Pier, Matthias 

Geburtsdatum/-ort: 22.07.1882; Nackenheim, Rheinhessen
Sterbedatum/-ort: 12.09.1965;  Heidelberg
Beruf/Funktion:
  • Industriechemiker
Kurzbiografie: 1891-1901 Realgymnasium, dann ab 1894 humanistisches Oster-Gymnasium in Mainz
1901 Sommersemester Studium in Heidelberg: Physik, Mathematik und Philosophie
1901 Okt.-1902 Sep. Einjährig-Freiwilliger beim Hessischen Feld-Artillerie-Regiment in Mainz
1902 Okt.-1907 Okt. 3 Semester in Jena: Chemie, Physik, Geologie und Mathematik; 1 Semester in München: Chemie und 6 Semester in Berlin: Chemie
1906 Jan.-1909 Dez. Vorlesungsassistent bei Nernst
1908 Mär. Promotion in Berlin bei W. Nernst: „Specifische Wärme und Dissociationsverhältnisse von Chlor“, Prädikat „sehr lobenswert“
1910 Jan.-1914 Jul. Physikalischer Chemiker an der Centralstelle für wissenschaftlich-technische Untersuchungen“, Neubabelsberg bei Berlin
1914 Aug.-1919 Mär. Militärdienst
1920 Jun. Eintritt bei der BASF, Ludwigshafen. Umzug nach Heidelberg
1927 Apr. Prokurist, ab 1934 Direktor bei der IG Farbenindustrie
1943 Jan. Ehrenamtlicher Mitarbeiter des Reichsamtes für Wirtschaftsausbau: Fachbeauftragter für Hydrieranlagen
1946 Jan. Verhaftung durch die Militärregierung
1947 Nov. Entlassung nach 22 Monaten Lager
1949 Jan. Pensionierung bei der BASF
Weitere Angaben zur Person: Religion: rk.
Auszeichnungen: Dr.-Ing. h. c. der Technischen Hochschule Hannover (1934); Ehrensenator der Universität Heidelberg (1942); Titel Professor, verliehen durch den Ministerpräsidenten von Württemberg-Baden (1950)
Verheiratet: 1911 (Mainz) Anna Margarete, geb. Krauter (1884-1957)
Eltern: Vater: Mathias (1855-1938), Winzer
Mutter: Magdalena, geb. Jost (1852-1912)
Geschwister: keine
Kinder: keine
GND-ID: GND/127846352

Biografie: Alexander Kipnis (Autor)
Aus: Baden-Württembergische Biographien 4 (2007), 266-269

Pier wurde als einziges Kind eines rheinhessischen Weingutsbesitzers geboren. Er besuchte zuerst die Dorfschule in Nackenheim, dann das Gymnasium in Mainz, wohin er täglich mit dem Zug fahren musste. Schon als Schüler war Pier ein begeisterter Fotograf, gleichzeitig entwickelte sich sein Interesse für Chemie. Im Gartenhäuschen seiner Eltern richtete er sich ein kleines Labor ein. Diese Neigung bestimmte später sein Studium. Nach einem Semester in Heidelberg genügte Pier seiner Militärpflicht, die er als Reserveleutnant abschloss. Seine kämpferische Natur trat auch in seiner Studentenzeit hervor, als das Mitglied des Jenaer Studentencorps „Saxonia“ 21 Zweikämpfe ausgefochten hat; sein Gesicht trug die Narben bis ins Alter.
Der wichtigste Teil seines Studiums fiel in die Berliner Jahre bis 1908. Damals begann der berühmte Physikochemiker W. Nernst dort seine Professur. Im Oktober 1905 wurde Pier bei ihm Doktorand und bald Vorlesungsassistent. Nach Nernsts Aussage vereinten sich bei Pier „experimentelles Geschick mit gründlichem Wissen“. Fast zwei Jahre nach der erfolgreichen Promotion blieb Pier noch bei Nernst. Da er eine Familie zu gründen beabsichtigte, arbeitete er dann für die „Centralstelle für wissenschaftlich-technische Untersuchungen GmbH“, eine Forschungsanstalt der Militärindustrie in Neubabelsberg bei Berlin.
Piers Arbeit hier war sehr vielseitig, reichte von verschiedenen Gutachten bis zu elektrotechnischen Versuchen zum Blitzschutz in großem Maßstab. Er beschäftigte sich u. a. mit der Herstellung von Chloraten und Perchloraten durch Elektrolyse und erhielt zwei Patente dafür. Für seine weitere Laufbahn aber waren die durch eine Mitteilung über die Versuche Fritz Habers angeregten Arbeiten über die Ammoniaksynthese am wichtigsten: Pier baute eine originelle Hochdruckapparatur und konnte mit von ihm selbst gefundenen Katalysatoren Ammoniak in seinem Labor synthetisieren. Seine Erfindungen wurden in fünf deutschen Patenten fixiert. Die selbständig gestellte und durchgeführte Arbeit traf jedoch nicht auf Verständnis beim Aufsichtsrat. Die Lage war noch unklar, als der Kriegsausbruch das Problem löste.
Pier fuhr unverzüglich in sein Regiment und wurde in Frankreich, Polen, Serbien und wieder in Frankreich eingesetzt. Am 2. Mai 1918 wurde er, inzwischen Hauptmann, schwer verwundet und erst im März 1919 aus dem Lazarett und gleichzeitig vom Militär entlassen. Von seiner Verwundung blieb ihm ein versteifter Fuß, zum Gehen musste er fortan einen Stock benutzen.
Pier kehrte an die „Centralstelle“ zurück und begann, mit seiner Hochdruckapparatur Versuche über die Hydrierung des Kohlenmonoxids. Als die „Centralstelle“ im Juni 1920 dem Versailler Vertrag gemäß aufgelöst wurde, ging Pier zur BASF.
Seine Bewährungsprobe bestand er dort im von A. Mittasch geleiteten Ammoniaklabor, indem er erstaunlich schnell den Weg für die Hochdruckmethanolsynthese aus dem Wassergas fand, wobei er erstmals Zink-Chrom-Oxide als Katalysatoren einführte und die hinderliche Bildung des Eisencarbonyls entdeckte und eliminierte. Wegen der französischen Rheinlandbesetzung im Mai 1923 wurde die Arbeit nach Leuna verlegt, wo es nach nur 5 Wochen gelang, die technische Methanolproduktion aufzunehmen – der Durchbruch, den Pier mit einem „Husarenritt“ zu vergleichen pflegte und der die katalytischen Hochdruckverfahren in die organische Chemie erführte.
Anfang 1924 kehrte Pier nach Oppau zurück, um die Versuche über Teerhydrierung und dann Kohlehydrierung zu beginnen. Diese Möglichkeit war durch die Pionierarbeiten von F. Bergius bekannt. Die Arbeit über dieses vielschichtige Problem verglich Pier mit einem langen schwierigen Stellungskrieg. Er modifizierte das Bergius-Verfahren durch zwei prinzipielle Beiträge: Die Anwendung der Katalyse, wobei er schwefelunempfindliche Katalysatoren fand und die Trennung der Hydrierung in zwei Stufen, wobei man zuerst in der „Sumpfphase“ die Ausgangsprodukte zu Ölen mittlerer Siedebereiche verwandelt, die dann in der Gasphase in Benzine umgesetzt werden. Pier basierte auf der physikalischen Chemie einerseits, aber andrerseits auf seinem, wie er sagte, „Fingerspitzengefühl“, das ihm erlaubte, mit wenigen richtig gemachten „Tipversuchen“ herauszufinden, „wie die Materie will“. Im Januar 1925 gelang es, erstmals wasserhelles Benzin aus Teer herzustellen und nach wenigen Monaten waren Wege zu effektiven Druckhydrierung von Kohle offenbar. Nach halbtechnischen Versuchen in Oppau – tatkräftig unterstützt von C. Krauch und C. Bosch – wurde Mitte 1926 der Bau einer Großversuchsanlage für 100 000 Tonnen Benzin pro Jahr aus Braunkohle in Leuna beschlossen. Alle verfügbaren Kräfte wurden eingesetzt: Pier führte damals über 2 000 Menschen; seine Vitalität und sein Optimismus begeisterten die Mitarbeiter, und nur drei Vierteljahre nach dem Baubeschluss, am 1. April 1927, floss das erste „Leuna-Benzin“.
Nach dem geglückten Großversuch folgte aber eine jahrelange Periode, in der enorme technische Schwierigkeiten zu überwinden waren. Viele Fragen konnten erst im Zusammenwirken von Laboratoriumsforschung und Großversuchsanlage befriedigend geklärt werden. Am schlimmsten waren die wirtschaftlichen Nöte: Die Weltkrise und die niedrigen Preise von Benzin aus Erdöl drohten, seine Arbeit überflüssig zu machen. In dieser Situation half der Verkauf von Hydrierungslizenzen an die amerikanische Standard Oil Company, die zwei Werke zur Ölhydrierung baute und wozu Pier 1927 und 1932 längere Zeit in den USA weilte. Nur mit „außerordentlichen Mühen“, so Pier selbst, konnte er seine Arbeiten über Hochdruckhydrierung erfolgreich fortsetzen; erst nach 5-jährigem Mühen, 1932, war die störungsfreie Produktion erreicht.
Die Autarkie-Politik des „Dritten Reichs“ endlich beseitigte auch die wirtschaftlichen Probleme. Teilweise deswegen, teilweise, um seine Ziele im neuen System besser erreichen zu können, trat Pier im Juni 1933 dem Stahlhelm bei, der im Frühjahr 1934 in die SA überführt wurde. Im Mai 1937 schloss er sich der NSDAP an und konnte sich so die Selbständigkeit des Handelns erhalten. Sein Ziel war inzwischen, die Steinkohlehydrierung zu verwirklichen, was den Übergang von 200 zu 700 atm in der Sumpfphase verlangte. 1936 bis 1943 wurden unter Piers unmittelbarer Kontrolle elf weitere Großfabrikationsanlagen gebaut. Er leitete eine Arbeitsgruppe von durchschnittlich 80 Akademikern, insgesamt über 1 000 Mitarbeiter.
Nach dem Zusammenbruch wurde der leitende Mitarbeiter der IG Farbenindustrie verhaftet und beim Nürnberger Prozess gegen das Unternehmen (Fall 6) mehrmals verhört, aber persönlich nicht angeklagt und nach 22 Monaten Haft in verschiedenen Lagern entlassen. Pier kehrte nach Heidelberg zurück und arbeitete bis zum Ruhestand 1949 weiter bei der BASF. Auch später war er noch aktiv, hielt Vorträge über Hochdruckhydrierung vor den Welt-Erdöl-Kongressen 1951 in Den Haag und 1955 in Rom und genoss seine internationale Anerkennung.
1952 ließen die Hydrierwerke in der Bundesrepublik ihm ein neues Haus in Heidelberg bauen. In diesem Haus wohnte Pier bis zum Lebensende. Er vermachte seinen Schatz, ein italienisches Ölgemälde des 15. Jahrhunderts, dem Kurpfalzmuseum in Heidelberg, „wenn die Stadt bereit wäre, die Pflege des Grabes zu unternehmen, in dem seine Frau und er beigesetzt wird“.
Piers Lebenswerk, katalytische Hochdruckhydrierungen, entwickelte sich von vergleichsmäßig einfacher Ammoniaksynthese über die Methanolsynthese zu immer komplizierteren Teer-, Öl-, Braunkohle- und Steinkohlehydrierungen. Teilweise spiegelte es sich in seinen Patenten wider, von denen 5 die Ammoniaksynthese, 21 die Methanolsynthese und 503 die anderen genannten Hydrierungen betreffen. Ein weiterer Teil seines Lebenswerks sind die fabrikmäßige Umsetzung chemisch-technischer Verfahren und außerdem bedeutende Impulse, die der chemischen Technik im Allgemeinen und der Ölindustrie im Besonderen zugute kamen. In die Geschichte der Naturwissenschaft und Technik ging Pier als „Papst der Hochdruckhydrierung“ ein.
Quellen: UnternehmensA d. BASF W1-Pier; UA Heidelberg B 1884/5, Rep. 14, Nr. 90 u. 249.
Werke: (mit C. Krauch), Kohleveredelung u. katalytische Druckhydrierung, in: Zs. für angewandte Chemie 44, 1931, 953-958; Coal Hydrogenation: A Comparison of Hydrogenation Products of Coal and Oil, in: Industrial and Engineering Chemistry 29, 1937, 140-145; Über Hydrierbenzine. Einfluss von Rohstoff, Katalysator u. Arbeitsweise, in: Angewandte Chemie 51, 1938, 603-608; Benzin aus Kohle, Teer u. Erdöl. Ein Beitrag aus d. Entwicklung d. dt. Kraftstoffversorgung, in: Oel u. Kohle 38, 1942, 1445-1448; Einiges über Hydrier- u. Spaltkatalysatoren bei d. Öl- u. Kohle-Verarbeitung, in: Zs. für Elektrochemie 53, 1949, 291-301; Gasförmige Kohlenwasserstoffe bei Ölhydrierung, in: Brennstoffchemie 32, 1951, 129-133; Ammoniak – Methanol – Benzin. Entwicklung u. Stand d. Hochdruck-Katalyse, in: Chemische Industrie (Düsseldorf) 4, 1952, 715-719; Einiges aus d. Entwicklung d. katalyt. Druckhydrierungen, in: Zs. f. Elektrochemie, Berr. d. Bunsen-Ges. für physik. Chemie 57, 1953, 456-460; Erinnerungen, Privatdruck vom 22. Juli 1962.
Nachweis: Bildnachweise: UnternehmensA d. BASF; Von Werk zu Werk, Monatsschr. d. Werkgem. d. IG Farbenindustrie, Ausg. Ludwigshafen, Jg. 28, Dez. 1937, 221; Oel u. Kohle 38, 1942, 779; Brennstoff-Chemie 33, 1952, 225; Angewandte Chemie 64, 1952, 407; Berr. d. Bunsen-Ges. für physik. Chemie 61, 1957, 857 (vgl. Lit.).

Literatur: Poggendorff, J. C., Biogr.-literar. Handwörterb. VI-Ia, T. 3, 1959, 571 f. u. VIII, T. 3, 2003, 2012 f. (mit Bibliographie); M. Rasch, Pier, in: NDB 20, 2001, 428 f.; W. R. Pötsch, Pier, in: Lexikon bedeutender Chemiker, 1988, 344 f.; M. Höring, M. Pier †, in: Erdöl u. Kohle 18, 1965, 769 (mit Bild); T. H. Toepel, M. Pier zum Gedenken, in: Berr. d. Bunsen-Ges. für physik. Chemie 70, 1966, 111-113 (mit Bild); M. Höring, L. Raichle, Zur Technologie d. Kohle- u. Ölhydrierung. M. Pier zum Gedächtnis, in: Chemie-Ingenieur-Technik 38, 1966, 205-208 (mit Bild); O. Reitz, M. Pier zum 100. Geburtstag, in: Erdöl u. Kohle – Erdgas – Petrochemie 35, 1982, 283-286 (mit Bild); Werner Lang, M. Pier, Ehrenbürger von Nackenheim, Nackenheimer Heimatkundl. Schriftr. H. 16, 1982 (mit Bild).
Suche
Durchschnitt (0 Stimmen)