»Die Völker haben ein langes Gedächtnis«

Die deutsch-französischen Kriege und die Überwindung der »Erbfeindschaft«

Kaiserproklamation Wilhelms I. in Versailles am 18. Januar 1871, Gemälde von Anton von Werner, Original: Bismarck-Museum, Otto-von-Bismarck-Stiftung Friedrichsruh, 1885. Vorlage Wikimedia. Zum Vergrößern bitte klicken.
Kaiserproklamation Wilhelms I. in Versailles am 18. Januar 1871, Gemälde von Anton von Werner, Original: Bismarck-Museum, Otto-von-Bismarck-Stiftung Friedrichsruh, 1885. Vorlage Wikimedia. Zum Vergrößern bitte klicken.

Wenn es deutschen Soldaten des Ersten Weltkriegs in der Etappe oder während des oft auch ereignislosen Lebens in den Schützengräben der Westfront langweilig wurde, konnten sie zu erbaulich-patriotischer Lektüre greifen. Neben anderen Durchhalte- und Rechtfertigungsschriften konnten sie ein schmales Heft lesen, das Karl Wild, Professor an der Universität Heidelberg, 1917 in Kaiserslautern verlegen ließ und den sperrigen Titel Wie die Franzosen vor 200 Jahren in Heidelberg und in der Pfalz hausten trug. Im Untertitel war die Zielgruppe der Schrift direkt angesprochen: Für die im Schützengraben und für die daheim. Im Vorwort wird Wilds Intention deutlich. Mit Blick auf das zerstörte Heidelberger Schloss schreibt Wild: Jedenfalls sind die Ruinen ein Wahrzeichen der früheren Ohnmacht Deutschlands […]. Sie sind aber auch eine Warnung vor unserem gefährlichen Nachbar im Westen. Auch nach zwei Jahrhunderten konnte die noch immer lebendige Erinnerung an die katastrophalen Zerstörungen der Pfalz, Heidelbergs, Mannheims und von Teilen Württembergs, wie sie auf Befehl des französischen Monarchen Ludwig XIV. während des Pfälzischen Erbfolgekrieges stattfanden, zur Ertüchtigung des Wehrwillens deutscher Soldaten funktionalisiert werden.

Schon Jahrzehnte vorher, im Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 erinnerte man sich auf deutscher Seite noch lebhaft der französischen Angriffe unter dem Sonnenkönig und hatte das Gefühl, nun eine alte historische Rechnung begleichen zu können. Nicht nur die Zerstörungen der Pfalz durch den berüchtigten Ezéchiel de Mélac, auch der Raub der Reichsstadt Straßburg und des Elsass, das Ludwig XIV. 1681 Frankreich einverleibte, sollte 1870/71 endlich gerächt werden. Ludwig Pietsch, ein Berliner Schriftsteller und Maler, hatte Revanchegedanken, als er im September 1870 im Gefolge der deutschen Armeen das Königsschloss von Versailles besuchte: Endlich, nach zwei Jahrhunderten ist alle Schmach getilgt, die Er und die Seinen dem deutschen Namen gethan. Dieser Tag sühnt und rächt Straßburg und Freiburg, Heidelberg und Speyer und die verwüstete Rheinpfalz. Die Völker haben ein langes Gedächtnis, und alte Schulden werden nicht vergessen. Am 18. Januar 1871 vermerkte schließlich Kronprinz Friedrich Wilhelm von Preußen, Sohn des an diesem Tag im Spiegelsaal von Schloss Versailles zum Kaiser proklamierten Wilhelm I. voller Stolz in sein Diarium: Ich ließ meine Blicke während dieses Teils der Feier über die Versammlung und an die Decke schweifen, wo Ludwigs XIV. Selbstverherrlichungen, riesig in Allegorien und erläuternden, prahlerischen Inschriften abgebildet, namentlich die Spaltung Deutschlands zum Gegenstand haben, und fragte mich mehr als einmal, ob es denn wirklich wahr sei, daß wir uns in Versailles befänden, um hier die Wiederherstellung des deutschen Kaisertums zu erleben – so traumartig wollte mir das Ganze erscheinen. Die Kaiserproklamation im Spiegelsaal von Versailles, später oft als bewusster Akt der Demütigung Frankreichs dargestellt, war den handelnden Zeitgenossen wohl vor allem ein Akt ausgleichender Gerechtigkeit, in einem Gebäude, das praktischerweise gerade zur Verfügung stand – schließlich befand sich die militärische und politische Führung Preußens und seiner Verbündeten seit September 1870 in Versailles.

Unabhängig davon, dass diesen antifranzösischen Rachephantasien durchaus etwas Propagandistisches anhaftet, gründen sie doch auf tatsächlichen historischen Erfahrungen und zugefügten Verletzungen, die als Traumata über Generationen hinweg im kollektiven nationalen Gedächtnis verankert waren. Ein neutraler Zeuge dafür, dass es sich dabei keineswegs nur um die Wahrnehmung der meinungsbildenden deutschen Eliten aus Kultur, Militär und am Hof handelte, ist der britische Kriegsreporter William Howard Russell, der angesichts des Elends auf den Schlachtfeldern des Krieges 1870/71 über die Gefühle auch der einfachen Krieger aus Preußen oder Württemberg grübelt: Es ist die französische Begeisterung für »la Gloire« […] deretwegen der seßhafte Deutsche nunmehr eine ruhige, kalte Befriedigung darin findet, gen Versailles zu marschieren, in Gedanken daran, was die Franzosen vor langer Zeit in Berlin getan haben und zuvor in der Pfalz, und edle Strafen für all das zu ersinnen, was die Vorfahren seiner gefallenen Feinde seinem Großvater, wenn nicht seiner Großmutter angetan haben.

Hinter den ironischen Worten des Journalisten verbirgt sich der ganze Horror der deutsch- französischen Kriegsgeschichte seit dem Ende des 17. Jahrhunderts, die mit Ausnahme des Ersten Koalitionskriegs und der berühmten Kanonade von Valmy 1792, bis 1870/71 hauptsächlich eine Geschichte französischen Ausgreifens östlich des Rheins war. Im Pfälzischen Erbfolgekrieg 1688–1697, im Spanischen Erbfolgekrieg 1701–1714, im Österreichischen Erbfolgekrieg 1740–1748 und im Siebenjährigen Krieg 1756–1763 standen französische Truppen auf dem Boden des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation und fochten dort für Frankreichs Ruhm und dynastische Interessen. In den Napoleonischen Kriegen schließlich weitete das Kaiserreich Frankreich seinen Umfang auf den Trümmern des 1806 untergegangenen Reichs aus und verleibte sich Teile des deutschen Nordens bis Hamburg ein. Die süddeutschen Rheinbundstaaten – darunter Baden und Württemberg –, die – protokollarisch von Napoleon I. erhöht – unabhängig bleiben durften, bezahlten den Preis hierfür mit dem Leben tausender Landeskinder, die als Teil der Grande Armée den Russlandfeldzug mitmachen mussten. Erst die Befreiungskriege 1813–1815, die eine Reaktion auf das maßlose Ausgreifen Napoleons I. waren, trugen dann den Krieg von deutschem auf französischen Boden.

Siegesdenkmal in Freiburg im Breisgau. Vorlage Landauf LandApp. Zum Vergrößern bitte klicken
Siegesdenkmal in Freiburg im Breisgau. Vorlage Landauf LandApp. Zum Vergrößern bitte klicken.

Als der Krieg 1870/71 ausbrach, hatten die französischen Truppen Karten der Pfalz und Badens im Gepäck, aber keine des Elsass oder Lothringens. Ziel war es, entlang der Mainlinie die süddeutschen Staaten von jenen des Norddeutschen Bundes zu trennen. Mit diesem Plan war die Hoffnung verbunden, der Partikularismus in Baden oder Württemberg sei stark genug, dass sich der Süden an der Seite Frankreichs gegen Preußen wenden könnte. Da sich der von Frankreich im Juli 1870 nach preußischer Provokation erklärte Krieg von Beginn an auf französischem Boden abspielte, erwies sich der Plan als genauso hinfällig, wie die vor allem im Grenzland Baden geäußerte Furcht vor einer Invasion Napoleons III. Nicht jeder Badener oder Württemberger ging mit Begeisterung in den Krieg gegen Frankreich, doch die Ablehnung der erneuten französischen Aggression war auch im Südwesten allgemein. Die bewusst geschürte nationalistische Erinnerung an die vorangegangenen Kriege des »Erbfeinds« war dabei ein wesentlicher Faktor. Dass sich dennoch sofort nach den ersten großen Schlachten des August 1870 im ganzen deutschen Südwesten neben den Reservelazaretten auch zahlreiche private Spitäler und Hilfsorganisationen der Pflege zehntausender deutscher und französischer Verwundeter annahmen, zählt zu den besten Kapiteln dieses Krieges.

Der Verlauf des Krieges, der mit jedem Monat rücksichtsloser auch gegen die französische Zivilbevölkerung geführt wurde, mündete in die von der deutschen Seite so triumphal empfundene Reichsgründung. Doch hinterließ dieser Triumph eine mehrfache Belastung, die sich schließlich als tödlich für das Kaiserreich und als toxisch für die deutsch-französischen Beziehungen erweisen sollte. Im ganzen Kaiserreich durchdrang der Militarismus als Folge der siegreichen Einigungskriege alle gesellschaftlichen Bereiche. Noch heute künden zahllose Denkmäler und Straßennamen von der damaligen Anbetung der deutschen Waffen und Helden. Generationen von deutschen Schulkindern wurden im Geist des Kriegs erzogen und man darf wohl vermuten, dass das für die Geschichte des 20. Jahrhunderts nicht ohne Bedeutung war. Die Annexion des Elsass und von Teilen Lothringens, die in Deutschland zum einen als historische Wiedergutmachung und zum anderen als strategischer Schutz des deutschen Südwestens vor französischen Angriffen gedeutet wurde, war für Jahrzehnte Frankreichs blutende Wunde und Grundlage einer dauerhaften Politik der Revanche. Bei Beginn des Ersten Weltkriegs stand das Ziel der Wiedergewinnung des geraubten Elsass in Frankreich an erster Stelle. Als dann 1914 wieder deutsche Soldaten auf französischem Boden standen, ließen sich nun in Frankreich die einseitig zugespitzten Erinnerungen an 1870/71 instrumentalisieren, um gegen die vermeintlichen deutschen Barbaren die Civilisation zu verteidigen. Die Wirkmächtigkeit dieses Narrativs, das nicht weniger hasserfüllt und historisch unterkomplex war als jenes vom »französischen Erbfeind«, zeigte sich dann im Versailler Vertrag von 1919. Die vermeintliche Demütigung von 1871 wurde 1919 mit einer tatsächlichen Demütigung beantwortet. Dass die deutsche Delegation den diktierten Frieden in jenem Spiegelsaal unter protokollarisch entwürdigenden Umständen unterzeichnen musste, war für viele Deutsche schmerzhaft genug. Den Kriegsschuldartikel 231 des Versailler Vertrages, der einseitig die Verantwortung für die Katastrophe des Weltkriegs dem Reich zuschob, empfanden jedoch alle Deutschen klassen- und parteienübergreifend als ungerecht. In der Mantelnote des Versailler Vertrags wird die deutsch-französische Kriegsgeschichte seit dem 17. Jahrhundert bis zum Beginn des Weltkriegs indirekt in einer Weise dargestellt, die in Deutschland als Zumutung empfunden wurde: Während langer Jahre haben die Regierenden Deutschlands, getreu der preußischen Tradition, die Vorherrschaft in Europa angestrebt. Die ungeheuerlichen Verwüstungen, welche die deutschen Armeen 1914–1918 in Belgien und im Nordosten Frankreichs hinterließen, können solche Wertungen aus französischer Sicht erklären; doch viele Deutsche rechneten diese trotzdem mit den Kriegen Frankreichs seit dem 17. Jahrhundert gegen, empörten und entlastetet sich so zugleich von ihrer eigenen Schuld. Der Kampf gegen den Schandvertrag von Versailles, seine Umstände und einseitigen Schuldzuweisungen waren es, die Adolf Hitler Popularität über das braune Milieu hinaus einbrachten und ihm so half, die Macht zu erringen. Daran zeigt sich mit aller Deutlichkeit die Gefährlichkeit einseitig-nationalistischer, die eigene Schuld und Verantwortung leugnender Geschichtsbilder. Die Verantwortlichen beider Seiten haben sich im 19. Und 20. Jahrhundert derartiger Geschichtsbilder bedient, um ihre Interessen zu verfolgen und die Völker aufeinander zu hetzen.

Ein umso größeres Wunder ist es, dass es nach den deutschen Verbrechen im Zweiten Weltkrieg gelingen konnte, die angebliche »Erbfeindschaft« in eine deutsch-französische Freundschaft zu verwandeln. Dass der Impuls hierfür von Ludwigsburg ausging, ist aus südwestdeutscher Sicht ein besonderes Glück. Am 9. September 1962 reichte Frankreichs Präsident Charles de Gaulle in einer Rede im Innenhof des Ludwigsburger Schlosses der deutschen Jugend die Hand zur Freundschaft: Die Zukunft unserer beiden Länder, der Grundstein, auf dem die Einheit Europas errichtet werden kann und muß, und der höchste Trumpf für die Freiheit der Völker bleiben die gegenseitige Achtung, das Vertrauen und die Freundschaft zwischen dem französischen und dem deutschen Volk.

Trotz mancher Belastungsproben dieser Freundschaft, zuletzt in der Corona-Krise seit März 2020, hat sie zum Glück bis heute Bestand.

Tobias Arand

Tobias Arand ist Professor für Geschichte und Geschichtsdidaktik an der PH Ludwigsburg

Quelle: Archivnachrichten 61 (2020), S. 8-11.

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