Umfrid, Otto 

Geburtsdatum/-ort: 02.05.1857;  Nürtingen
Sterbedatum/-ort: 23.05.1920;  Winnenden
Beruf/Funktion:
  • Pfarrer, Pazifist
Kurzbiografie: 1867-1875 Gymnasium in Ulm und Tübingen
1875/76 Studium der evangelischen Theologie in Tübingen und Eintritt ins Evangelische Stift
1879 1. Theologische Dienstprüfung
1879-1882 Vikar und Pfarrverweser in Gschwend, Lorch und Groß-Deinbach
1882-1884 Repetent am Evangelischen Stift
1884 2. Theologische Dienstprüfung
1884-1891 Pfarrer in Peterszell-Römslinsdorf (Dekanat Sulz)
1890-1913 Pfarrer in Stuttgart an der Wander-Martins- und Erlöserkirche
1894 Eintritt in die Deutsche Friedensgesellschaft
1900 2. Vorsitzender der Deutschen Friedensgesellschaft
Weitere Angaben zur Person: Religion: ev.
Verheiratet: 1888 Julie, geb. Reischle (1862-1936)
Eltern: Vater: Otto Ludwig Umfrid (1822-1913), Rechtsanwalt in Nürtingen
Mutter: Franziska Henriette Mathilde, geb. Scholl (1834-1904)
Kinder: 3 Töchter
1 Sohn
GND-ID: GND/127857753

Biografie: Manfred Schmid (Autor)
Aus: Württembergische Biographien 1 (2006), 281-283

Umfrids Eltern stammten aus alten württembergischen Familien. So gehörten zu Umfrids Vorfahren die Reformatoren Johannes Brenz und Matthäus Alber, die „schwäbische Geistesmutter“ Regina Bardili und Michael Erhart, der Schöpfer des Blaubeurener Altars. Neben dieser genealogischen Verwurzelung im Württembergischen wurde für ihn auch das spezifisch schwäbische Geisteserbe wichtig. Besonders die Philosophie seines Landsmannes Karl Christian Planck (1819-1880) prägte ihn in entscheidender Weise von Jugend auf. Viele von seinen Ideen, die auf eine Welt ohne Krieg, auf eine durch Rechtlichkeit begründete allmenschliche Freiheit und Ordnung hinzielten, fanden Eingang in Umfrids Büchern und Aufsätzen. Sein Vater, Otto Ludwig Umfrid, Rechtsanwalt und Privatgelehrter, war Plancks erster Biograph gewesen; und Otto Umfrids letzte Veröffentlichung vor seinem Tod war eine populär-wissenschaftliche Darstellung der Philosophie Plancks, die 1917 unter dem Titel „Da die Zeit erfüllet ward ...“ erschien.
1894 war Otto Umfrid der Stuttgarter Ortsgruppe der zwei Jahre zuvor gegründeten Deutschen Friedensgesellschaft beigetreten, ohne zu ahnen, dass dieser Schritt für sein ganzes weiteres Leben entscheidend werden sollte. Umfrid machte in kürzester Zeit aus einer kleinen Ortsgruppe eine schlagkräftige Organisation. Durch seine zahlreichen Vortragsreisen gründete er fast 20 weitere Ortsgruppen im damaligen Württemberg. Bereits im Jahre 1900 war die Organisationsarbeit so weit gediehen, dass die Geschäftsstelle der Deutschen Friedensgesellschaft von Berlin nach Stuttgart verlegt wurde. Damals übernahm Umfrid auch das Amt des zweiten Vorsitzenden. Unermüdlich war er vor dem Ersten Weltkrieg für die Sache des Friedens aktiv. Neben seinen Vortragsreisen, die ihn öfters ins Ausland führten, war er auch publizistisch tätig. In rascher Folge erschienen aus seiner Feder ungefähr 600 Aufsätze, Polemiken und Rezensionen in Tageszeitungen und Zeitschriften (Mauch/Brenner). Besonders wichtige Arbeiten veröffentlichte er in der von Bertha von Suttner gegründeten Revue „Die Waffen nieder!“ Daneben war Umfrid auch noch der Verfasser von mehreren pazifistischen Büchern. Bald machte er sich einen Namen als „hervorragendster Theoretiker das Pazifismus“ nicht nur in Deutschland, sondern auch im Ausland und wurde 1914 sogar für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen. In seinen Anschauungen ging er stets davon aus, dass die Friedensbewegung eine doppelte Funktion hat, eine kritische und eine programmatisch-konstruktive. Kritisch müsste sie die Mythen über den Krieg entlarven, seine Ursachen aufdecken und sein Wesen erklären. Konstruktiv hätte sie zu zeigen, dass eine Welt ohne Krieg nicht nur ein Postulat der Moral und der Vernunft wäre, sondern dass der auf Verträge und Vertrauen gegründete Dauerfriede auch realisierbar und damit eine Forderung und Aufgabe praktischer Politik sei. Gemäß dieser doppelten Zielsetzung sah Umfrid seine Aufgabe unter anderem darin, die Legenden um Kaiser Wilhelm I., General Moltke und Bismarck, die nach 1890 im deutschen Bürgertum aufkamen, zu zerstören. Schon 1897 hatte er in einer Untersuchung über „Die Moral in der Politik“ die Maximen und Methoden Bismarcks scharf angegriffen. 1910 löste er mit seiner Parole „Los von Bismarck!“ in der nationalistischen Presse einen Sturm der Entrüstung aus.
Ebenso entschieden wie gegen den preußisch-deutschen Heroenkult wandte er sich gegen den verhängnisvollen Einfluss von Treitschkes Geschichtsphilosophie, die das damalige historische Bewusstsein stark beeinflusste. Die große Kampfschrift „Anti-Treitschke“ aus dem Jahre 1904 gehört zu den bedeutendsten Arbeiten Umfrids. In ihr beschränkte er sich nicht nur auf die Polemik gegen Treitschkes Theorien, die durch ihr nationales Pathos neue Kriege psychologisch vorbereiten würden, sondern er entwickelte zugleich auch im Zusammenhang alle positiven Forderungen des Pazifismus, die in dem Gedanken eines Systems kollektiver Sicherheit gipfelten. An die Stelle der Gewalt im internationalen Leben sollte das Recht treten, die zwischenstaatliche „Anarchie“ und damit der Krieg sollten durch die Ausbildung des Völkerrechts beseitigt werden. So unterschiedlich die Staaten in ihrer politischen und kulturellen Bedeutung sein mögen, vor dem Recht müssten sie alle gleich sein. Bereits vor 1914 trat er für den Gedanken eines Völkerbundes ein, um in Europa einen gesicherten Frieden zu erhalten.
Während Umfrid für eine radikale Interpretation des Christentums, für eine echte Nachfolge Jesu eintrat, wetteiferten viele Geistliche beider Konfessionen in der Verteidigung der bürgerlichen Ordnung und des inneren Friedens, predigten patriotische Gesinnung und warnten vor dem „Geist des Umsturzes“, den „Verlockungen des Materialismus, des Sozialismus und des Anarchismus“. Ein von Umfrid 1907 mitinitiiertes Rundschreiben an 1000 evangelische Pfarrer mit der Aufforderung, innerhalb der Friedensbewegung aktiv zu werden, stieß auf wenig Resonanz: nur etwa 10 Prozent traten der Friedensgesellschaft bei. Ein zweiter Aufruf anlässlich der Wehrvorlage im Jahre 1913 hatte einen ähnlichen Misserfolg zu verzeichnen, obwohl er in erster Linie ein Protest gegen die Aufrüstung war. Umfrid hatte von Anfang an Widerstände zu überwinden, Schmähungen und Spott zu ertragen, kurz, als Mitglied der Friedensgesellschaft und als protestantischer Geistlicher, zumal im Wilhelminischen Deutschland, war er von vornherein zum Außenseiter, zur Persona non grata abgestempelt. Von seiner vorgesetzten Behörde musste er zahlreiche Verwarnungen einstecken, und auch die überwiegende Mehrheit seiner Amtsbrüder stand seiner so genannten „agitatorischen Friedenshetze“ feindselig gegenüber. Bis 1914 hat die Deutsche Friedensgesellschaft in beiden christlichen Kirchen keine breitere Unterstützung gefunden. Als im August 1914 landauf, landab in Deutschland der Beginn des Krieges hymnisch gefeiert wurde, da gehörte Umfrid zu den wenigen, die sich von diesem nationalen Rausch nicht anstecken ließen. Während der Kriegsjahre fuhr er regelmäßig zu Konferenzen in neutrale Länder und war auch publizistisch weiterhin tätig. Allerdings mussten seine Analysen und Kommentare zu den Kriegsereignissen in der Schweiz veröffentlicht werden, da die Zensurstellen ein Erscheinen im Deutschen Reich verboten hatten. Seine 1915 in Zürich verlegte Aufsatzsammlung „Weltverbesserer und Weltverderber“ enthält viele Beobachtungen, Erkenntnisse und Reflexionen, die nachdenkenswert geblieben sind.
Als Otto Umfrid kurz nach Beendigung des Ersten Weltkrieges starb, war er schon so gut wie vergessen. Sein Andenken wurde vor allem in seiner Heimat verdrängt und verschwiegen, nicht zuletzt auch bei der damaligen Evangelischen Landeskirche. Aber dennoch bleibt seine Leistung bestehen, verdient er eine historische Würdigung: Er war einer der wenigen Geistlichen im Wilhelminischen Deutschland, die im urchristlichen Sinne für den „Frieden auf Erden“ eintraten, dafür kämpften in Wort und Schrift. Davon konnten ihn auch zahllose Schmähungen nicht abhalten. Von seinen so genannten Amtsbrüdern als „Friedenshetzer“ an den Pranger gestellt, gehörte er zu den am meisten angegriffenen Pazifisten in Deutschland. Obwohl die Friedensbewegung damals vor dem Ersten Weltkrieg eine Minderheit repräsentierte, darf man auch nicht übersehen, dass sie von Anfang an von den konservativen Führungsschichten als gefährliche Herausforderung angesehen und erbittert bekämpft wurde. Es ist die Tragik von seinem Lebenswerk, dass es zu seinen Lebzeiten scheitern musste, dass es nicht auf fruchtbaren Boden fallen konnte. Umfrids Bücher und Aufsätze enthalten viele Beobachtungen, Erkenntnisse und Reflexionen, die auch heute noch nachdenkenswert geblieben sind. Wenn man auch nicht mehr jeden Satz dieser Schriften unterschreiben kann, so bleibt doch anzuerkennen, dass sie alle von einem bis heute noch nicht verwirklichten Menschheitsideal durchdrungen sind; nämlich einer Welt in Frieden, einer Welt ohne Krieg.
Werke: (Auswahl; ein vollständiges Werkverzeichnis der Schriften und Aufsätze O. Umfrids liegt noch nicht vor) Arbeiter-Evangelium. Drei Vorträge an die Arbeiter, 1893 (erschienen unter dem Pseudonym Karl Eris); Christentum und Krieg, in: Kirchlicher Anzeiger für Württemberg, 16.7.1896, 253 f. und 23.7.1896, 261 f.; Wann wird der Frankfurter Frieden ein wahrer Frieden werden?, in: Die Waffen nieder! 5 (1896), 318-324; Im Arsenal zu Venedig, in: ebda. 6 (1897), 93 f.; Der Strom des Friedens, in: ebda. 6 (1897), 322 f.; Friede auf Erden. Betrachtungen über den Völkerfrieden, 1898; Der Krieg auf der Anklagebank, 1898; Die Grenzen des Schiedsgerichtsgedankens, in: Die Waffen nieder! 7 (1898), 339-344; Die Aussichten der Friedensbewegung, in: ebda. 8 (1899), 425-428; Recht, Gewalt und Zukunftskrieg, 1900; Der Zukunftskrieg, 1902; Anti-Treitschke, 1904; Bismarcks Gedanken und Erinnerungen im Lichte der Friedensbewegung und Anderes. Zur Kritik nationalsozialer Afterpolitik, 1905; Die Formel der Abrüstung mit besonderer Berücksichtigung des englischen Abrüstungsvorschlags, 1906; Thesen über Kirche und Friedensbewegung, in: Kirchlicher Anzeiger für Württemberg, 26.12.1907, 414; Urchristentum und Friedensbewegung, in: ebda., 30.1.1908, 37-39; Anti-Stängel, 1909; Vaterlandsliebe und Menschheitsliebe, 1910; Los von Bismarck!, in: Die Friedenswarte 12, 2 (1910), 23 ff.; Zur Einführung in die Friedensbewegung, in: Das Akademische Leben. Wochenschrift für die Studierenden der Univ. Tübingen 1, Nr. 7 (1910), 49 f.; Rüstungsstillstand, 1911; Meine Erlebnisse in der Friedensbewegung, in: Ethische Rundschau 1 (1912), 144-146; Europa den Europäern, 1913; Mobilmachung der Kirchen gegen den Krieg, in: Die Friedenswarte 15, 6 (1913), 208-211; Der Wehrverein, eine Gefahr für das deutsche Volk. Polemisches und Irenisches, 1914; Pessimismus und Optimismus in der Friedensbewegung, in: Völkerfriede, H. 6, Juni 1914, 63 f.; Aus dem europäischen Hexenkessel, in: Der Beobachter vom 15.7.1914; Ein Denkmal für die Gefallenen, in: Völkerfriede, H. 10, Oktober 1914, 111 f.; Gegen den Luftkrieg, in: Internationale Rundschau, 1 (1915), 360; Wintersonnenwende, in: Neue Wege. Blätter für religiöse Arbeit 9 (1915), 306-311; Der Kampf gegen die Wehrlosen, in: Der Beobachter vom 26.10.1915; Weltverbesserer und Weltverderber. Eine Sammlung von Kriegsaufsätzen. 1916; Der Zöllner und Sünder Geselle, in: Neue Wege. Blätter für religiöse Arbeit 10 (1916), 154-159; Die Lösung der sozialen Frage, in: ebda. 10 (1916), 191-198; Da die Zeit erfüllet ward. Wandlungen deutschen Denkens und Wollens, dargestellt nach der K. Chr. Planckschen Philosophie, 1917; Die moralische Wirkung der Annexionen, in: Völkerfriede, H. 4, Mai 1917, 2 ff.
Nachweis: Bildnachweise: bei Manfred Schmid, 1984 (vgl. Lit.).

Literatur: Mathilde Planck, O. Umfrid, in: Die Friedenswarte, 1920, 106-108; Reinhold Planck, O. Umfrid. Ein Nachruf, in: Die Menschheit, 7, Nr. 46, 1920; Grete Umfrid, Zum Gedächtnis von O. Umfrid. Mit einem Geleitwort von Walter Schücking, 1921; Hans Wehberg, Die Führer der deutschen Friedensbewegung, 1923, 41 ff.; Walter Bredendiek, Die Friedensappelle deutscher Theologen von 1907/08 und 1913, in: ders., Irrwege und Warnlichter. Anmerkungen zur Kirchengeschichte der neueren Zeit, 1966, 40-60; Roger Chickering, Imperial Germany and a World Without War. The Peace Movement and German Society 1892-1914, 1974; Brigitte Wiegand, Krieg und Frieden im Spiegel führender protestantischer Presseorgane Deutschlands und der Schweiz in den Jahren 1890-1914, 1976; Friedrich Karl Scheer, Die Deutsche Friedensgesellschaft (1892-1933). Organisation, Ideologie, politische Ziele. Ein Beitrag zur Geschichte des Pazifismus in Deutschland, 2. Aufl. 1983; Helmut Donat/Karl Holl (Hg.), Die Friedensbewegung. Organisierter Pazifismus in Deutschland, Österreich und der Schweiz, 1983, 392-394; Manfred Schmid, O. Umfrid – ein vergessener Vorkämpfer für eine Welt ohne Krieg, in: Schwäbische Heimat 35, 4 (1984), 320-322; Dieter Riesenberger, Geschichte der Friedensbewegung in Deutschland. Von den Anfängen bis 1933, 1985; Manfred Schmid, Hermann Umfrid. – Kämpfer für Menschenrecht und Menschenwürde, in: Schwäbische Heimat 37, 1 (1986), 4-11; Christof Mauch/Tobias Brenner, Für eine Welt ohne Krieg. O. Umfrid und die Anfänge der Friedensbewegung, 1987 (mit Auswahlbibliographie); Manfred Schmid, Pazifistische Strömungen in Württemberg und Stuttgart zwischen Kaiserreich und Drittem Reich, in: ZWLG 49 (1990), 321-342.
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