Hellpach, Willy Hugo 

Andere Namensformen:
  • 1895-1902: Ernst Gystrow
Geburtsdatum/-ort: 26.02.1877; Oels (Schlesien)
Sterbedatum/-ort: 06.07.1955;  Heidelberg
Beruf/Funktion:
  • Psychologe, MdR-DDP, badischer Staatspräsident, Journalist
Kurzbiografie: 1895 Abitur in Landshut und Beginn des Medizinstudiums in Greifswald
1898-1903 Freier Mitarbeiter der „Sozialistischen Monatshefte“
1900 Dr. phil., Leipzig, Hauptfach Psychologie, bei Wilhelm Wundt
1903 Dr. med. in Heidelberg
1903-1922 Freier Mitarbeiter der Zeitung „Der Tag“
1904 Eröffnung einer Nervenarztpraxis in Karlsruhe
1906 Habilitation für die TH Karlsruhe in Psychologie
1907-1921 Schriftleitung der „Ärztlichen Mitteilungen“
1911 außerordentlicher Professor in Karlsruhe
1917-1933 Freier Mitarbeiter der „Vossischen Zeitung“
1919-1930 Als Mitglied der DDP politisch aktiv
1921 außerplanmäßiger beamteter Professor in Karlsruhe und Gründung des Sozialpsychologischen Instituts
1922-1925 Badischer Unterrichtsminister
1924-1925 Badischer Staatspräsident
1925 Kandidat beim ersten Wahlgang der Reichspräsidentenwahl
1925-1933 Freier Mitarbeiter der „Neuen Zürcher Zeitung“
1926-1955 „Ordentlicher Honorarprofessor“ für Psychologie in Heidelberg
1928-1930 Abgeordneter des Reichstags
1947 Wilhelm-Wundt-Medaille der Deutschen Gesellschaft für Psychologie
1952 Großes Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland
Weitere Angaben zur Person: Religion: evangelisch-lutherisch
Verheiratet: 1904 Olga (katholisch), Tochter des Kaufmanns Klim in Prag
Eltern: Hugo, Gerichtskalkulator (gest. 1877)
Agnes Otto (geb. 1852, gest. 1904)
Kinder: keine
GND-ID: GND/118819275

Biografie: Walter Stallmeister (Autor)
Aus: Baden-Württembergische Biographien 2 (1999), 209-212

Hellpach, Sohn einer Beamtenwitwe, die sich nach dem frühen Tod seines Vaters ohne Pension durchschlagen mußte, entschied sich als Obertertianer für das damals sehr teure Medizinstudium. Durch schriftstellerische Tätigkeit trug er während seines Studiums zu seinem Lebensunterhalt bei. Die berufliche und wissenschaftliche Entwicklung verband sich mit intensiver Literatentätigkeit. Er schloß sich als Student dem Kreis um die revisionistische Zeitschrift „Sozialistische Monatshefte“ an, der sich um einen undogmatischen Sozialismus bemühte. Mit Rücksicht auf das konservative Universitätsmilieu benutzte er das Pseudonym „Ernst Gystrow“.
1898 wechselte er von Greifswald an die Universität Leipzig, von der er sich mehr Anregungen versprach, und erhielt hier durch seine Universitätslehrer Wilhelm Wundt (Psychologie), Friedrich Ratzel (Geographie) und Karl Lamprecht (Geschichte) die entscheidenden Anstöße für seine spätere fächerübergreifende wissenschaftliche und journalistische Arbeit. Karl Lamprecht regte ihn dazu an, geschichtliche und zeitgenössische Phänomene sozialpsychologisch zu betrachten.
Hellpach schrieb in seiner frühen Zeit zu sozialpathologischen Phänomenen, die sich aus klassenspezifischen psychischen Problemlagen oder kritischen Umweltbezügen ergaben. Er wandte die Psychologie auf gesellschaftliche Probleme an und griff Themen mit öffentlichem Interesse wie Sozialpathologie, Hysterie und Nervosität auf.
Weil er 1902 nicht zum Reserveoffizier befördert wurde, fühlte sich Hellpach im preußischen Milieu unwohl und beschloß, nach Baden zu gehen. Er legte sein Pseudonym ab und bekannte sich zu seinem früheren Schrifttum.
1903 gab er nach dem Parteitag der SPD, auf dem die Revisionisten auf eine strengere Parteiausrichtung hin diszipliniert wurden, die Mitarbeit bei den „Sozialistischen Monatsheften“ auf. 1904 ließ er sich in Karlsruhe als Nervenarzt nieder. Die Praxis lief nicht gut, und Hellpach mußte weiter mit Schreiben sein Geld verdienen. 1906 habilitierte er sich in Psychologie. Wissenschaftsjournalistisch begleitete er die Entwicklung der jungen Wissenschaft Psychologie, vor allem in umfangreichen Berichten in der Zeitung „Der Tag“.
In wissenschaftlichen und journalistischen Veröffentlichungen behielt er die sozialkritische Thematik bei und schrieb über die sozialpathologischen Erscheinungen des Berufslebens und psychische Probleme des gesellschaftlichen und technischen Wandels. Eine Besserung der sozialpathologischen Situation des Proletariats erwartete er jetzt von dessen Integration in das Bürgertum in einem gesellschaftlich ausgleichenden Verbürgerlichungsprozeß.
1907 wurde Hellpach die Schriftleitung der „Ärztlichen Mitteilungen“, des Verbandsblattes des Ärztevereins, übertragen. Diese Aufgabe entsprach seinem journalistischen und sozialpolitischen Engagement, und er hatte hierdurch zum ersten Mal regelmäßige Einkünfte. 1911 erschien die Erstausgabe der „Geopsychischen Erscheinungen“ (später unter dem Titel: Geopsyche), durch die Hellpach als Wissenschaftler international bekannt wurde. Er stellte interdisziplinär den empirischen Wissensstand seiner Zeit über die Einwirkungen, welche der Mensch durch Wetter und Klima, Boden und Landschaft erfährt, dar.
Im Ersten Weltkrieg leistete Hellpach Dienst als Lazarettarzt. In Artikeln der „Ärztlichen Mitteilungen“ kommentierte er am Ende des Krieges und in der Nachkriegszeit die neue politische und gesellschaftliche Lage. Dezember 1916 wurde er freier Mitarbeiter der „Vossischen Zeitung“. Er entwickelte seine Idee einer „Konservativen Demokratie“, in der gesellschaftliche und anthropologische Grundtatsachen berücksichtigt werden sollten. Er trat 1919 in die DDP ein, um aktiv politisch tätig zu werden.
1921 wurde er beamteter außerplanmäßiger Professor in Karlsruhe und gründete dort das Institut für Sozialpsychologie, das erste seiner Art in Deutschland, dessen Aufgabe eine sozialwissenschaftliche Arbeitspsychologie sein sollte.
1922 wurde er Badischer Unterrichtsminister. Er wollte das Bildungswesen in den Dienst der demokratischen Idee stellen und es entsprechend den differenzierten Begabungsformen und Berufsaufgaben gliedern. Unter Hellpach entstand ein neuer Unterrichtsplan für die Volksschule, und das Berufsschulwesen wurde neu geordnet. Nach einer Wahlniederlage seiner Partei und deren Austritt aus der Koalition mit SPD und Zentrum trat er im Dezember 1925 zurück.
Hellpach veröffentlichte in seiner Amtszeit als Minister Beiträge zur Arbeitswissenschaft und die „Psychologie der Umwelt“, in der er systematisch die verschiedenen Bereiche der natürlichen, sozialen und kulturellen Umwelt darstellte.
Nach seinem Rücktritt wurde Hellpach 1926 „ordentlicher Honorarprofessor“ für Psychologie in Heidelberg. In der Antrittsvorlesung entwarf er das Programm seiner Völkerpsychologie.
Während seiner Amtzeit als Staatspräsident wurde Hellpach freier Mitarbeiter der „Neuen Zürcher Zeitung“ und kommentierte dort in regelmäßigen Leitartikeln bis 1933 die politische Lage in Deutschland.
In seinem politischen Journalismus bemühte sich Hellpach in der Weimarer Republik, das deutsche Bürgertum für die Republik zu gewinnen. Er forderte die Gründung einer konservativen Volkspartei auf demokratischer Grundlage und in einer zum Teil völkerpsychologischen Argumentation eine dem deutschen Volke gemäße Demokratie und Verfassung. Die Gefahr einer Diktatur in Deutschland nahm er nicht wahr, sondern befürchtete eher eine Restauration des alten Staates und seiner gesellschaftlichen Kräfte. Hellpach griff religiöse und kirchliche Fragen auf. Ein besonderes Anliegen war es ihm in der Weimarer Zeit, das protestantische Christentum für ein politisches Engagement zu gewinnen, und er wünschte, daß sich die evangelischen Christen, wie die katholischen im Zentrum, parteipolitisch organisierten. Zeit seines Lebens bemühte er sich um eine christliche Religiosität, die sich intellektuell redlich mit einer modernen wissenschaftlichen Weltanschauung vereinbaren ließ, und bekannte sich zu einem pantheistisch geprägten Christentum.
Hellpach stand schon vor der eigentlichen Krisenzeit der Weimarer Republik dem Parlamentarismus und dem Parteienwesen kritisch gegenüber. Er verlangte ein ausgewogenes Verhältnis von plebiszitärer, präsidialer und parlamentarischer Macht. Er hielt es für nötig, daß die Macht des Parlaments gegenüber den anderen Trägern politischer Macht eingeschränkt wurde. Das deutsche Parteienwesen entsprach für ihn nicht mehr der inzwischen veränderten Struktur seiner Anhänger.
1928 wurde er Reichstagsabgeordneter. Aber schon 1930 gab er sein Mandat auf, da ihn die Arbeit im Plenum und im Ausschuß für Strafrechtsreform nicht befriedigte. Seiner Partei warf er u. a. vor, bei der Reform von Parlament und Parteienwesen versagt zu haben, und trat aus. Er sprach sich für eine Neuordnung des Parteiwesens in Deutschland aus, durch die sich die im Volke bestehenden Kräfte entfalten könnten, und empfahl eine Sammlung des konservativen Bürgertums in einer Partei.
Hellpach meinte 1932, daß Deutschland aus dem italienischen Faschismus Lehren für eine „Konservative Demokratie“ ziehen könne, ohne sich ihm verschreiben zu müssen. Nach der Machtübergabe hielt er das deutsche Volk für so strukturiert, daß er eine Rückkehr zur Demokratie voraussah.
1933 gab Hellpach seine politische Publizistik auf. Auf dem Internationalen Kongreß für Philosophie 1934 in Prag war er Mitglied der offiziellen deutschen Delegation. Er übernahm die Aufgabe, in einer Sektion zur soziologischen Theorie einen regionalen und völkischen Ansatz in den Sozialwissenschaften darzustellen. Emigranten hielten dies für eine Rechtfertigung der NS-Ideologie, und es wurden Hinweise auf Hellpachs frühere, anscheinend hiermit im Gegensatz stehende Äußerungen veröffentlicht. Hellpach mußte sich einer Gestapo-Untersuchung unterziehen, die ohne Folgen blieb, und enthielt sich bis 1945 jeder politischen Tätigkeit und Äußerung. Aus seinem bisherigen wissenschaftlichen und essayistischen Schrifttum konnte er eine Themenauswahl entwickeln, die ihm auch Veröffentlichungen für ein breiteres Publikum und allgemeinbildende Vorträge ohne politische Kollisionsgefahr ermöglichten.
Hellpach zog sich in ein ruhiges Gelehrtenleben zurück. Er stellte jetzt Bereiche seiner Psychologie, die er schon seit Jahrzehnten bearbeitete, Sozialpsychologie, Völkerpsychologie, Religionspsychologie und Physiognomik in systematischen Gesamtdarstellungen vor. Ein neuer Schwerpunkt wurde die Stadtbevölkerung. Die Veröffentlichungen zu diesen Themen zeigen auch in dieser Zeit seinen früheren interdisziplinären Methodenansatz und das Bemühen, die Psychologie in ein anthropologisches Gesamtkonzept zu integrieren. Wegen des Mangels an vorliegenden empirischen Untersuchungen, den Hellpach selbst empfunden hat, wurden die sozialen Beziehungen, die sozialen Anpassungs-, Nachahmungs- und Interaktionsprozesse und die vielfältigen Einflüsse auf den Menschen durch die verschiedenen Umweltbereiche zu einem maßgeblichen Teil phänomenologisch beschrieben. Das zeit- und sozialkritische Engagement, das die früheren Schriften zu sozialpathologischen Problemen kennzeichnete, trat zurück.
1946 wurde Hellpach von der Spruchkammer Heidelberg als nicht betroffen vom „Gesetz zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus“ eingestuft. Er nahm nach dem 2. Weltkrieg in einem bescheideneren Maße seine politisch-journalistische Tätigkeit wieder auf. In seiner Autobiographie, seinen psychologischen Arbeiten und Werken zur politischen Theorie beschäftigte er sich kritisch mit der Vergangenheit und sah sein Werk als Beitrag zum geistigen Wiederaufbau an. In die junge Bundesrepublik konnte er sich nicht mehr integrieren. Er kritisierte die Verfassung des neuen Staates und die Westorientierung und forderte eine Neutralitätspolitik. In die aktive Politik kehrte er nicht mehr zurück und widmete sich wie während der vorausgegangenen Phase der politischen Inaktivität in der Hauptsache dem Abschluß seines wissenschaftlichen Werkes.
Quellen: Persönlicher und wissenschaftlicher Nachlaß im GLA: Nachlaß Hellpach
Werke: Auswahl, Bibliographie der Primär- und Sekundärliteratur in: Willy Hellpach. Beiträge zu Werk und Biographie, W. Stallmeister, H. E. Lück (Hrsg.) 1991, 150-252; Sozialpathologische Probleme der Gegenwart, in: Sozialistische Monatshefte, 5, 1901, 288-295, 327-334 (unter dem Pseudonym erschienen); Die Grenzwissenschaften der Psychologie, 1902; Soziale Wirkungen und Ursachen der Nervosität, Politisch-Anthropologische Revue, 1, 1902/3, 44-53, 126-134; Die geistigen Epidemien, 1906; Nervenleben und Weltanschauung, 1906; Technischer Fortschritt und seelische Gesundtheit, 1907; Schöpferische Demokratie, Vossische Zeitung, 14. und 18.09.1919; Konservative Demokratie, Vossische Zeitung, 05. und 06.10.1921; Abschied, Ärztliche Mitteilungen, 1921, 22, 451-455; Lang, R., Hellpach, Willy: Gruppenfabrikation, 1922; Psychologie der Umwelt, in: Handbuch der biologischen Arbeitsmethoden, Abt. 6, H. 3, 109-218, 1924; Geschichte der Arbeit, in: Arbeitskunde, 1925, 8-27; Geopsychische Wirkungen in der Arbeit, in: ebd., 148-151; Erscheinung und Entstehung des Volkstums, Zeitschrift für deutsche Bildung, 1926, 2, 417-433; Quo vadis? Vossische Zeitung, 24.03.1925; Das Wesentliche in der Demokratie, Der Beobachter, 19.09.1929; Krise des Parlamentarismus, Neue Freie Presse, 12.09.1926; Wachstum, nicht Abkapselung der Demokratie, Neue Zürcher Zeitung, 15.10.1926; Die Wesensgestalt der deutschen Schule, 2. Aufl. 1926; Parteien-Krise, Neue Zürcher Zeitung, 14.10.1928; Politische Prognose für Deutschland, 1928; Entsumpfung und Urbarmachung im Parteiensumpf, Kölnische Zeitung, 04.05.1930; Warum scheidet Hellpach aus dem Reichstag, Schwäbischer Merkur, 05.03.1930 (offener Brief Hellpachs); Zwischen Wittenberg und Rom, Eine Pantheodizee zur Revision der Reformation, Berlin 1931; Bündnis des Faschismus mit dem Geist, Reich und Länder, 1933, 7, 10-18; Abschied von Weimar, Neue Zürcher Zeitung, 10.04.1933; Generationen, Vossische Zeitung, 16.04.1933; Vernichtung der Rassentheorie, Europäische Hefte, 1934, 1, 441-443 (Zusammenstellung von Hellpach-Texten, die mit dem NS nicht übereinstimmen sollen, durch Willy Schlamm, spätere Namensform William Schlamm); Zentraler Gegenstand der Soziologie, Volk als Naturtatsache, geistige Gestalt und Willensschöpfung, Congrès international de Philosophie, 8, 1934, Prague, Actes du ... congrès, Prague 1936, 249-265, Discussion: 284-290; Wirken in Wirren, Bd. 1-2, 1948-1949 (Autobiographie, 3. Bd. erschienen postum unter dem Titel: Hellpach-Memoiren 1925-1945, Ch. Führ, H. G. Zier (Hg.), 1987; Pax futura, 1949; Deutsche Physiognomik, 2. Aufl. 1949; Provisorische Demokratie, Neue Zürcher Zeitung 10.08.1949; Grundriß der Religionspsychologie, 1951 (1. Aufl. 1939 unter dem Titel: Übersicht über die Religionspsychologie); Sozialpsychologie, 1951 (1. Aufl. 1933 unter dem Titel: Elementares Lehrbuch der Sozialpsychologie); Mensch und Volk der Großstadt, 2. Aufl. 1952; Wehrfriedliches Neutropa, Hamburger Abendblatt, 10./11.03.1951; Kulturpsychologie, 1953; Einführung in die Völkerpsychologie, 3. Aufl. 1954; Geopsyche, 1965 (bis zur 3. Aufl. 1923 unter dem Titel: Die geopsychischen Erscheinungen)
Nachweis: Bildnachweise: Nachlaß im GLA unter Nr. 3 und in der Autobiographie (siehe oben unter Werke)

Literatur: Auswahl, siehe oben unter Werke: Gundlach, H., Willy Hellpach, Attributionen, in: Psychologie im NS, 1985; Klaus Lankenau, Willy Hellpach, ein Leben zwischen Wissenschaft und Politik, ZGO, 1986, 134, 359-376; Beier, K. M., Erkennen und Gestalten, Theorie und Praxis im Werk von Willy Hellpach, Berlin, FU, Dissertation 1988; Lück, H. E., Willy Hellpach, Geopsyche, Völker und Sozialpsychologie in historischem Kontext, in: Wegbereiter der historischen Psychologie, 1988; Willy Hellpach, 1991 (siehe oben unter Werke)
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