Strukturelle Gewalt
von Nadine Seidu und Nora Wohlfarth
Diese Grafik zeigt: In vielen Heimen herrschte Enge. 3 Quadratmeter waren 1963 für Heimkinder vorgesehen, so hält es ein Leitfaden für Heime des Landesjugendamtes fest. Gemeint ist der Platz in den Schlafsälen, Einzel- oder Gruppenzimmer gab es kaum.
Platzmangel ist eine Form struktureller Gewalt. Das bedeutet, dass nicht nur das Handeln Einzelner zu Leid führt, sondern auch das Umfeld und die Voraussetzungen dieses Handelns. So kann beispielsweise der in vielen Einrichtungen weit verbreitete Personalmangel dazu führen, dass es den Kindern an Zuwendung und Beziehungen fehlt, ohne dass einzelne Personen sich den Kindern gegenüber falsch verhalten haben. Dasselbe gilt für mangelhafte hygienische oder räumliche Bedingungen, fehlende Ausbildung des Personals oder auch die herrschenden Wertvorstellungen in den Einrichtungen. All das ist für zahlreiche Einrichtungen belegt und entspricht den Berichten ehemaliger Heimkinder. Viele Heimkinder litten unter dem Mangel an Privatsphäre und dem fehlenden Respekt für ihre Intimsphäre. Ein Betroffener beschrieb, dass er eigentlich nur auf der Toilette überhaupt für sich sein konnte. Rückzugsmöglichkeiten waren kaum vorhanden.
Viele Einrichtungen der Jugend- und Behindertenhilfe, ebenso wie Kliniken, lassen sich als Totale Institutionen (mehr darüber in einem separaten Text) beschreiben. Sie sind nach außen abgeschlossen, Bewohnerinnen und Bewohner sind durch klare Hierarchien vom Betreuungspersonal abgegrenzt, der Ablauf des Alltags ist streng geregelt und verwaltet, die Regeln der Institution sind umfassend einzuhalten.
Formen der symbolischen Gewalt sind der strukturellen Gewalt ähnlich. Ritualisierung und Regelmäßigkeit, z.B. bei der Medikamentengabe, waren beispielsweise in Kliniken weit verbreitet und trugen mit dazu bei, dass Betreuung, Erziehung, Unterstützung, Zwang und Therapie fließend ineinander übergehen.
Die verschiedenen Formen der von den Betroffenen erlebten Gewalt werden durch ihre Folgenlosigkeit noch verstärkt. Sie wurden in vielen Fällen weder in der Einrichtung selbst, noch gesellschaftlich oder strafrechtlich geächtet. So kam es sogar vor, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eingestellt wurden, obwohl bekannt war, dass sie für sexualisierte Gewalt gegen Kinder verurteilt worden waren.
Diese Gewalt traf (und trifft) bei den Bewohnerinnen und Bewohnern von Einrichtungen der Behindertenhilfe, bzw. den Patientinnen und Patienten psychiatrischer Kliniken auf ein nachweislich bereits erhöhtes Risiko, Opfer von Gewalt zu werden. Diese bereits vorhandene Verletzlichkeit wird häufig durch die in den Einrichtungen gemachten Erfahrungen noch verstärkt, so dass ihnen die Verarbeitung wiederum erschwert wird. Ein regelrechter Teufelskreis.
Literatur
- Fangerau, Heiner/Dreier-Horning, Anke/Hess, Volker/Laudien, Karsten/Rotzoll, Maike (Hg.), Leid und Unrecht. Kinder und Jugendliche in Behindertenhilfe und Psychiatrie der BRD und DDR 1949 bis 1990, Köln 2021.
- Pilz, Nastasja/Seidu, Nadine und Keitel, Christian (Hg.), Verwahrlost und gefährdet? Heimerziehung in Baden-Württemberg 1949-1975, Stuttgart 2015.
- Keitel,Christian/Pilz, Nastasja/ Wohlfarth, Nora (Hg.), Aufarbeiten im Archiv. Beiträge zur Heimerziehung in der baden-württembergischen Nachkriegszeit, Stuttgart 2018.
Zitierhinweis: Nadine Seidu, Nora Wohlfarth, Strukturelle Gewalt, in: Heimkindheiten, URL: […], Stand: 21.03.2022.