Die Ermordung von Fürsorgezöglingen im „Erziehungsheim Hadamar“ ab 1943

Madeleine Michel

 

Landesheilanstalt Hadamar von Südwesten mit Gebäuden und ehemaliger Klosterkirche, um 1950 [Quelle: LWV-Archiv Bestand F12 Nr. 4]. Zum Vergrößern bitte klicken.
Landesheilanstalt Hadamar von Südwesten mit Gebäuden und ehemaliger Klosterkirche, um 1950 [Quelle: LWV-Archiv Bestand F12 Nr. 4]. Zum Vergrößern bitte klicken.

Dieser Text stellt einen Exkurs da, denn Hadamar liegt außerhalb von Baden-Württemberg und der Text behandelt den Zeitraum vor 1949. Mit diesem Text wird beispielhaft ein Aspekt der Vorgeschichte der Heimerziehung in der Nachkriegszeit beleuchtet.

 

Während des Nationalsozialismus war die Landesheilanstalt Hadamar bei Limburg/Hessen eine Tötungsanstalt, in der zwischen 1941 und 1945 etwa 14.500 Menschen ermordet wurden. Von Januar bis August 1941 war Hadamar eine von sechs Tötungsanstalten der "Aktion T4", bei der vorwiegend Menschen mit psychischen Erkrankungen und geistigen Behinderungen ermordet wurden. Die „Aktion T4“ war eine im gesamten Deutschen Reich stattfindende Mordaktion an Menschen mit psychischen Erkrankungen und geistigen Behinderungen. Nachdem im August 1941 die Morde eingestellt wurden, wurde die Anstalt Hadamar im August 1942 Landesheilanstalt wiedereröffnet. Jedoch sollte Hadamar keine herkömmliche Anstalt bleiben, denn in dieser Zeit wurden die „Euthanasie“-Morde wieder aufgenommen: Bis zum Einmarsch US-amerikanischer Truppen im März 1945 wurden die Patientinnen und Patienten nun nicht mehr durch Gas, sondern durch überdosierte Medikamente, Mangelernährung und unterlassene medizinische Versorgung getötet. Ein großer Unterschied zwischen der „Aktion T4“ im Jahr 1941 und dieser sogenannten „dezentralen Euthanasie“ in Hadamar zwischen 1942 und 1945 liegt darin, dass ab 1942 auch Personen ermordet wurden, die nicht psychisch erkrankt waren oder eine Behinderung hatten.

In der Zeit zwischen dem 28.05.1943 und dem 24.03.1944 wurden 45 sogenannte „jüdische Mischlinge I. Grades“ in das „Erziehungsheim Hadamar“ aufgenommen. Das „Erziehungsheim“ war Teil der Landesheilanstalt Hadamar und es sollten dort „alle jüdischen und als jüdisch geltenden Kinder und Jugendliche, die sich in Heimerziehung, Fürsorgeerziehung und sonstiger Heimerziehung“ befanden, untergebracht werden. Um ihre Aufnahme in einer Anstalt wie Hadamar medizinisch begründen zu können, wurde für jedes der aufgenommenen Kinder und Jugendlichen eine Patientenakte angelegt und eine psychiatrische Diagnose gestellt. Es ist nach heutigem Forschungsstand davon auszugehen, dass keines der Kinder und Jugendlichen psychisch oder körperlich krank war und die Diagnosen nur erfunden wurden.

Eines dieser Kinder war Georg Brönner. Er wurde 1929 in Heimatshofen in Bayern geboren und bereits ab 1936 unter Fürsorgeerziehung gestellt, da er „wiederholt an Kindern unzüchtige Handlungen“ vorgenommen habe und durch die Erziehung der Eltern angeblich „Verwahrlosung“ drohte. Zu diesem Zeitpunkt war Georg nicht einmal sieben Jahre alt. Georg Brönner galt nach den „Nürnberger Rassegesetzen“ von 1935 als „jüdischer Mischling I. Grades“, da seine Großeltern mütterlicherseits, und somit auch seine Mutter, jüdisch waren. Im November 1942 wurde er im Erziehungsheim Herzogsägmühle untergebracht. Dort beschrieb der Heimleiter in einem „Erziehungsbericht“ seine Persönlichkeit antisemitisch und abwertend. Seine Charakterzüge erinnerten ihn „an ein stark jüdisches Wesen“ und der Junge schien nach dessen Meinung „innerlich an dem jüdischen Mischblut zu leiden“.

Georgs Eltern ließen sich wahrscheinlich 1938 scheiden. Zu diesem Zeitpunkt war er bereits in einem Heim untergebracht und seine Mutter Zerline Brönner im Polizeigefängnis München wegen „fortgesetzter Rassenschande“ inhaftiert. Die genauen Umstände ihrer Inhaftierung sind bisher nicht bekannt, jedoch führte diese dazu, dass sie von München in das KZ Moringen bei Göttingen, dann in das KZ Lichtenburg und von dort aus im Mai 1939 in das KZ Ravensbrück gebracht wurde. Vermutlich wurde Zerline Brönner Anfang April 1942 mit anderen Häftlingen aus dem KZ Ravensbrück in der Tötungsanstalt Bernburg im Rahmen der „Aktion 14f13“ ermordet. Die „Aktion 14f13“ bezeichnete die Ermordung von KZ-Häftlingen in ehemaligen NS- „Euthanasie“-Tötungsanstalten, die krank waren und als nicht mehr arbeitsfähig galten.

Als Georg Brönner am 1. September 1943 in das „Erziehungsheim Hadamar“ eingewiesen wurde, war seine Mutter bereits seit über einem Jahr tot. Im Dezember 1943 erkundigte sich sein Vater bei der ärztlichen Leitung der Anstalt nach seinem Sohn und beschwerte sich darüber, dass er erst durch Nachfrage bei dem zuständigen Jugendamt erfahren habe, dass Georg nun in Hadamar sei. Er bat um Auskunft zum Gesundheitszustand von Georg und teilte mit, dass sein Sohn auf die Briefe, die er ihm schreibe, antworten solle. Hans Brönner erhielt die Antwort, dass Georg sich „in geistiger Beziehung nicht geändert“ habe und er mit „leichten Arbeiten“ beschäftigt werde. Ein halbes Jahr später erkundigte sich Georgs Vater wieder nach seinem Sohn, sein Brief wurde jedoch nicht beantwortet. Die nächste Nachricht, die Georgs Vater erhielt, war die vom Tod seines Sohnes. In Georgs Akte wurde im Januar 1945 vermerkt: „Hat lange Zeit bei dem Auto gearbeitet. War ordentlich + zuverlässig.“ Bei dieser Arbeit habe er sich angeblich eine „Autogasvergiftung“ zugezogen und einen Tag nach diesem Eintrag wurde vermerkt: „Heute trat der Exitus ein. Todesursache: Gasvergiftung.“ Allerdings ist in seiner Sterbeurkunde als Todesursache „Herzschwäche bei angeborenem Schwachsinn“ angegeben. Es gibt Hinweise, die den Schluss zulassen, dass Georg Brönners angeblicher Arbeitsunfall zum Anlass genommen wurde, ihn letztendlich zu ermorden. Georg Brönner starb am 31.01.1945 in der Anstalt Hadamar – ob durch die Folgen seines Arbeitsunfalls oder die Gabe überdosierter Medikamente, ist heute nicht mehr feststellbar.

Georg Brönner war eins von 45 Kindern- und Jugendlichen, die auf Grund der Definition der Nationalsozialisten als „jüdische Mischlinge I. Grades“ und der angeordneten Heimerziehung bzw. „Fürsorgeerziehung“ in das „Erziehungsheim Hadamar“ eingewiesen wurden. Von diesen 45 Kindern und Jugendlichen wurden nur fünf aus dem „Erziehungsheim Hadamar“ entlassen und konnten ihrer dortigen Ermordung entgehen. Zwei dieser Kinder wurden entlassen, da es sich bei ihrer Einweisung nach Hadamar um einen formalen Fehler handelte, da sie gar nicht unter Fürsorgeerziehung standen. Die drei anderen Entlassenen waren Geschwister und konnten durch ihren Onkel aus Hadamar gerettet werden. Er hatte unermüdlich nach Mitteln und Wegen gesucht, dass die Kinder aus Hadamar entlassen werden konnten. Als er sein Ziel erreichte, waren drei der sechs Geschwister bereits ermordet.

Die Biografie von Georg Brönner, die stellvertretend für die 44 weiteren Kinder und Jugendlichen im „Erziehungsheim Hadamar“ steht, zeigt, dass die Fürsorgeerziehung „jüdischer Mischlinge I. Grades“ im Nationalsozialismus von einer mehrfachen Stigmatisierung geprägt war und nicht nur die Kinder unter den rassistischen Repressionen des NS-Staates litten, sondern ganze Familien Opfer von Verfolgung und Vernichtung wurden. Die Familie wurde als „im Ganzen asozial“ durch die nationalsozialistischen Behörden diskriminiert, ausgegrenzt und teilweise ermordet.

 

Literatur

  • Scholz, Susanne, Singer, Reinhard, Die Kinder in Hadamar, In: Roer, Dorothee, Henkel, Dieter (Hrsg.), Psychiatrie im Faschismus. Die Anstalt Hadamar 1933-1945, 3. Auflage, Frankfurt 2003, S. 214-236.
  • Sandner, Peter, Verwaltung des Krankenmordes. Der Bezirksverband Nassau im Nationalsozialismus, Gießen 2003.
  • LWV-Archiv, Bestand K12, Nr. 2957.
  • Archiv Diakonie Herzogsägmühle, Personenakte Georg Brönner, LKAN 1583.
  • Verschiedene Dokumente betreffend die Verlegung der Häftlinge des KL Moringen zum KL Lichtenberg, 15.12.37, 21.02.38 und 21.03.38, 1.1.28.1/3902000/ITS Digital Archive, Arolsen Archives
  • Verlegung des Frauenkonzentrationslagers Lichtenburg nach Ravensbrück, 1.1.20.0/9055500/ITS Digital Archive, Arolsen Archives

 

Zur Autorin: Madeleine Michel ist Historikerin und aktuell wissenschaftliche Volontärin in der Gedenkstätte Hadamar.

 

Zitierhinweis: Madeleine Michel, Die Ermordung von Fürsorgezöglingen im „Erziehungsheim Hadamar“ ab 1943, in: Heimkindheiten, URL: […], Stand: 08.03.2022

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