Luthers Schriften flogen über die Klostermauer. Zur Verbreitung reformatorischer Bücher im altgläubigen Württemberg

Das Kloster Reutin auf der Flurkarte des Königreichs Württemberg, 1836 – Quelle LABW
Das Kloster Reutin auf der Flurkarte des Königreichs Württemberg, 1836 – Quelle LABW

 

Die theologischen Vorstellungen Luthers und die anderer Reformatoren wurden über Flugschriften, Briefe und Predigttexte rasch und breit vermittelt. Die Reformation war auch ein Medienereignis, setzte gar eine Medienrevolution in Gang. Allein die Auflage von Luthers deutscher Bibelübersetzung schätzt man auf über eine halbe Million Exemplare. Mit dem Edikt von Worms 1521 wurden Luthers Schriften verboten, Besitz und Verbreitung reformatorischer Schriften unter Strafe gestellt. Gerade die habsburgische, katholische Statthalterregierung in Württemberg verfolgte Vergehen gegen dieses Verbot mit rigoroser Härte. Anhand des Quellenbestands der Urfehden im Hauptstaatsarchiv Stuttgart (Landesarchiv HStAS A 44) lässt sich dieses Vorgehen beobachten. Rund ein Dutzend Urfehden thematisieren Besitz und Verbreitung lutherischer Bücher. Ein Beispiel aus dem Dominikanerinnenkloster Reutin bei Wildberg sei hier vorgestellt.

1526 kamen Johann und Hieronymus Vetter aus Stuttgart und Jakob Lotzer aus Horb in Wildberg ins Gefängnis. Sie hatten den Klosterfrauen zu Reutin etliche lutherische Büchlein betreffend die Gelübde der Geistlichen über die Klostermauer hinübergeworfen, so heißt es im betreffenden Regest der Urfehde vom 28. Oktober 1526. Mit der Urfehde schworen die drei Delinquenten, sich in Zukunft nicht mehr an reformatorischen Umtrieben zu beteiligen. Gegenüber der habsburgischen Herrschaft verzichteten sie auf Forderungen wegen ihrer Haft. Es lohnt sich, auf den Wortlaut der Urfehde zu achten: ettlich quattern von einem luterischen büchlin vonn gelüpten der gaistlichen hatten die Drei über die Klostermauer geworfen. Nicht verschiedene lutherische Schriften, sondern offensichtlich mehrere Exemplare von Luthers Schrift De votis monasticis [...] iudicium, die 1521 gedruckt, rasch mehrere Auflagen fand und auch in deutschen Übersetzungen weit verbreitet wurde. Luthers Werk über Wirkung und Gültigkeit monastischer Gelübde entwickelte ungeheuren Einfluss auf das klösterliche Leben der Zeit. Auch im Kloster Reutin hätte Luthers Schrift den monastischen Zusammenhalt gefährden können. Grund genug für die habsburgische Obrigkeit, um gegen die Verteiler der Hefte vorzugehen.

Zumindest einer der drei Bücherverteiler war kein Unbekannter. Jakob Lotzer aus Horb stammte aus einer reformationsaffinen Familie. Sein älterer Bruder Sebastian Lotzer gilt als Ideengeber im Bauernkrieg, bei der Formulierung der Memminger Zwölf Artikel spielte er eine zentrale Rolle. Ein weiterer Bruder, Johann, wurde 1512 an der Universität Tübingen examiniert, wirkte danach als Leibarzt in Straßburg und Heidelberg und pflegte Beziehungen zu humanistischen Kreisen. Auch Jakob selbst wurde 1518 an der Universität Tübingen eingeschrieben und engagierte sich 1526 für die reformatorischen Ideen – wie wir sehen – ganz praktisch als Verteiler von Büchern. Nicht ganz sicher ist die familiäre Verortung von Johannes und Hieronymus Vetter aus Stuttgart. Zumindest Hieronymus wird einige Jahre später noch einmal aktenkundig. Im Dezember 1536 schwört er erneut Urfehde, weil er in Stuttgart wieder ins Gefängnis kam (vmb verschult sachen), nach Fürsprache seiner Eltern aber freigelassen wurde. Die Flugschriften im Wortsinn entfachten im Kloster Reutin offenbar keine große Resonanz. Eine unmittelbare Wirkung ist nicht zu belegen – im Gegenteil: Die Einführung der Reformation ging nur schleppend voran, 1535 sperrten sich die Nonnen in Reutin, das evangelische Bekenntnis anzunehmen und bis 1575 zog sich der Auflösungsprozess des Konvents hin.

 Erwin Frauenknecht

Quelle: Archivnachrichten 54 (2017), S.9.

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