Lederer, Emil Hans 

Geburtsdatum/-ort: 1882-07-22; Pilsen
Sterbedatum/-ort: 1939-05-29; New York
Beruf/Funktion:
  • Soziologe, Nationalökonom
Kurzbiografie: 1901 Abitur in Pilsen
1901/2-06 Studium der Rechtswissenschaften und der Nationalökonomie in Wien und Berlin
1906 Dr. jur. in Wien
1906-07 Advokaturkandidat an den Gerichten in Wien, Pilsen und Brüx/Böhmen (Most)
1907-1910 Sekretär des Niederösterreichischen Gewerbe-Vereins in Wien
1910 Redakteur des von Edgar Jaffé, Max Weber und Werner Sombart herausgegebenen „Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“ in Heidelberg
1911 Dr. rer. pol. in München bei Lujo Brentano: „Die Pensionsversicherung der Privatangestellten“ (Tübingen 1911); SPD-Mitglied
1912 Dez. Habilitation in Heidelberg: „Theoretische und Statistische Grundlagen zur Beurteilung der modernen Angestelltenfrage“ (Tübingen 1912)
1918 Feb. Ernennung zum nichtbeamteten außerordentlichen Prof. in Heidelberg
1918-1919 Mitglied der USPD und deren Vertreter in den zentralen Sozialisierungskommissionen für Deutschland und Österreich
1920 Aug. Etatmäßiger außerordentlicher Prof. für Sozialpolitik
1922 Aug. Verleihung eines persönlichen Ordinariats; Übertritt mit der USPD-Mehrheit in die SPD
1922-1925 Prof. an der Universität Tokyo
1923 Feb. als Nachfolger Eberhard Gotheins ordentlicher Prof. an der Universität Heidelberg
1929 Ruf nach Frankfurt abgelehnt
1931 Annahme eines Rufes nach Berlin als Nachfolger von Werner Sombart
1933 Emigration und Annahme eines Rufes an die Graduate Faculty of Political and Social Science an der New School of Social Research in New York
Weitere Angaben zur Person: Religion: isr., seit 1907 ev.
Verheiratet: 1. 1907 (Wien) Emy (1879-1933), Tochter des Budapester Fabrikanten Seidler
2. 1936 Gertrud, geb. Dannheisser (geb. 1895), geschiedene Frau von Lederers Heidelberger Kollegen Hans von Eckardt (1890-1957)
Eltern: Vater: Philipp Lederer, Kaufmann
Mutter: Sophie, geb. Schwarzkopf
Kinder: keine
GND-ID: GND/119311143

Biografie: Christian Jansen (Autor)
Aus: Badische Biographien NF 4 (1996), 181-184

Lederer stammte aus der multikulturellen Gesellschaft Österreich-Ungarns vor dem Ersten Weltkrieg, genauer: aus dem deutschsprachigen jüdischen Bürgertum Böhmens. Diese Herkunft dürfte eine wesentliche Ursache seines zeitlebens „antispezialistischen Erkenntnisinteresses“ (Kocka) und seiner Vielseitigkeit gewesen sein. Seit seinem Studium in Wien war Lederer mit führenden Vertretern des Austromarxismus wie Bauer und Hilferding befreundet. Seine erste Berufstätigkeit für den niederösterreichischen Gewerbeverein erweiterte seine Kontakte zu Sozialdemokraten und Gewerkschaftlern und seine Einblicke in den Ablauf sozialer Konflikte. Durch seine erste Frau, die zu einem Kreis ungarischer Linksintellektueller gehörte, lernte Lederer u. a. Mannheim und Lukács kennen, die später durch ihn an die Universität Heidelberg kamen.
Lederer mußte auch nach seiner Habilitation von seinem außeruniversitären Broterwerb beim „Archiv für Sozialwissenschaft“ leben, denn im Kaiserreich waren seine Aussichten, eine Professur zu erreichen, wegen seiner SPD-Mitgliedschaft denkbar schlecht. Erst 1918, nachdem er mehrere Semester Alfred Weber vertreten hatte, der sich 1914 als Kriegsfreiwilliger gemeldet hatte, ernannte ihn das badische Unterrichtsministerium zumindest zum außerordentlichen Professor. Dies war ein mit keinerlei finanziellen Vorteilen verbundener Titel, der in der Regel drei Jahre nach der Habilitation, während des Krieges an stromlinienförmig-nationalistische Dozenten häufig bereits nach wenigen Monaten verliehen wurde. 1920 bekam Lederer eine planmäßige Stelle, 1922 zunächst ein persönliches Ordinariat und nach Eberhard Gotheins Tod dessen Lehrstuhl. Sein Aufenthalt im Fernen Osten, über den er in einem gemeinsam mit Emy Seidler verfaßten vielbeachteten Buch „Japan – Europa“ (Frankfurt 1928, USA 1938) berichtet hat, steht in einer Reihe von Gastprofessuren Heidelberger Philosophen und Soziologen in Japan, wie auch umgekehrt außergewöhnlich viele japanische Studenten nach Heidelberg kamen. Zurück in Deutschland forschte Lederer u. a. für den Völkerbund über die Ursachen der weltweiten Arbeitslosigkeit und Gegenmaßnahmen. Auf persönliches Betreiben des preußischen SPD-Ministerpräsidenten Braun und gegen den erbitterten Widerstand der dortigen Fakultät erhielt der sozialistische und gewerkschaftsnahe Gelehrte 1931 einen der angesehensten nationalökonomischen Lehrstühle in Deutschland, nämlich den Sombarts an der Berliner Universität. Im April 1933 kehrte Lederer nach einer Tagung des Internationalen Arbeitsamtes in Paris nicht nach Deutschland zurück, sondern ging nach London. Dort konnte ihn Alvin Johnson für seinen Plan begeistern, an der von ihm geleiteten New School for Social Research eine „Graduate Faculty“ zu bilden, an die vorzugsweise Emigranten berufen werden sollten. Für dieses idealistische und später berühmt gewordene Projekt, dessen geistiger Kopf Lederer bis zu seinem frühen Tod war, schlug er besserdotierte Universitätsstellen aus.
Als Redakteur des „Archivs“ wurde Lederer zum Chronisten der sozialen Bewegungen und Auseinandersetzungen in Deutschland und Österreich. Er beschäftigte sich in seinen 1910-1920 erschienenen Jahresrückblicken und auch später immer wieder mit der Veränderung der sozialen Schichtung in Deutschland. Als am Marxismus geschulter und im Bannkreis Max Webers lebender Soziologe versuchte er eine Synthese beider Theorien, indem er die Untersuchung der ökonomischen Entwicklungen, der Herrschaftsverhältnisse und der sozialen Ungleichheiten verknüpfte. Lederer wich in seinen Gesellschaftsanalysen vom dichotomischen (= zweigeteilten) Modell antagonistischer Klassen ab und sah in den Mittelschichten ein wachsendes, im traditionellen Parteiensystem nicht eingebundenes und auch sozial „entstrukturiertes“ politisches Potential. Daß im Verlaufe des Modernisierungsprozesses eine zunehmende Zahl von Menschen zu den Mittelschichten gehört bzw. sich zu ihnen zählt, sah Lederer als Symptom für die Auflösung der objektiven Klassenstrukturen und subjektiven Klassenbindungen und zugleich als Entstehungsursache für die europäischen Faschismen, die wiederum die Entstrukturierungstendenzen beschleunigten. Nicht zuletzt interessierten Lederer Veränderungen in der Mentalität der sozialen Schichten, für die er den – heute durch Bourdieu modisch gewordenen – Ausdruck „(sozialpsychologischer) Habitus“ verwandte. Beeindruckend sind in diesem Zusammenhang seine Aufsätze „Die Gesellschaft der Unselbständigen“ (1913) und mehr noch „Zur Soziologie des Weltkrieges“ (1915). Dort analysierte Lederer in bis heute unübertroffener Klarheit die Auswirkungen moderner Kriege auf die Gesellschaft und die nationalistische Massenhysterie seiner Zeit, den sogenannten „Geist von 1914“. Lederer war ein durch und durch politisch denkender und engagierter Professor. Zeitlebens hatte er enge Kontakte zu führenden Politikern und Gewerkschaftern. Scharf kritisierte Lederer Max Webers entpolitisierenden Wissenschaftsbegriff. Er bezeichnete es als „nihilistisch“, wenn Weber jegliche Form ideengeleiteten politischen Handelns und Gestaltens als „literatenhaft“ ablehnte und zählte 1939 die „Schwäche der Wissenschaft“ gar zu den „Aufstiegsbedingungen“ des Nationalsozialismus. Damit war Webers Wertfreiheitspostulat gemeint, das „für eine scharfe Unterscheidung zwischen der Ermittlung von Tatsachen und dem Ziehen von (politischen) Schlußfolgerungen“ plädiert. Dies habe „zum völligen Rückzug verantwortungsbewußter Wissenschaftler aus dem politischen Leben“ geführt. Lederer schrieb in seinem bedeutendsten, postum erschienen, bis heute aber nicht ins Deutsche übersetzten Buch „State of the Masses“, daß der Wissenschaftler bereit sein müsse, diejenigen Werte zu verteidigen, auf deren Grundlage sich die Wissenschaft entwickelt hat: „die Freiheit des Gedankens, der Rede, der Diskussion; die Achtung vor der Wahrheit; das Vertrauen auf die Fähigkeit des menschlichen Geistes, für sich selbst zu entscheiden, und die Bereitschaft für das eigene Leben die Verantwortung zu übernehmen.“ Dieser Wertekatalog zeigt, daß Lederer sich zum Ende seines Lebens vom scharfen Kritiker des Kapitalismus zum Anhänger eines sozialliberalen Demokratiemodells entwickelt hatte, wie es etwa Roosevelt zu verwirklichen versuchte.
War Lederer sein ganzes Leben schulend und beratend politisch tätig, so engagierte er sich in zwei entscheidenden Phasen der Weimarer Republik in besonderem Maße: 1918 trat er in die USPD ein, saß für sie in den Kommissionen, die Vorschläge für Sozialisierungen in Deutschland und Österreich ausarbeiteten, und schrieb Leitartikel für das Parteiorgan „Die Freiheit“. 1930/ 1931 versuchte er ohne Erfolg, durch zahlreiche Reden und Publikationen die Regierung zu stärkerem finanziellen Engagement gegen die Arbeitslosigkeit zu bewegen, die er als existenzbedrohend für die Demokratie ansah. Im Sinne modernen keynesianischen Krisenmanagements plädierte er für „deficit spending“, um die Konjunktur anzukurbeln, und gegen das „Allheilmittel der Lohnsenkung“, da eine weitere Verringerung der Massenkaufkraft die Krise nur verschärfe. Der sogenannte „Lederer-Plan“ sah etwa vor, für Arbeitslose mit staatlicher Unterstützung in stillgelegten Betrieben Selbsthilfeprojekte zu gründen – ein Vorläufer der heutigen „Beschäftigungsgesellschaften“. Obwohl Lederer nach der Spaltung der USPD und der Wiedervereinigung ihres freiheitlichen Flügels mit der SPD deren Mitglied blieb, hatte er ein eher distanziertes Verhältnis zu Parteien und tendierte zu syndikalistischen Positionen. Nur die Artikulation gruppenspezifischer und das heiße in aller Regel ökonomischer Interessen schaffe die Voraussetzungen für wirkliche politische Partizipation der Massen, während die Ideologisierung der Politik, wie sie die meisten Parteien betrieben, nur Scheinkonflikte hervorbringe.
Daß Lederer sich positiv von der großen Mehrzahl seiner Kollegen abhebt, hängt mit einem Umstand zusammen, auf den drei seiner Kollegen von der „New School“ in einem Nachruf verwiesen: „Im Gegensatz zu Simmel und Max Weber stand hinter Lederers Schaffen in keiner Weise die Erfahrung der Isolation und Einsamkeit.“ Lederers wissenschaftliches Werk ist im Gegensatz zu dem dieser beiden neurotischen Einzelkämpfer heute weitgehend vergessen. Das deutsche Publikum liebt tragische Geistesheroen mehr als pragmatische, mit Ironie und Distanz ausgestattete Köpfe.
Werke: State of the masses. The threat of the classless society, New York 1940, Reprint 1967; Kapitalismus, Klassenstruktur u. Probleme der Demokratie in Dt. 1910-1940 (Sammlung), Göttingen (Kritische Studien z. Geschichtswiss. 39) 1979; Bernd Uhlmannsieck, Verzeichnis der Schriften von E. Lederer, in: ebd.; Nachträge in: Christian Jansen, Vom Gelehrten z. Beamten. Karriereverläufe u. soziale Lage d. Heidelberger Hochschullehrer 1914-1933. Heidelberg 1992, S. 143.
Nachweis: Bildnachweise: Fotos im UA und im Kurpfälzischen Museum Heidelberg.

Literatur: Hans Staudinger, E. Lederer 1882-1939, I. The Sociologist, in: Social Research, Vol. 7. New York 1940; Jakob Marschak, E. Lederer 1882-1939, II. The Economist, in: Dass., Vol. 8. New York 1941; Dirk Käsler, E. Lederer, in: NDB 14, 1985, 40 f.; Hans Speier, E. Lederer: Leben und Werk, in: Kapitalismus ... (s. o.); Christian Jansen, Kein deutscher Mandarin. E. Erinnerung an den vergessenen Soziologen E. Lederer (1882-1939), in: die tageszeitung. Berlin, 26. 9. 1989; ders., Professoren u. Politik. Polit. Denken u. Handeln d. Heidelberger Hochschullehrer 1914-1935, Göttingen 1992; Hans-Ulrich Eßlinger, E. Lederer: Ein Plädoyer f. d. polit. Verwendung d. wiss. Erkenntnis, in: Hubert Treiber/Sauerland (Hg.), Heidelberg im Schnittpunkt intellektueller Kreise. Opladen 1995, 422-444. Hans Joas, Kriegsideologien. Der 1. Weltkrieg im Spiegel d. zeitgenöss. Sozialwissenschaften, in: Leviathan, H 3, Opladen 1995.
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