Ulrich, Fritz 

Geburtsdatum/-ort: 12.02.1888;  Schwaikheim
Sterbedatum/-ort: 07.10.1969;  Stuttgart, beigesetzt in Schwaikheim
Beruf/Funktion:
  • MdL und MdR-SPD, Verfolgter des NS-Regimes, Redakteur, Innenminister
Kurzbiografie: 1895-1902 Volksschulbesuch Schwaikheim
ab 1902 4jährige Schriftsetzer- und Druckerlehre in Marbach am Neckar
1908-1910 Militärdienst bei den Ulmer Pionieren
1911-1933 Redakteur in Stuttgart und Reutlingen, ab 1912 in Heilbronn (Neckar-Echo)
1914-1918 Kriegsteilnehmer (zuletzt als Feldwebel)
1919 SPD-Abgeordneter in der Verfassunggebenden Landesversammlung Württemberg-Hohenzollern
bis 1933 Heilbronner SPD-Abgeordneter im württembergischen Landtag, 1928 bis 1932 zusammen mit Wilhelm Keil SPD-Fraktionsvorsitzender
1930-1933 Heilbronner SPD-Abgeordneter im Berliner Reichstag
1933-1934 Verlust aller Mandate aus politischen Gründen, Verhaftungen, 8 Monate KZ Heuberg
1934-1945 Weingärtner in Heilbronn
1944 4 Monate KZ Dachau
1945-1956 Landesdirektor der Innenverwaltung in Stuttgart, Innenminister von Württemberg-Baden, ab 1952 Innenminister von Baden-Württemberg
1946-1968 Direktgewählter Heilbronner SPD-Abgeordneter im Stuttgarter Landtag, 5 Jahre lang stellvertretender Fraktionsvorsitzender
1948/49 Mitglied des Parlamentarischen Rats
1949-1956 Mitglied des Bundesrats
1953 Heilbronner Ehrenbürger (gleichzeitig mit Theodor-Heuss)
1956 Baden-Württembergische Verfassungsmedaille in Gold
1962-1966 Vorsitzender der Kontrollkommission der SPD
Weitere Angaben zur Person: Religion: evangelisch
Verheiratet: 1913 Reutlingen, Berta Amalie, geb. Winter (1877-1976)
Eltern: Carl Friedrich (1841-1922), Bauer und Streckenarbeiter bei der Reichsbahn
Christine Friederike, geb. Ellwanger (1846-1929)
Geschwister: 7 Brüder, 2 Schwestern
Kinder: Doris, verh. Zintz (geb. 1918)
Hermann (1923-1945)
GND-ID: GND/11907222X

Biografie: Christhard Schrenk/Rolf Diefenbach (Autor)
Aus: Baden-Württembergische Biographien 3 (2002), 425-427

Ulrich war es nicht in die Wiege gelegt, daß er einst als Innenminister zu den wesentlichen Architekten des heutigen Bundeslandes Baden-Württemberg zählen sollte. Er wurde als neuntes von zehn Kindern in eine Familie hineingeboren, die nicht gerade zu den wohlhabenden Kreisen zählte. Diese einfache Herkunft hat Ulrich geprägt, und er hat seine Wurzeln zeitlebens nicht vergessen. Nach einer durch Anspruchslosigkeit gekennzeichneten Kindheit und Schulzeit nahm er 1902 nach der Konfirmation Abschied vom Elternhaus und begann in Marbach am Neckar eine vierjährige Lehre als Schweizerdegen, einer Kombination aus Drucker- und Schriftsetzerhandwerk. Nach dem Abschluß der Lehre trat der 18jährige in die Druckergewerkschaft ein. Deren Mitglied ist er bis zu seinem Tode, also 63 Jahre lang, geblieben, auch als Redakteur, Weingärtner und Minister.
Rasch führte Ulrichs Weg von der Druckergewerkschaft zur Politik, denn schon in seiner Schul- und Lehrzeit hatte er sich für politische Fragen engagiert. 1907 initiierte er die Gründung eines SPD-Ortsvereins in seinem Heimatort Schwaikheim, sein Bruder wurde zum Vorsitzenden gewählt, er selbst zum Schriftführer und Berichterstatter für die Presse. Bald verstärkte er seine politischen Aktivitäten und begann als Redner aufzutreten. Der zweijährige Militärdienst, den er als Unteroffiziersaspirant beendete, konnte sein Interesse an der Politik nicht beeinträchtigen. So kehrte er danach nicht an seinen Drucker-Arbeitsplatz zurück, sondern trat als Lehrling in Stuttgart bei der SPD-Zeitung „Schwäbische Tagwacht“ ein. Zu seinen Hauptaufgaben gehörte die Berichterstattung aus dem Württembergischen Landtag und dem Stuttgarter Gemeinderat. Nach wenigen Monaten wurde er als Lokalredakteur zum neugegründeten SPD-Blatt „Freie Presse“ nach Reutlingen versetzt, bevor ihn ein Jahr später sein Weg zum „Neckar-Echo“, einer Tochterzeitung der „Schwäbischen Tagwacht“, nach Heilbronn führte. Damit war er Kollege des späteren Bundespräsidenten Theodor Heuss geworden, der in dieser Zeit als Chefredakteur für die Heilbronner „Neckar-Zeitung“ verantwortlich zeichnete. 1913 heiratete Ulrich in Reutlingen. Seine Frau Berta wurde ihm zur treuen und unerschütterlichen Weggefährtin in allen beruflichen und privaten Höhen und Tiefen seines bewegten Lebens.
Den I. Weltkrieg erlebte Ulrich fast ununterbrochen als Soldat mit. Nur 1917 durfte er für einige Monate die verwaiste Redaktion des Heilbronner „Neckar-Echos“ betreuen. Allerdings brachte ihm sein journalistischer Einsatz für einen schnellen Verständigungsfrieden neben Verwarnungen und Geldstrafen auch die Rückversetzung an die Front ein. Die politische Laufbahn Ulrichs begann nach dem Zusammenbruch des Deutschen Kaiserreiches. Er zog dreißigjährig als Heilbronner SPD-Abgeordneter in die Verfassunggebende Landesversammlung Württemberg-Hohenzollern ein, wirkte bis 1933 ununterbrochen als Heilbronner SPD-Vertreter im Stuttgarter Landesparlament und saß in den letzten Jahren der Weimarer Republik zusätzlich im Berliner Reichstag. Daneben übte er seinen Beruf als Chef- bzw. Alleinredakteur des „Neckar-Echos“ weiter aus. In allen diesen Funktionen kämpfte er für soziale Reformen und setzte sich gegen die immer stärker werdende NSDAP und gegen alle anderen politischen Widersacher zur Wehr.
Wenige Tage nach der „Machtergreifung“ verhafteten die Getreuen Hitlers den profilierten Sozialdemokraten aus einer Landtagssitzung heraus. Der Protest aller Landtagsfraktionen – die Nationalsozialisten ausgenommen – führte jedoch zur Freilassung noch am gleichen Tage. Sofort folgten zwei Hausdurchsuchungen, Schüsse auf Ulrichs Haustüre in Heilbronn, eine weitere – diesmal 14tägige – Inhaftierung und das Verbot des „Neckar-Echos“. Im März 1933 griffen die neuen Machthaber nochmals zu. Ulrich kam erst nach acht Lagermonaten auf dem Heuberg wieder frei. Als er aus dieser sogenannten „Schutzhaft“ entlassen worden war, hatte er durch die Nationalsozialisten seine berufliche Existenz als Redakteur sowie seine Mandate im Land- und im Reichstag verloren. Deshalb mußte sich der 46jährige eine völlig neue berufliche Existenz suchen, die er als Weingärtner in der Weinstadt Heilbronn fand. Insbesondere dadurch, aber auch durch das Abwickeln der Buchhaltung und von Steuerangelegenheiten kleinerer Geschäfte oder Unternehmungen hielt er sich, seine Frau und seine beiden Kinder finanziell über Wasser. Trotz der offiziellen politischen Abstinenz traf sich der „Tausendjährige Wengerter“ in seinem Weinberg oft mit alten Freunden und Weggenossen insbesondere von der SPD und deren Umfeld. Das blieb der örtlichen NSDAP-Führung nicht verborgen, und sie beobachtete den ehemaligen Abgeordneten argwöhnisch. Nach den Vorgängen des 20. Juli 1944 ließ der Heilbronner NS-Kreisleiter Ulrich erneut verhaften und für vier Monate ins Konzentrationslager Dachau bringen. Von dort kehrte er als körperlich und seelisch schwer gezeichneter Mann nach Heilbronn zurück. Sein Sohn versuchte ihn aufzurichten und ermahnte ihn eindringlich zu einem politischen Engagement für den Frieden in der Zeit nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes. Kurz danach sah er am 4. Dezember 1944 seine Heimatstadt in Schutt und Asche sinken, fünf Wochen darauf fiel sein 21jähriger Sohn an der Front. Wohl dessen Mahnung gab dem tief erschütterten Vater die Kraft zum Weiterleben und -kämpfen.
Direkt nach dem Ende des II. Weltkrieges versuchte Ulrich, seine alte Tätigkeit als Redakteur des „Neckar-Echos“ wieder aufzunehmen. Die alliierte Militärregierung erteilte ihm jedoch keine Lizenz, sie hatte ihm statt dessen bereits im Mai 1945 das Amt des Chefs der Inneren Verwaltung angetragen. Nachdem Ulrich zunächst abgelehnt hatte, erklärte er sich bei der 2. Anfrage wenigstens bereit, zu Verhandlungen nach Stuttgart zu fahren. Von diesen Gesprächen zog sich Ulrich aber bald zurück. Er wurde erneut gebeten, lehnte wieder ab und ließ sich schließlich nach langem Zögern überreden, im Juni das Amt des Landesdirektors der Innenverwaltung zu übernehmen. Im September 1945 leistete Ulrich seinen Amtseid als Innenminister im Kabinett Reinhold Maier.
So wenig er sich um einen Ministersessel bemüht hatte, so entschlossen packte er die zahlreichen Aufgaben an, die ihn als Chef des Innenressorts erwarteten. Überall im Land herrschte große Not. Die Versorgung mit Nahrungsmitteln und mit Wohnraum gehörte zu den drängendsten Problemen, die es zu lösen galt. Die Landwirtschaft war in ihrer Leistungsfähigkeit beeinträchtigt, Gewerbe und Industrie lagen darnieder, und viele Städte waren in Trümmer gesunken. Zahllose Wohngebäude, öffentliche Einrichtungen, Straßen und Eisenbahnverbindungen mußten wiederhergestellt werden. Als besondere Last wirkte sich die Zerstörung vieler Brücken durch die Nationalsozialisten zum Ende des II. Weltkrieges aus. Gleichzeitig waren mehr als eine Million Flüchtlinge und Heimatvertriebene aufzunehmen, zu versorgen und einzugliedern. Diese Aufgabe oblag bis 1952 dem Innenministerium. Auf politischer Ebene galt es, einen demokratischen Rechtsstaat aufzubauen. Bezüglich der äußeren Form setzte sich Ulrich entschieden für das Zustandekommen des Südweststaates ein, dessen Innenminister er bis 1956 blieb.
In seiner Amtszeit und unter seiner Verantwortung erfolgten zahlreiche wichtige Weichenstellungen und Entscheidungen, auf denen auch heute noch die innere Ordnung des Bundeslandes Baden-Württemberg basiert. Zu nennen sind z. B. das von Ulrich geschaffene kommunale Wahlrecht, die Gemeinde- und Landkreisordnung, der Finanzausgleich, der Aufbau einer demokratischen Polizei oder auch die Bodenseewasserversorgung.
Über Baden-Württemberg hinaus wirkte Ulrich als Mitglied des Parlamentarischen Rates und zeitweise des Bundesrates. Als er nach elf Dienstjahren aus dem Amt schied, durfte er sich als dienstältester Minister in der Bundesrepublik bezeichnen. Und noch ein anderes imponierendes Faktum sei genannt: Als sich Ulrich 1968 aus dem Landtag zurückzog, hatte er alle Wahlen auf Landesebene in Heilbronn seit dem Kriegsende für sich entschieden. Außerdem war innerhalb eines halben Jahrhunderts aus dem 30jährigen „Benjamin“ in der Verfassungsgebenden Landesversammlung Württemberg-Hohenzollern der 80jährige Alterspräsident des Landtags von Baden-Württemberg geworden. Seine Heimatstadt Heilbronn verlieh ihm bereits 1953 für seine besonderen Verdienste die Ehrenbürgerwürde. Kurz vor seinem Tod wurden die neue Schule im Ortsteil Böckingen und 1991 eine Straße am Böckinger Wasserturm nach ihm benannt, und seinen 100. Geburtstag würdigte man 1988 mit einer Gedenkausstellung in der Fritz-Ulrich-Schule.
Ulrich verfügte über einen stabilen Körperbau, er trug die – später schütter gewordenen – Haare stets kurz geschnitten und streng nach hinten gekämmt. Seine Augen schauten durch eine meist kleine und runde Brille, wobei der Blick von „gütig“ über „lächelnd“ bis „stechend“ variieren konnte. Zu den wesentlichen äußeren Charakteristika zählten auch die Zigarre und der Spitzbart. Letzteren hatte er fast sechs Jahrzehnte lang getragen, auch als diese Art der „Manneszier“ längst aus der Mode gekommen war. Was Ulrichs Persönlichkeit jedoch in besonderem Maße prägte, war sein Humor. So bereinigte er z. B. im Landtag durch geistreich-witzige Bemerkungen immer wieder eine scheinbar verfahrene Situation und glänzte in geselliger Runde mit seinen Anekdoten und den von ihm meisterhaft erzählten Gôgenwitzen. Politische Auseinandersetzungen trug er häufig mit Härte oder gar Schärfe aus. Er wirkte dabei jedoch nie verletzend, weil er insbesondere auch heftige Kritik stets in seinen allgegenwärtigen Humor verpackte. Er scheute aber auch nie den Kontakt mit anderen demokratischen Parteien, wobei er sich selbst als Realpolitiker und Pragmatiker einschätzte.
Ulrich blieb sich seiner Wurzeln immer bewußt. Er hat zeitlebens nie vergessen, daß er in einfachen Verhältnissen aufgewachsen war, ein Handwerk erlernt und schließlich über die Redaktionsstube zur Politik gefunden hatte – ebenso wie der mit ihm über viele Jahrzehnte in Freundschaft verbundenen ehemalige Drechsler und Landtagspräsident Wilhelm Keil. Ulrich ließ deshalb auch den persönlichen Kontakt zu den einfachen Mitbürgern nie abreißen und bediente sich einer unnachahmlich volkstümlichen Sprache. Als er 1969 hochbetagt und nach einem bewegten Leben starb, hatte die südwestdeutsche Sozialdemokratie und das Land Baden-Württemberg einen profilierten Volksvertreter verloren.
Quellen: HStAS, EA 1, EA 2 und Q 1/10; Stadtarchiv Heilbronn ZS/P 428
Nachweis: Bildnachweise: Fotos im Landtagsarchiv von Baden-Württemberg Stuttgart, bei der Landesbildstelle Stuttgart sowie im Stadtarchiv Heilbronn, Büste (Bronze, von Wilhelm Hagner, in der Heilbronner Fritz-Ulrich-Schule und im großen Ratssaal der Stadt Heilbronn) 1968

Literatur: Erhard Röder, Fritz Ulrich – Wengerter und Minister, 1968; Christhard Schrenk, Fritz Ulrich – zum 100. Geburtstag. In: Jahrbuch für schwäbisch-fränkische Geschichte 32 (1992), 279-292
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