Senn, Wilhelm Michael Johannes Josef Maria 

Geburtsdatum/-ort: 15.10.1878;  Hemsbach/Bergstr.
Sterbedatum/-ort: 23.01.1940;  Sickingen, dort beigesetzt
Beruf/Funktion:
  • Geistlicher, Schriftsteller, NS-Propagandist
Kurzbiografie: 1885-1889 Volksschule Hemsbach
1889-1896 Gymnasium Bensheim bis Primareife
1896-1899 Vorbereitung, dann Übernahme in den badischen Finanzdienst
1899-1901 Gymnasium Tauberbischofsheim bis Abitur
1901-1905 Studium der katholischen Theologie in Freiburg, Priesterweihe 5. 7. 1905
1905-1917 Vikar in Walldürn, Mannheim, Handschuhsheim, dort 1911 Pfarrverweser
1917-1930 Pfarrer in Flehingen
1930-1940 Pfarrer in Sickingen
Weitere Angaben zur Person: Religion: rk.
Verheiratet: Unverheiratet
Eltern: Vater: Theodor (geb. ca. 1846, gest. nach 1916), Tabakfabrikant
Mutter: Laura, geb. Seeber (gest. nach 1916)
Geschwister: 3 Schwestern
GND-ID: GND/129961701

Biografie: Clemens Siebler (Autor)
Aus: Badische Biographien NF 5 (2005), 260-261

Senn, dessen Wirken als Seelsorger hauptsächlich auf den ländlichen Raum des Kraichgaus beschränkt blieb, verdankt seinen überregionalen Bekanntheitsgrad ausschließlich dem Umstand, dass er sich in der Spätphase der Weimarer Republik nachhaltig für die politisch-ideologischen Zielsetzungen des Nationalsozialismus stark gemacht hat. In aller Öffentlichkeit hat er damals Positionen bezogen, die im katholischen Klerus jener Jahre kaum ihresgleichen fanden. Wenn auch nur für eine kurze Zeit zog Senn in jenem schicksalhaften Augenblick der deutschen Geschichte die Aufmerksamkeit breiter Bevölkerungsschichten auf sich; denn seine politischen Thesen, von der NS-Presse mit viel Beifall bedacht, lösten nicht nur heftige Proteste in der Zentrumspartei, sondern auch bei vielen seiner geistlichen Mitbrüder aus.
Sucht man nach plausiblen Erklärungen für das gänzlich atypische Verhalten dieses katholischen Priesters, so können seine charakterlichen Anlagen, besonders sein starker Hang zur Eigenwilligkeit und seine seelische Unausgeglichenheit nicht außer Acht gelassen werden. Immer wieder neigte er dazu, Konflikte aufzubauen, in den Pfarr- und politischen Gemeinden nicht weniger als im Klerus. Mangelndes Fingerspitzengefühl bewies Senn, obwohl selbst Mitglied des Zentrums, durch seine öffentliche Parteinahme für Heinrich Mohr, als dieser den Lesern des von ihm redigierten St. Liobablattes schon 1920 die Wahl der DNVP empfahl. Erschwerend dabei war, dass sich Senn des sozialdemokratischen Organs „Volkswacht“ bediente, um seine Angriffe gegen die Zentrumspartei zu führen. Von innerer Unruhe getrieben, dachte er zeitweilig daran, aus dem Diözesanklerus auszuscheiden und in München einer schriftstellerischen, möglicherweise auch wissenschaftlichen Tätigkeit nachzugehen; doch wurde er hierfür von der Kirchenbehörde nicht freigestellt. Senn, der sich auch als Theaterautor versuchte, fand in der katholisch-konservativen Wiener Zeitschrift „Schönere Zukunft“ eine geeignete Plattform, um seine Ansichten über den vermeintlichen sittlichen und religiösen Verfall der Theaterkultur der 1920er Jahre zu artikulieren, und diese trugen bisweilen auffallende Züge der unerbittlichen Intransigenz eines religiösen Eiferers. Dem Geist dieser Zeitschrift entsprach es, dass er auch einige judenfeindliche Artikel publizieren konnte.
Ein untrügliches Bekenntnis zur NS-Ideologie legte Senn in zwei politischen Kampfschriften aus den Jahren 1931/32 ab. Nicht nur, dass er in der Bewegung Hitlers „das Walten der göttlichen Vorsehung“ zu erkennen glaubte; mit ungewöhnlicher Schärfe attackierte er die Repräsentanten des politischen Katholizismus, ja verstieg sich dazu, das Zentrum der Komplizenschaft mit Freimaurerei und Judentum zu bezichtigen, und vor allem mit Blick auf den Bolschewismus forderte er ein enges Kampfbündnis nicht nur der Katholiken, sondern aller Christen mit dem Nationalsozialismus. Bereits im September 1931 schloss ihn daher die Bruchsaler Ortsgruppe des Zentrums aus ihren Reihen aus. In gänzlicher Überschätzung der eigenen Einwirkungsmöglichkeiten gab Senn seinen beiden Schriften den prätentiösen Untertitel „Rede an den deutschen Katholizismus“ und erhoffte sich von seinem Aufklärungsfeldzug einen grundlegenden Gesinnungswandel sowohl im Zentrum als auch in der katholischen Kirche. Für seinen mangelnden Realitätssinn spricht auch, dass er angesichts des radikalen Programms der Nationalsozialisten fest daran glaubte, ihre politische Stoßkraft mit Hilfe erzieherischer Maßnahmen in das Christentum integrieren zu können.
Seine im Innersten undemokratische und im Hinblick auf die unteilbare Würde des Menschen defizitäre Gesinnung bekundete Senn durch eine fragwürdige und zutiefst verletzende Diskreditierung des Frauenwahlrechts. Vor allem aber erging er sich in schlimmen Angriffen gegenüber den Juden. Auch wenn er nicht die von Hitler propagierte rassisch-biologische Ideologie übernahm, so war sein in erschreckender Weise auf religiöse, kulturelle und wirtschaftliche Diskriminierung fixierter Antisemitismus nicht weniger gehässig und menschenverachtend. In zahlreichen politischen Versammlungen, auch außerhalb Badens, trat Senn als Redner auf, und er konnte sich der gewünschten publizistischen Breitenwirkung seiner Auftritte dank der NS-Presse sicher sein, die sich dieses kirchlichen Außenseiters für ihre Propaganda hemmungslos bediente. Er selbst verteidigte seine Schriften und Reden mehrfach in Zeitungsartikeln und Leserbriefen. Dabei aber wurde sichtbar, dass ihm nicht nur jeglicher politischer Weitblick, sondern auch die gebotene kritische Selbsteinschätzung abging: nicht nur, dass er guten Glaubens war, mit dem Nationalsozialismus einer Bewegung zum Besseren zu dienen; noch mehr schien ihn zu betören, über Nacht von einer Erfolgswelle getragen zu werden, ein Gefühl, das ihm bisher gänzlich versagt geblieben war. Senn, der ohne ausdrückliche Autorisierung der Kirchenbehörde publizierte und referierte, wurde 1931/32 zweimal von seinen seelsorgerlichen Aufgaben suspendiert. Einen erneuten Antrag auf zeitweilige Beurlaubung stellte er im Jahre 1934, wobei er vornehmlich gesundheitliche Gründe ins Feld führte, gleichzeitig aber auch erkennen ließ, sich verstärkt schriftstellerisch betätigen zu wollen. Doch schon zwei Jahre später kehrte er wieder auf seine Pfarrstelle zurück. Von seinen Zeitgenossen kaum noch zur Kenntnis genommen, starb er wenige Jahre später.
Quellen: EAF Personalakte W. Senn.
Werke: „O Theater!” Einige Gedanken über das Theater, in: Schönere Zukunft, 1. Jg., Nr. 21/22, 1926, 533-535; 555-557. (Zur Autorschaft Senns vgl. Schönere Zukunft, 2. Jg., Nr. 49, 1927, 1054 f.); „Jupp Brand” oder Katholiken u. Bühnenvolksbund. Ein ernstes Wort zu einer ernsten Frage. – Zugleich ein Beitrag zum Thema: Kath. Literaturkrise, in: Schönere Zukunft, 2. Jg., Nr. 49/50, 1927, 1054-1057; 1076-1079; Notwendige Neuorientierung in d. Literaturfrage. Zum Thema: Katholiken u. Bühnenvolksbund, in: Schönere Zukunft, 2. Jg., Nr. 51, 1927, 1098-1100; Der Kulturkampf von heute u. morgen. Das Komplott des Schweigens in d. Judenfrage, in: Schönere Zukunft, 3. Jg., Nr. 51/52, 1928, 1093-1095; 1110-1112); Christen kauft bei Christen! Gegen das Umsichgreifen des jüdischen Warenhauswesens, in: Schönere Zukunft, 4. Jg., Nr. 10, 1928, 197-199; Katholizismus u. Nationalsozialismus. Eine Rede an den dt. Katholizismus, 2 Auflagen, 1931; Halt! Katholizismus u. Nationalsozialismus. Meine 2. Rede an den dt. Katholizismus u. – nach Rom, 1932; Saul. Eine Tragödie d. Untreue, (unveröffentlicht, 1932); Ein Drama aus großer christl. Vergangenheit: Der Sohn des Renegaten, (unveröffentlicht, 1932), beide zit. in: Vom Bodensee zum Main, Nr.47, 1939, 202.
Nachweis: Bildnachweise: in: Konradsblatt, 24. Jg., Nr. 5, 24 (vgl. Lit.).

Literatur: Pfarrer Senn u. das Zentrum. Sein Bekenntnis zum Nationalsozialismus, hg. u. erg. v. K. Brombacher, 1932; Kirche u. Nationalsozialismus, in Ecclesiastica. A für zeitgenöss. Kirchengeschichte, 13. Jg., Nr. 6, 1933, 59 ff.; Pfarrer W. Senn †, in: Konradsblatt, 24. Jg., Nr. 5, 1940, 24; E. Krebs u. F. Vetter, W. Senn, in: Necrologium Friburgense 1940, FDA 68, NF Bd. 41, 1941, 51; K. Scholder, Die Kirchen u. das Dritte Reich, Bd. 1, 1977, 170 u. 776; E. Matthias – R. Morsey (Hgg.), Das Ende d. Parteien 1933. Darstellungen u. Dokumente, 1979, 298, Anm. 44; Th. Schnabel (Hg.), Die Machtergreifung in Südwestdeutschland. Das Ende d. Weimarer Republik in Baden u. Württemberg 1928-1933, 1982; R. Bäumer, Die „Arbeitsgemeinschaft kath. Deutscher“ im Erzbistum Freiburg. Der Versuch eines „Brückenschlags“ zum Nationalsozialismus, in: FDA 104, 3. Folge, Bd. 36, 1984, 281-313; B. Schwalbach, Erzbischof Conrad Gröber u. die nationalsozialistische Diktatur, 1985, 32; G. May, Kirchenkampf oder Katholikenverfolgung?, 1991, 309, R. Weis, Würden u. Bürden. Kath. Kirche im Nationalsozialismus, 1994, 35-38.
Suche
Durchschnitt (0 Stimmen)