Zwischen Vertreibung und Neubeginn

Aus dem Elsass vertriebene Deutsche nach dem Ersten Weltkrieg

Richtlinien für die Fürsorge der aus Elsaß-Lothringen Vertriebenen im Deutschen Reich, 1919. Vorlage: Landesarchiv StAS Wü 65/41 T 1-2 Nr. 383
Richtlinien für die Fürsorge der aus Elsaß-Lothringen Vertriebenen im Deutschen Reich, 1919. Vorlage: Landesarchiv StAS Wü 65/41 T 1-2 Nr. 383

Am 6. Februar 1919 brach für Franz Ruff eine Welt zusammen. Der aus Grosselfingen in Hohenzollern stammende Lehrer hatte über 25 Jahre lang im Elsass gelebt und gearbeitet, doch das war vorbei. Er wurde vertrieben, während seine Frau und die drei Kinder vorerst noch bleiben konnten.

Als Elsass-Lothringen nach dem Ersten Weltkrieg wieder französisch wurde, wollte Frankreich die noch von ihrer Zeit als deutsches Reichsland sowie von sozialen und ökonomischen Problemen geprägte Region schnellstmöglich französisieren. In dieser schwierigen Lage entstanden Commissions de triage genannte Selektionsausschüsse und inoffizielle Säuberungskomitees, die feindliche Ausländer und Alt-Deutsche aufspürten und vertrieben. Die französische Regierung stoppte die Vertreibungen nicht, organisierte sie jedoch um und führte Kontrollen und Einschränkungen ein. Zudem waren Denunziationen weit verbreitet. Von großer Bedeutung für Bleiberecht oder Vertreibung war der Personalausweis, den es je nach Abstammung in vier Versionen gab.

Insgesamt wurden von November 1918 bis September 1920 weit über 100.000 Menschen aus dem Elsass vertrieben. Sie wurden in Lastwagen und Sonderzügen zur Grenze transportiert und verloren oft einen Großteil ihres Besitzes, denn pro Person waren nur 30–40 kg Gepäck erlaubt. Jenseits der Grenze griffen die Richtlinien für die Versorgung der aus Elsaß-Lothringen Vertriebenen im Deutschen Reich. Danach kamen die Betroffenen zunächst in Übernahmestellen in Baden und der Pfalz unter. Vertriebene, welche ein festes Reiseziel haben, werden diesem zugeleitet. […] Die ziellosen Vertriebenen werden den Landesübernahmestellen und Zweigstellen weitergegeben. Die Fürsorge umfasste warmherzige Behandlung, Sachleistungen und finanzielle Unterstützung. Durch Fürsorgeausschüsse, den Hilfsbund für die Elsaß-Lothringer im Reich sowie andere Interessenverbände bekamen die Vertriebenen Mitspracherechte. Die wichtigste Aufgabe der Fürsorge ist – so die Richtlinien – die Arbeitsvermittlung. Der Vertriebene hat einen Anspruch, baldmöglichst aus der Fürsorge heraus in dauernd gesicherte Verhältnisse zu gelangen.

Am 17. Februar 1919 bewarb sich Franz Ruff für den Schuldienst in Sigmaringen und bekam, obwohl katholisch, vorübergehend Arbeit als Vertretungslehrer an der evangelischen Volksschule Hechingen. Am 17. September 1919 kam er zur Behandlung nervöser Beschwerden in die Universitätsklinik für Gemüts- und Nervenkrankheiten in Tübingen. Drei Wochen darauf teilte er der preußischen Regierung in Sigmaringen mit, daß ich […] die bisher wahrgenommene Stellvertretung an der ev. Volksschule in Hechingen nach meiner Wiedergenesung nicht wieder zu übernehmen wünsche, da ich alsdann meine ganze Zeit und Kraft zur endlichen Erlangung einer Lebensstellung einsetzen muß, weil es mir nicht länger möglich ist, Frau und Kinder im Elsaß zu halten und die Vergütung unzureichend gewesen sei. Ruffs Stelle wurde an einen jüngeren Lehrer vergeben.

Nadja Diemunsch

Quelle: Archivnachrichten 56 (2018), S. 50.

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