Von der Revolution zur Reichsgründung

Friedrich Römer (1794-1864) (HStAS J 300 Nr. 612)
Friedrich Römer (1794-1864) (HStAS J 300 Nr. 612)

In Württemberg konnte die deutsche Revolution, bewusst und unbewusst, stärker als anderswo auf alte politisch-freiheitliche Traditionen zurückgreifen. Unter dem Druck stürmischer Versammlungen, Demonstrationen und politischer Adressen ernannte König Wilhelm am 9. März 1848 ein liberales Ministerium unter Führung Römers („Märzministerium") aus Mitgliedern der bisherigen Opposition, das erste parlamentarische Ministerium Württembergs. Damit war fürs erste die Gefahr revolutionärer Erhebungen gebannt, nur im fränkischen Unterland kam es zu örtlichen Bauernunruhen gegen den grundherrlichen Adel. Der Landtag wurde aufgelöst und im Mai neu gewählt, kurz nach den Wahlen zum Frankfurter Parlament. In die Paulskirche entsandte Württemberg 28 Abgeordnete, darunter Römer, Pfizer, Uhland, Schott, Moriz Mohl, Gustav Rümelin und Friedrich Theodor Vischer; sie hielten sich dort meist zur Linken. Um den erwarteten gesamtdeutschen Entscheidungen der Nationalversammlung nicht vorzugreifen, berief das Märzministerium die neue Kammer erst im September ein. In der Zwischenzeit vollzog sich, später als in Baden, die Neugruppierung der Parteien. Unter dem vormärzlichen System war in Württemberg die parlamentarische Opposition, von Römer straff geführt, in sich wenig differenziert gewesen. Von den konstitutionell-monarchisch gesinnten Liberalen des Märzministeriums begann sich die radikalere Demokratie erst im Juli 1848 loszulösen. Aus den Ende März gegründeten Vaterländischen Vereinen traten die Demokraten aus und gründeten Volksvereine mit einem Landesausschuss an der Spitze; in ihnen war das kleinbürgerliche Element stärker vertreten. Links von den Volksvereinen entstanden die ersten Arbeitervereine mit sozialistischen Tendenzen. In Stuttgart bildete sich ein republikanischer Klub unter der Führung von Johannes Scherr und Friedrich Rödinger, in Heilbronn kam es im Juni zu einer nicht ungefährlichen Meuterei des 8. Infanterieregiments.

Als die Kammer im September zusammentrat, organisierten sich dort die politischen Richtungen nach dem Frankfurter Vorbild in Klubs. Obwohl die bekanntesten Politiker in der Paulskirche saßen, verfügte auch der Landtag über eine Reihe namhafter Abgeordneter, voran den Tübinger Professor August Ludwig Reyscher und den Schriftsteller Wolfgang Menzel als Führer der monarchisch-konstitutionellen Gruppe, den Kulturhistoriker Johannes Scherr als Sprecher der radikalen Linken. Die Landtagsverhandlungen standen freilich im Schatten der Paulskirche, weil dort die grundlegenden Entscheidungen fallen mussten. Unter starkem Druck des Ministeriums Römer stimmte der König widerstrebend der Anerkennung der in Frankfurt verkündeten Grundrechte des deutschen Volkes zu; am 17. Januar 1849 traten sie in Württemberg als erstem Einzelstaat in Kraft. Schwieriger noch war es, dem Monarchen die Anerkennung der Frankfurter Reichsverfassung vom 28. März 1849 abzuringen. Um einem Volksaufstand vorzubeugen, erkannte König Wilhelm - als einziger der größeren Fürsten - am 25. April die Reichsverfassung an.
In eine kritische Lage geriet das Märzministerium, als das Frankfurter Rumpfparlament Anfang Juni seinen Sitz nach Stuttgart verlegte. Die vom Rumpfparlament am 6. Juni eingesetzte Reichsregentschaft und deren revolutionäre Beschlüsse wurden vom Ministerium Römer und vom Landtag nicht anerkannt. Als Preußen Truppenhilfe gegen die aufrührerische Versammlung anbot, musste Römer rasch handeln. Da das Rumpfparlament seiner Aufforderung, Württemberg zu verlassen, nicht nachkam, ließ er es am 18. Juni kurzerhand durch württembergisches Militär sprengen. Sein entschlossenes Vorgehen beendete in Württemberg die eigentlich revolutionären Ereignisse und bewahrte es vor den tragischen Geschicken Badens; einzelne örtliche Aufstände wurden leicht unterdrückt.

Württembergisches Militär im Einsatz gegen das Rumpfparlament, 1849 (HStAS J 302 Nr. 5)
Württembergisches Militär im Einsatz gegen das Rumpfparlament, 1849 (HStAS J 302 Nr. 5)

Die auf Grund der Reichsverfassung erforderliche Revision der Landesverfassung von 1819 wurde durch Gesetz vom 1. Juli 1849 einer Verfassung beratenden Landesversammlung übertragen. Als reine Volkskammer nach einem verhältnismäßig demokratischen Wahlrecht gewählt, wies sie eine Zweidrittelmehrheit der neugegründeten „Volkspartei" gegenüber der ebenfalls neu gebildeten „Konstitutionellen Volkspartei" der gemäßigt Liberalen auf. Auch in Württemberg erfüllte sich das typische Schicksal der mittel- und kleinstaatlichen Märzministerien und der sie tragenden liberalen Honoratiorenkreise: ihr politischer Sieg verschaffte den viel breiteren und radikaleren kleinbürgerlichen Schichten das Übergewicht. Das Märzministerium hatte die parlamentarische Mehrheit verloren. Zu seinem Sturz kam es aber erst durch die deutsche Frage. Römer selbst, von tief eingewurzeltem Misstrauen gegen das politische System Preußens erfüllt, war bereit, dem Verlangen des Königs auf Ablehnung der preußischen Union zu entsprechen. Seine liberalen Ministerkollegen verweigerten dies und traten zurück; am 28. Oktober wurde auch Römer entlassen. Es folgte das bürokratische »Oktoberministerium« unter Führung des im Vormärz bewährten Schlayer.
Um die Reform der Landesverfassung mühten sich 1849-50 nacheinander drei Landesversammlungen vergeblich. Die demokratische Mehrheit hielt gegenüber der Regierung an der Frankfurter Reichsverfassung mit der gleichen Zähigkeit fest wie einst die Stände am „alten Recht". Alle drei Versammlungen wurden aufgelöst. Das im Juli 1850 berufene Ministerium des Freiherrn Josef von Linden („Juliministerium") lenkte in reaktionäre Bahnen ein. 1851 wurde der Landtag nach dem vorrevolutionären Klassenwahlrecht neu gewählt, 1852 die Verfassung von 1819 wiederhergestellt. Es folgte der planmäßige Abbau aller Märzerrungenschaften, das Verbot der politischen Vereine, die Unterdrückung der Presse, die Maßregelung politisch belasteter Beamter und Geistlicher, eine Prozesslawine gegen Führer und Mitläufer der revolutionären Bewegung. Wenn damals die Auswanderung, vornehmlich nach Amerika, Rekordziffern erreichte wie niemals zuvor oder später, so war dies nicht allein eine Folge der Wirtschaftskrise der fünfziger Jahre, sondern auch der politischen Reaktion.

Der Auswanderer Johann Jakob Beck in Uniform, 1864 (HStAS J 300 Nr. 663)
Der Auswanderer Johann Jakob Beck in Uniform, 1864 (HStAS J 300 Nr. 663)

Gleichwohl hinterließen die Revolutionsjahre dauernde Ergebnisse. Es blieb die Entlastung des Bauernstandes, es blieben die Schwurgerichte und trotz allem Druck von oben die seit 1848 ausgebildeten Formen parteipolitischen Lebens, es blieb auch die Demokratisierung des gesellschaftlichen Bewusstseins. In der Kammer der Reaktionszeit fiel die Schlüsselstellung der von Römer geführten starken »Mittelpartei« der früheren Konstitutionellen zu, da sie allein Bewegungsfreiheit gegenüber den beiden schwächeren Flügelparteien der Demokraten und der Konservativen besaß. Römer war 1851-1863 auch Präsident der Kammer. Die Innenpolitik wurde in diesem Jahrzehnt vor allem von zwei Fragen beherrscht. Die erste betraf das Verhältnis zwischen Staat und katholischer Kirche. König Wilhelm gab dem wachsenden Widerstand gegen das Staatskirchentum nach und schloss 1857 ein Konkordat mit der Kurie ab. Anfangs wenig angefochten, geriet das Konkordat erst ins parlamentarische Kreuzfeuer, als 1860 das badische Konkordat unter dem Druck der Liberalen gefallen war. 1861 wurde auch das württembergische Konkordat von der zweiten Kammer verworfen; Gustav Rümelin, der für das Konkordat verantwortliche Departementschef des Kirchen- und Schulwesens, musste zurücktreten. Die Regierung ließ das Konkordat fallen, legte aber einen Gesetzentwurf vor, der inhaltlich dem Konkordat entsprach. Diesem Gesetz stimmten die Kammern 1862 zu. Eine zentrale Frage des öffentlichen Lebens fand damit eine Lösung, die mehr als ein halbes Jahrhundert überdauert und dem württembergischen Volk die inneren Kämpfe anderer Länder erspart hat.

Länger und tiefer noch wurde das Land bewegt, als Minister Linden den Forderungen des Adels auf eine Nachtragsentschädigung für die 1848/49 abgelösten Feudallasten entsprach und 1854 einen darauf abzielenden Gesetzentwurf vorlegte. Als die Kammer widerstrebte, wurde sie 1855 aufgelöst. Da die Standesherren beim Deutschen Bund Unterstützung fanden, legte die Regierung dem neuen Landtag abermals Vorschläge für die Entschädigung vor, die wiederum der Ablehnung verfielen. Die das Landvolk tief erregende Frage verschwand erst 1865 von der Tagesordnung, als der Adel gegen die finanziell günstige Ablösung seiner „Komplexlasten" (Leistungen der adligen Gutskomplexe für Kirche, Schule, Arme) auf seine Nachforderungen verzichtete.

Das erste Stuttgarter Bahnhofsgebäude (HStAS J 301 a Nr. 22)
Das erste Stuttgarter Bahnhofsgebäude (HStAS J 301 a Nr. 22)

Noch immer war Württemberg ein vorwiegend agrarisches Land, aber die Industrialisierung schritt nun rasch voran; dank Ferdinand von Steinbeis wurde das rohstoffarme, technisch rückständige und verkehrsungünstig gelegene Württemberg zum eigentlichen Lande der staatlichen Gewerbeförderung.
Die mit dem italienischen Krieg von 1859 wiederauflebende deutsche Einheits- und Freiheitsbewegung hat in Württemberg erst nach dem Tode König Wilhelms I. die politische Entwicklung erneut in Fluss gebracht.

Eröffnung des Landtags durch König Karl von Württemberg, 1864 (HStAS J 302 Nr. 21)
Eröffnung des Landtags durch König Karl von Württemberg, 1864 (HStAS J 302 Nr. 21)

Sein Sohn und Nachfolger König Karl (1864-1891) ersetzte zunächst das von der Opposition stark angefochtene Ministerium Linden durch das des Freiherrn Karl von Varnbüler, der im Innern durch Wiederherstellung der Presse- und Vereinsfreiheit die Zügel etwas lockerte. Die Außenpolitik Württembergs blieb, von der Volksstimmung getragen, traditionell antipreußisch. An der Seite Österreichs trat das Land 1866 in den Krieg gegen Preußen; nach der Niederlage blieb es territorial unversehrt, musste aber acht Millionen Gulden Kriegsentschädigung zahlen und ein geheimes Schutz- und Trutzbündnis mit Preußen schließen. Als Bismarck den Reichstag des Norddeutschen Bundes nach dem demokratischen Wahlrecht der Frankfurter Paulskirche einberief, erhielt auch in Württemberg die Forderung nach Reform der Landesverfassung wieder starken Auftrieb. Über Änderungen in der Zusammensetzung der beiden Kammern konnten sich Regierung und Landtag nicht einigen, aber die Reform gelang 1868 wenigstens zur Hälfte: für die 70 Volksabgeordneten wurde das allgemeine, gleiche, unmittelbare und geheime Wahlrecht eingeführt - ein entscheidender Schritt auf dem Wege vom liberalen Honoratiorenparlament zur Massendemokratie, die erste tiefgreifende Änderung an dem Werke von 1819.

Die Söhne des württembergischen Gesandten Axel Varnbüler in Berlin, 1904 (HStAS P 10 Bü 1514)
Die Söhne des württembergischen Gesandten Axel Varnbüler in Berlin, 1904 (HStAS P 10 Bü 1514)

Württemberg war schon jetzt eng an Preußen gebunden, wirtschaftlich durch die Umbildung des erneuerten Zollvereins, militärisch durch die Neuorganisation des Heeres nach preußischem Vorbild. Die Stimmung im Lande aber blieb überwiegend preußenfeindlich. In der zweiten Kammer verfocht die übermächtige Linke, gebildet aus der demokratischen Volkspartei und dem von den Katholiken geförderten großdeutschen Klub, unter Karl Mayer, dem radikalen Redakteur des Beobachter, den Gedanken eines deutschen Südbundes. Die 1866 begründete Deutsche Partei trat unter Führung Reyschers und Julius Holders für den Anschluss Württembergs an den Norddeutschen Bund ein, verfügte aber nur über 14 Sitze. Noch im März 1870 musste einer von der Volkspartei entfachten Agitation gegen das Kriegsdienstgesetz durch eine Regierungsumbildung zu dem an den preußischen Verträgen festhaltenden „Ministerium der Energie" begegnet werden. Beim Ausbruch des Krieges mit Frankreich aber fegte auch in Württemberg ein Sturm nationaldeutscher Begeisterung die Widerstände hinweg; der Landtag bewilligte die Kriegskredite, in der Armee des preußischen Kronprinzen nahm die württembergische Division am Kriege teil.
Noch während des Feldzuges trat an Varnbülers Stelle als leitender Minister Hermann von Mittnacht; er hatte das Hauptverdienst an der diplomatischen Vorbereitung des politischen Anschlusses an den Norddeutschen Bund und an der Überwindung höfischer Widerstände, die von der Königin Olga, der politisch aktiven Tochter des Zaren Nikolaus I., ausgingen. Die Landtagswahlen im Dezember 1870 ergaben eine eindeutige Überlegenheit der Deutschen Partei, mit großer Mehrheit stimmte der Landtag dem Beitritt Württembergs zum neuen Reich zu.

(Quelle: Bearbeitete Fassung aus dem Abschnitt Landesgeschichte, in: Das Land Baden-Württemberg. Amtliche Beschreibung nach Kreisen und Gemeinden, hg. von der Landesarchivdirektion Baden-Württemberg, Band I, Stuttgart, 2. Aufl. 1977)

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