Die Kinder- und Jugendpsychiatrie des Psychiatrischen Landeskrankenhauses Weissenau von 1950 bis 1975
Von Franziska Dierig
Die Etablierung einer effektiven und angemessenen kinder- und jugendpsychiatrischen stationären Versorgung im Psychiatrischen Landeskrankenhaus Weissenau als Teil des Versorgungsnetzwerkes in Baden-Württemberg war ein langer und krisenreicher Weg.
Im November 1950 eröffnete die Abteilung im sogenannten K-Bau der Staatlichen Heilanstalt Weissenau (ab 1953 Psychiatrisches Landeskrankenhaus Weissenau). Bis Mitte der 1960er Jahre wurde sie als Pflege- und Beobachtungsstation für Kinder geführt. Mit dem Umzug in den Neubau im Jahr 1966 wurde die Kinderabteilung mit dem Ziel der stationären Diagnostik psychiatrischer Erkrankungen sowie der Durchführung kurzfristiger Therapien im Kindes- und Jugendalter erweitert. Im Neubau gab es drei Stationen in unterschiedlichen Trakten. Eine der Stationen war mit 46 Betten für Kinder eingerichtet, während auf den anderen beiden Stationen jeweils 20 Betten für die nach Geschlechtern getrennte Unterbringung von weiblichen und männlichen Jugendlichen vorgesehen waren.
Doch selbst nach dem Umzug in den Neubau waren Ende der 1960er Jahre die Möglichkeiten der Behandlung verglichen mit den heutigen Standards stark eingeschränkt und eine Therapie war Erkrankten mit akuten Verhaltensauffälligkeiten, Psychosen oder Anfallserkrankungen vorbehalten. Zeit für die psychotherapeutische Behandlung chronischer Verhaltensstörungen stand nicht zur Verfügung. In solchen Fällen mussten die Beschäftigten der Klinik sich damit begnügen, den Erziehungsberechtigten Ratschläge zur weiteren Behandlung an die Hand zu geben und im äußersten Fall mittels medikamentöser Dämpfung von allzu erregten Erkrankten eine Besserung der Ausgangslage herbeizuführen. Notwendige heilpädagogische Aufgaben konnten gar nicht und eine physiotherapeutische Behandlung sehr eingeschränkt wahrgenommen werden. Die Bauarbeiten für die Gartenanlagen um die 1966 bezogenen Gebäude waren im Jahr 1968 noch nicht beendet und eine Fertigstellung wurde erst für 1969 erwartet, sodass die Patienten und Patientinnen vorwiegend - auch im Sommer - in den Gebäuden verbleiben mussten. Die schlechte Entwässerung des Grundstückes machte die Rasenfläche teilweise untauglich und diese konnte dadurch nicht voll genutzt werden. Geeignete Spielgeräte waren zudem entweder gar nicht beschafft oder noch nicht aufgebaut worden.
Es bestand eine große Diskrepanz zwischen dem enormen Aufnahmedruck im Bundesland und den Versorgungsmöglichkeiten. Eine effektive stationäre Behandlung und eine sichere sowie kinder- und jugendgerechte Unterbringung der Erkrankten in der Weissenau erforderte ausreichend Personal mit entsprechender Qualifikation. In erster Linie aufgrund einer unzureichenden Finanzierungsgrundlage konnten jedoch kaum genügend Ärzte oder Ärztinnen, Therapeuten und Therapeutinnen oder ausreichend qualifiziertes Pflegepersonal eingestellt oder entsprechend ausgebildet werden. Ausführlicher beschrieb der damals amtierende Klinikleiter Dr. Schulz in einem Schreiben aus dem Jahr 1968 an das Innenministerium die Missstände, die eine verantwortungsvolle Unterbringung und Behandlung der erkrankten Kinder und Jugendlichen behinderten. Zwar war das Landeskrankenhaus Weissenau 1968 zusätzlich zum Akademischen Krankenhaus der Universität Ulm geworden und erfüllte somit eine Doppelrolle mit entsprechenden Aufgaben und Anforderungen, doch bestanden vor allem in personeller Hinsicht deutliche Unterschiede zu entsprechenden Universitätskliniken mit kinder- und jugendpsychiatrischen Stationen. Ende der 1960er / Anfang der 1970er Jahre stand die Abteilung schließlich kurz vor der Schließung, nachdem beide dort beschäftigten Ärzte gekündigt hatten. Daraufhin wurden 1971 mit Amtsantritt des neuen Klinikleiters Dr. Koch neue Personalstellen geschaffen und zumindest eine Neustrukturierung der Abteilung eingeleitet. Dennoch versuchte man sich weiterhin aufgrund der für eine Individualbetreuung unzureichenden Personalausstattung bei sehr unruhigen Kindern mittels Fixierungen an Betten oder (Toiletten-)Stühlen zu behelfen oder legte gar Zwangsjacken an, um diese Kinder unter Kontrolle halten zu können. Ein Kind sei beispielsweise beim Ausgang immer an einem Geschirr geführt worden, damit es nicht fortlief und keine ungenießbaren Gegenstände im Garten aß. Als im Jahr 1972 doch einmal ein 11jähriges, intelligenzgemindertes und schwer erregtes Mädchen notfallmäßig und eigentlich gegen ärztlichen Rat aufgenommen werden musste, wurde deutlich, wie unzulänglich die Betreuungsmöglichkeiten vor allem für schwerwiegende Fälle noch waren. Einige Tage nach Aufnahme strangulierte sich das Mädchen am Toilettenstuhl. Ein Fehlverhalten des Personals wurde kriminaltechnisch ausgeschlossen, doch hätte eine geeignete Unterbringung des Mädchens mit einer intensiveren Einzelbetreuungsmöglichkeit diesen Vorfall möglicherweise verhindern können. Außerdem mussten vor allem Jugendliche, insbesondere mit Intelligenzminderung und schweren Verhaltensstörungen, die einer mittel- bis langfristigen Behandlung und Betreuung bedurft hätten, weiterhin an die Erwachsenenstationen abgegeben werden, was mit einer jugendgerechten Unterbringung und Umsetzung altersentsprechender Therapien kaum vereinbar war und ärztlicherseits im Grunde als unverantwortlich angesehen wurde.
Aus zeitgenössischen Dokumenten und Zeitzeugenberichten wird deutlich, dass bei der Versorgung der jungen Patienten und Patientinnen in der ersten Hälfte der 1970er Jahre weiterhin oft improvisiert werden musste und die Umgestaltung der Abteilung mit Einführung neuer Therapiekonzepte und einer Differenzierung des Behandlungsteams nicht reibungslos verlief. Im Jahr 1974 steckte die kinder- und jugendpsychiatrische Abteilung erneut in einer tiefen Krise, als Dr. Koch und mehrere ärztliche Mitarbeiter kündigten und die Aufnahmen von Patientinnen und Patienten erneut reduziert werden mussten.
Unter der Leitung von Dr. Schöne ab Juni 1974 konnten die neugeschaffenen Strukturen weiter ausgebaut und eine zufriedenstellende Personalsituation erreicht werden. Im Jahr 1975 wurden laut Jahresbericht Behandlungserfolge erzielt. Eine vergleichende Untersuchung von Patientenakten zeigt bereits zwischen den Jahren 1968 und 1975 deutliche Verbesserungen in den Möglichkeiten einer differenzierteren Diagnostik und einer nun deutlich umfangreicheren und individuelleren Behandlung.
Literatur:
- Dierig, Franziska, Die Entwicklung der Kinder- und Jugendpsychiatrie Weissenau von 1968 bis 1980 – Dokumente und Zeitzeugenberichte, Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades der Medizin der Medizinischen Fakultät der Universität Ulm, S. 1-445, 2021/2022.
- Bericht des Psychiatrischen Landeskrankenhauses Weissenau, Akademisches Krankenhaus der Universität Ulm, 1975. Wissenschaftliche Bibliothek des ZfP Südwürttemberg, Weissenau. Ravensburg.
- Berichte des Psychiatrischen Landeskrankenhauses Weißenau, Akademisches Krankenhaus der Universität Ulm (verschiedene Jahre), Archiv der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, ZfP Südwürttemberg, Weissenau, Ravensburg.
Zitierhinweis: Franziska Dierig, Die Kinder- und Jugendpsychiatrie des Psychiatrischen Landeskrankenhauses Weissenau von 1950 bis 1975, in: Heimkindheiten, URL: […], Stand: 21.02.2022.