auch beim Besuch des Großherzogs in Mannheim 1914 große Aufmerksamkeit fand. Zugleich erwarb Moericke den Ruf eines hervorragenden Fachmannes und gefragten Referenten zu Fragen der Wohnungsreform.
Im I. Weltkrieg kommandierte Moericke zunächst als Leutnant eine Landwehreinheit in der Etappe in Straßburg bzw. Kehl. Von hier ließ er sich Ende 1914 nach Flandern versetzen, wo er im darauf folgenden Jahr erstmals verwundet wurde; 1917 erlitt er bei Verdun eine Gasvergiftung. Hier erreichte Moericke die Nachricht seiner Wahl zum Bürgermeister von Speyer. In dieser Position musste Moericke die Stadt durch die Wirren beim Kriegsende und der anschließenden Revolution und Besatzung steuern, den Forderungen der französischen Besatzungsmacht nachkommen, die Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln sicherstellen und das Wirtschaftsleben in Gang bringen, freilich auch Wohnungsnot bekämpfen.
Moerickes nächste Station war Konstanz, wo er 1919 Oberbürgermeister wurde, nachdem der bisherige Amtsinhaber Hermann Dietrich badischer Außenminister geworden war. Für seine neue Aufgabe entwarf Moericke ein ambitioniertes Programm und strebte eine zeitgemäße Verwaltung und den Einsatz der damals modernsten Technik an: „ausgiebige Verwendung des Diktats und der Kurzschrift, neuzeitlicher Buchungs- und Rechenmaschinen, des mündlichen Verkehrs sowie des Fernsprechers, um Zeit und damit Geld zu sparen“ (Erinnerungen, S. 133). Zugleich verlangte er von allen städtischen Angestellten den Besuch von Unterrichtslehrgängen und regelmäßige Prüfungen, um das Publikum kompetent zu beraten. Ziel auch des Konstanzer Stadtoberhauptes Moericke musste es sein, die Folgen der Grenzlage der Stadt seit dem Ausscheiden der Eidgenossenschaft aus dem Reich im Spätmittelalter wo immer möglich zu mildern. Die Grenzziehung hatte das Hinterland abgeschnitten und viele Wachstumsmöglichkeiten beseitigt. Darum versuchte der Oberbürgermeister, die Stadt durch eine Reihe von Infrastrukturprojekten in das europäische Verkehrsnetz einzubinden – mit unterschiedlichem Erfolg. So gelang es nicht, den Personenbahnhof auf die nördliche rechtsrheinische Seite zu verlegen, genauso wie die Bemühungen um die Schiffbarmachung des Hochrheins erfolglos verliefen. Gerade hiervon hatte Moericke eine nachhaltige Stärkung des Wirtschaftsstandorts erwartet. Es gelang aber, Konstanz an das deutsche und europäische Flugnetz anzuschließen. Unter Moericke wurde der Flugplatz gebaut, eine Luftlinie zwischen Wien, Salzburg, Innsbruck und Zürich errichtet. Neben dem Flugplatz galt es Konstanz auch durch die Fähre zwischen Konstanz-Staad und Meersburg an das deutsche Hinterland im Linzgau anzubinden, hoffte doch Moericke, am nördlichen Bodenseeufer neue Kunden für Konstanzer Geschäfte zu erschließen.
Im Rechenschaftsbericht über seine kommunalpolitische Tätigkeit von 1928 machte Moericke deutlich, dass künftige Einnahmequellen für die Stadt Konstanz kaum noch aus gewerblichen Unternehmungen zu erwarten seien, die Stadt müsse vom Tourismus profitieren. Deshalb wollte er die Entwicklung der örtlichen Hotellerie fördern, deren Aussichten durch den Flugplatz noch besser geworden seien. Konstanz’ Fremdenverkehr sollte auch durch den Bau eines Strandbades in Horn, eines städtischen Kursaales und die Stärkung des öffentlichen Personennahverkehrs profitieren. Ein größerer städtischer Motorbootpark sollte bessere Ausflugsmöglichkeiten für Kurgäste ermöglichen.
Im Zusammenhang mit der Förderung des Tourismus als Wirtschaftsfaktor stehen auch Moerickes Anstrengungen für Kultur- und Landschaftsschutz: ein Naturschutzgebiet um die gesamte Stadt herum sei zu schaffen; die Bodenseeforschungsanstalt und die Vogelwarte im Wollmatinger Ried sollten gefördert werden. Auf kulturellem Gebiet ließ sich Moericke die Pflege des Stadtbildes angelegen sein. Der liberale OB wollte auch das Münster verschönern und sorgte dafür, dass die Stadt eine Figur des Hl. Konrad (um 900–975) stiftete. Zwischen 1920 und 1927 wurden 825 neue Wohnungen gebaut, die eine Hälfte durch die Stadt selbst, die andere wurde von der Stadt immerhin mit knapp 6 Mio. Reichsmark bezuschusst. Mit der Gründung der Konstanzer Jugendherberge gelang Moericke ein spektakulärer Erfolg. Der Gemeinderat hatte die dafür notwendigen Gelder zunächst nicht bewilligt. Dank dem persönlichen Engagement des Oberbürgermeisters gelang es aber, genügend Spenden für sein Lieblingsprojekt zu sammeln. Noch heute trägt die Konstanzer Jugendherberge den Namen „Otto-Moericke-Turm“.
Beachtliche Leistungen geschahen in der Ära Moericke während der 1920er-Jahren in der Sozialpolitik. Während seiner Amtszeit wurden ein Wöchnerinnenheim, ein Säuglingsheim und schließlich zwei Altersheime eingerichtet und das Krankenhaus ausgebaut. Die technischen Werke der Stadt, Wasserversorgung, Gas- und E-Werk wurden ausgebaut, wovon auch Umlandgemeinden in der benachbarten Schweiz profitierten. Damit schuf Moericke Grundlagen für die Stadtentwicklung bis in die 1950er-Jahre; denn die Stadt erlitt im II. Weltkrieg keine Zerstörung.
Wie Karlsruhe wurde Konstanz in den 1920er-Jahren von den Parteien der Weimarer Koalition regiert, wobei der liberale Oberbürgermeister zwei Stellvertreter hatte, Franz Knapp (1880–1973) vom Zentrum und den Sozialdemokraten Fritz Arnold (1883–1950). Freilich war die Zusammenarbeit des liberalen Moericke mit Vertretern dieser beiden Parteien durch eine gewisse Ambivalenz geprägt. Alle drei Richtungen standen hinter der Weimarer Verfassung, wie sie sich auch im Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold gemeinsam für das republikanische Staatswesen einsetzten. Moericke erwähnt im Rechenschaftsbericht von 1928 auch die von der Stadt veranstalteten Verfassungsfeiern, die auf eine erfreulich breite Resonanz bei der Bevölkerung getroffen seien. Der Oberbürgermeister beteiligte sich auch an den von Hugo Baur organisierten katholischen Friedenskongressen mit Grußworten. Gleichwohl war das Verhältnis zur Zentrumspartei, namentlich zu den Stadträten Baur und Conrad Gröber, häufig gespannt. Bei Themen wie Stellenbesetzung in der örtlichen Schulverwaltung, beim Spielplan und Zuschuss für Theater, auch Kinos, und schließlich wegen des Baus des städtischen Krematoriums kam es zu Konflikten. Widerstand der katholischen Stadträte schien dann geradezu vorprogrammiert, wenn fortschreitende Säkularisierung von Werten und Weltanschauung sich abzeichnete.
Ein sehr großes Problem Moerickes bildete die wachsende Verschuldung der Stadt. So beklagte er, dass die Stadt im Rahmen der geltenden Finanzausgleichsgesetze nicht angemessen unterstützt werde, während ihr immer mehr Lasten zugemutet würden. So verwundert es dann auch nicht, dass die Errungenschaften der 1920er-Jahre wie in Köln unter OB Konrad Adenauer (1876–1967) auch im Konstanz Moerickes über Schulden finanziert waren. Das bot dann den Nationalsozialisten willkommene Angriffspunkte.
Mit der NS-„Machtergreifung“ im März 1933 wurde Moericke als „freiheitlich-demokratisch gesinnter Oberbürgermeister“ (Südkurier, 23.6.1965) aus dem Amt gedrängt. Gewaltsames NS-Vorgehen wurde im Falle Moericke durch den gängigen Vorwurf kaschiert, der Oberbürgermeister habe sich im Amt persönlich bereichert, was bald in sich zusammenbrach.
Moericke übersiedelte nach Freiburg, wo er an der Evangelischen Sozialen Frauenschule rechts- und sozialwissenschaftliche Fächer unterrichtete. Nach Kriegsbeginn war er in den Landratsämtern in Freiburg und Lörrach tätig. Das mag verständlich machen, weshalb Moericke 1945 von der französischen Besatzungsmacht kurzerhand zum Landrat des Kreises Lörrach ernannt wurde. Er wurde jedoch bald darauf wieder abgesetzt und verhaftet, weil er das Vertrauen der Besatzungsmacht missbraucht habe und ohne Absprache eine größere Lieferung Butter zur Ausgabe an die Bevölkerung bewilligt hatte. Nach mehreren Wochen Haft, zunächst in Lörrach, dann in einem Freiburger Krankenhaus, zuletzt Hausarrest in einem Freiburger Kloster, wurde Moericke freigesprochen und konnte wieder seiner Freiburger Lehrtätigkeit nachgehen, bis er 1948 von einem ehemaligen Studienfreund als Mitarbeiter und schließlich Vizepräsident des Badischen Landesrechnungshofes gewonnen wurde, eine Tätigkeit, die er bis zum Ende des Landes Baden 1952 ausgeübt hat.
Moericke starb im 85. Lebensjahr in Osnabrück, wo er nach dem Tod seiner Frau bei seinen Kindern wohnte. Die umfassend gebildete Persönlichkeit, gleichermaßen interessiert an Musik wie Literatur und natürlich an Sozialpolitik, darf als Kommunalpolitiker zwischen Kaiserreich und früher Bundesrepublik stellvertretend stehen für diesen Politikbereich, seine Chancen, Probleme und Handlungsspielräume.
Quellen: StadtA Konstanz, Personengeschichtliche Sammlung.
Werke: Die Agrarpolitik des Markgrafen Karl Friedrich von Baden, 1905; Gemeindebetriebe, Hg. im Auftrag des Vereins für Socialpolitik 2, 4: Die Gemeindebetriebe Mannheims, 1909; Die Gemeindeordnung u. die Städteordnung des Großherzogtums Baden: mit allen wichtigen dazugehörigen Gesetzen u. Verordnungen nach d. Stand vom 1.1.1911, Textausg. mit Sachregister, 1911; Sammlung d. für die Stadt Mannheim gültigen Ortsstatuten u. d. wichtigsten Vollzugsbestimmungen, Satzungen, Gemeindebeschlüsse u. Verträge, 3. Aufl. 1912; Die Bedeutung d. Kleingärten für die Bewohner unsrer Städte, 1912; Der städt. Wohnungsnachweis, 1913; Ansprache des Oberbürgermeisters Dr. Moericke bei d. Einweihung des Zeppelin-Denkmals in Konstanz am 8. Juni [verdruckt für Juli] 1920, 1920; Die Tätigkeit d. Stadtverwaltung Konstanz in den letzten Jahren, 1928; Die Schiffbarmachung des Oberrheins u. seine Bedeutung als Kraftquelle, in: Der Hochrhein von Basel bis Konstanz, 1931, 75-83; Der bauliche Erneuerer des Schlosses Bürgeln am 24. Juni 80 Jahre alt, in: Die Markgrafschaft 1959, 7, 16ff.; Erinnerungen, 1985.
Nachweis: Bildnachweise: Erinnerungen, 1985 (vgl. Werke), nach 8.

Literatur: Freiburger Wochenspiegel vom 15./16.12.1960; Südkurier vom 23.6.1965; W. Haus, Biographien deutscher Oberbürgermeister, in: Archiv für Kommunalwissenschaften 4, 1965, 129-142; W. Hofmann, Oberbürgermeister in d. Politik, in: Archiv für Kommunalwissenschaften 8, 1969, 131-145; Dieter Schott, Die Novemberrevolution 1918/1919 in Konstanz, in: ders./Werner Trapp (Hgg.), Seegründe. Beiträge zur Geschichte des Bodenseeraumes, 1984, 229-262; Werner Trapp, Der „Konstanzer Milchkrieg“, ebd. 263-288; ders., Vom „Rathausskandal“ zur „allgemeinen Vertrauenskrise“, ebd. 289-327; ders., Vergessen u. Erinnern, in: Otto Moericke, Erinnerungen, 1985, (vgl. Werke), 9-15; Dieter Schott, Die Konstanzer Gesellschaft 1918–1924, 1990; Lothar Burchardt/Dieter Schott/Werner Trapp, Konstanz im 20. Jahrhundert. Die Jahre 1914–1945, 1990 (mit ausführl. Quellenangaben); Gerd Zang, Kleine Geschichte d. Stadt Konstanz, 2010.
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