Der »schwarze Strich« vor der eigenen Haustür

Seckenheims Protest gegen die Streckenplanung der badischen Eisenbahn 1838

 

Übersichtsplan der Eisenbahnstrecke Mannheim – Heidelberg, 1842. Vorlage: Landesarchiv BW, GLAK J­B Baden (Land) Nr. 4. Zum Vergrößern bitte klicken.
Übersichtsplan der Eisenbahnstrecke Mannheim – Heidelberg, 1842. Vorlage: Landesarchiv BW, GLAK J­B Baden (Land) Nr. 4. Zum Vergrößern bitte klicken.

Es gibt keine einheitliche Definition von menschlicher Angst. Psychologen, Pädagogen, Theologen und die anderen geistes- und humanwissenschaftlichen Disziplinen verwenden den Begriff jeweils unterschiedlich. Die Brockhaus-Enzyklopädie definiert Angst als Gefühlszustand, der einer unbestimmten Lebensbedrohung entspricht und grenzt sie von Furcht aufgrund erlebter Erfahrungen in Risiko-Situationen ab. Die bange Sorge vor den Veränderungen, die technische Innovationen mit sich bringen, liegt zwischen Angst und Furcht. Angst vor technischen Neuerungen richtet sich auf etwas Unbekanntes, denn die Innovation, um die es geht, ist ja noch gar nicht in den Alltag des Menschen eingetreten. Andererseits beruht der sorgenvolle Blick auf neue Techniken auf einer Lebenserfahrung, die jeder Mensch macht, nämlich die Erfahrung, dass Veränderungen das Vertraute infrage stellen.

Ob nun diffuse Angst oder auf Erfahrung beruhende Furcht: Die Sorgen vor den Folgen technischer Innovationen sind ein steter Begleiter des Fortschritts. Nicht von ungefähr wurde im Jahr 1990 beim Deutschen Bundestag ein beratendes Büro für Technologiefolgenabschätzung eingerichtet. Als der badische Landtag am 29. März 1838 den Bau einer Eisenbahn in staatlicher Regie beschloss, gab es ein solches Büro nicht. Diskutiert wurde trotzdem, innerhalb und außerhalb des Landtags.

Ein Beispiel dafür bietet eine im Tonfall recht scharf formulierte Eingabe der Gemeinde Seckenheim an das Badische Innenministerium vom 14. Mai 1838. Zu dieser Zeit hatten die Vermessungsarbeiten für Badens erste Eisenbahnstrecke zwischen Mannheim und Heidelberg gerade begonnen. Die Gemeindevertreter wehrten sich gegen die von den Landtagsabgeordneten favorisierte Planung, die Strecke möglichst dicht an den anliegenden Orten vorbeizuführen, auch dort, wo zunächst keine Station vorgesehen war, aber später vielleicht einmal kommen konnte. Den Abgeordneten seien die besonderen Verhältnisse der Orte nicht gehörig bekannt, lautete der Vorwurf. Der ortsnahe Bahnenzug schneide den Einheimischen den Zugang zu ihren Äckern ab und störe die Communication. Täglich mehrfach würden die Züge gleich einem schwarzen Strich an den Menschen vorbeiziehen.

Den Nutzen hätten einzig die Handelsleute der Städte Mannheim und Heidelberg.

Die – übrigens erfolgreiche – Eingabe zeigt, dass der Bau der Eisenbahn ein massiver Einbruch in die ländliche Lebenswelt war. Doch was die Gemeinde Seckenheim zu der Forderung bewegte, die Bahn so weit entfernt als thunlich an ihr vorüberziehen zu lassen, weil sie sich eine positive Weiterentwicklung der Agrargesellschaft nicht vorstellen konnte, weckte bei der Mehrzahl der Menschen Hoffnungen. Insgesamt überwogen die Bitten gerade ländlicher Kommunen, einen nahen Zugang zum Eisenbahnnetz zu bekommen, bei weitem die Gegenstimmen.

Martin Stingl

Quelle: Archivnachrichten 63 (2021), Seite 26–27.

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