Karlsruhe
Dieser Beitrag stammt aus der Studie von Franz Hundsnurscher und Gerhard Taddey, Die jüdischen Gemeinden in Baden. Denkmale, Geschichte, Schicksale, hg. von der Archivdirektion Stuttgart (Veröffentlichungen der Staatlichen Archivverwaltung Baden-Württemberg 19), Stuttgart 1968.
Die Studie wird hier in der Originalfassung als Volltext zugänglich gemacht und separat bebildert. Inhalte und Sprachgebrauch entsprechen dem Stand von 1968. Weitere Informationen zur Entstehung und Einordnung der Studie finden Sie hier.
Im Jahre 1715 legte Markgraf Karl-Wilhelm von Baden-Durlach wenige Kilometer von seiner damaligen Residenz Durlach entfernt den Grundstein für die neue Hauptstadt Karlsruhe. Die der Gründung gewährten Privilegien veranlassten auch Juden zur Ansiedlung. In dem zweiten Privileg von 1722 wurde ihnen der Bau eines modellmäßigen Hauses und der Besitz eines Vermögens von 500 Gulden als Voraussetzungen für die Aufnahmebewilligung vorgeschrieben. Auch wer diese Bedingungen nicht erfüllte, konnte in die neue Stadt aufgenommen werden, allerdings nur als Schutzjude gegen Zahlung von Schutzgeld und ohne den Genuß der Vorrechte der Karlsruher Bürger. Einer der ersten jüdischen Ansiedler war 1719 Josef Jakob aus Ettlingen, der den Bau des Marstalles übernahm. 1720 siedelte der Rabbiner Natan Uri Kahn von Pforzheim, von wo aus er seit 1717 die Rabbinatsgeschäfte der unteren Markgrafschaft versehen hatte, nach Karlsruhe über und übernahm die religiöse Leitung der aufblühenden Gemeinde bis zu seinem Tode 1749. Vom benachbarten Durlach kam Emanuel Reutlinger, der das Amt des Judenschultheißen wahrnehmen wollte. Er fand aber nicht die Zustimmung der Regierung, die ihn zum Rüger für Verstöße gegen jüdische Vorschriften einsetzte und ihm ein Viertel der anfallenden Strafen als Entschädigung zusprach. Schultheiß für Karlsruhe und die unterländische Judenschaft wurde der Hofjude Salomon Mayer, der am wirtschaftlichen Aufschwung der jungen Gründung maßgebend mitwirkte und bis zu seinem Tode 1774 hochgeachtet für Ordnung im Gemeindeleben sorgte. Er war ein Schwiegersohn des Hoffaktors Model und erwarb sich als Armeelieferant im Siebenjährigen Krieg und durch andere Geschäfte ein bedeutendes Vermögen. Damit errichtete er in der Stadt eine Jeschiwa, ein jüdisches Lehrhaus, die sogenannte Model'sche Stiftung.
Das überaus rasche Wachstum der jungen Gemeinde - 1733 lebten bereits etwa 50 Familien mit 282 Seelen in der Stadt - veranlasste erste Gegenmaßnahmen. Seit 1734 war der Bau eines Hauses und der damit verbundene Erwerb der Gründungsprivilegien nur noch mit landesherrlicher Genehmigung möglich. Die Zuzugsbeschränkung lag nicht nur im Interesse der übrigen Siedler, sondern auch in dem der alteingesessenen Judenfamilien, die befürchten mussten, dass sie durch bettelnde und herumstreifende Glaubensgenossen in Misskredit gerieten. Ihre Sprecher baten 1736 den Markgrafen um die Fernhaltung von solchen „liderlichen, mittellosen Lumpen". Fremde sollten in Zukunft nur durch Heirat einer Karlsruher Judentodlter Aufnahme erhalten.
Schon sehr früh besaß die Gemeinde eine Synagoge, ein rituelles Bad, ein Spital und einen Friedhof, dazu beim Rüppurrer Tor ein Haus für die Beherbergung von Betteljuden, die häufig Scherereien mit den Behörden verursachten. Für den Unterhalt dieser Institutionen und die laufenden Geschäftsbedürfnisse der Gemeinde wurden regelmäßig Abgaben von allen Mitgliedern erhoben.
Als 1752 das auf 30 Jahre befristete Gründungsprivileg erlosch, baten die Juden um eine modifizierte Erneuerung, vor allem um die Festsetzung einer Höchstzahl der jüdischen Familien in der Residenz. Eine Kommission von Gemeinde- und Regierungsvertretern erarbeitete daraufhin die Karlsruher Judenordnung vom 16. Oktober 1752, in der Rechte und Pflichten der Juden nach Landesrecht und nach jüdischen Vorschriften geregelt wurden. Diese Ordnung wurde in den folgenden Jahrzehnten mehrfach abgeändert, blieb aber im Kern bis zu den Konstitutionsedikten von 1808 in Kraft. So erhielt etwa der Judenschultheiß 1789 eine ausführliche Dienstinstruktion von der Regierung, weil sich in der Gemeinde nach dem Tode Salomon Mayers Streitigkeiten und Zerwürfnisse häuften. 1790 wohnten schon 551 Juden in der Residenz, 1814 670. Um das mit der wachsenden Zahl verbundene Raumproblem zu lösen, wurde 1798 an der Kronenstraße mit dem Bau einer neuen Synagoge nach den Plänen des berühmten Architekten Weinbrenner begonnen. 1806 konnte sie eingeweiht werden.
Die Bestrebungen um die Gleichstellung der Juden zeigten erste Erfolge in den Konstitutionsedikten des Großherzogs Karl Friedrich. Die Spitze der neuen Organisation der jüdischen Religionsgemeinschaft, der Oberrat, hatte seinen Sitz in der Residenz. Hier wurde auch um 1816 eine der ersten jüdischen Volksschulen des Landes errichtet. 1832 unterrichteten an ihr drei Lehrkräfte rund 100 Kinder. Bei der Einteilung der jüdischen Rabbinatsbezirke 1827 war Karlsruhe Sitz einer Bezirkssynagoge geworden. Diese wurde 1885 aufgelöst, Pforzheim und Karlsruhe zu einer Ortssynagoge verbunden, die übrigen Gemeinden des Bezirks auf andere Sprengel verteilt.
Weite Kreise der Bevölkerung sahen in der beginnenden Emanzipation eine Gefahr. Die von Hetzschriften aufgepeitschten Massen ließen sich zu Ausschreitungen hinreißen. Im Hep-Hep-Sturm von 1819 hatte die Regierung alle Mühe, die jüdischen Bürger zu schützen. Großherzog Ludwig begleitete damals persönlich den von ihm sehr geschätzten Hofbankier von Haber von Steinbach aus nach Karlsruhe, um ihn und sein Haus durch seine Gegenwart vor dem Mob zu schützen. Haber, ein Schwiegersohn des Schultheißen Mayer, hat nach der Begründung des Zollvereins 1834 durch die Beteiligung an der Maschinenfabrik von Keßler in Karlsruhe, der Spinnerei und Weberei in Ettlingen und der Zuckerfabrik in Waghäusel maßgeblich an der Industrialisierung Badens mitgewirkt. Aber die industrielle Basis war trotzdem nicht ausreichend für sein Bankhaus. In der Wirtschaftskrise von 1847/48 brach es kaum zehn Jahre nach Habers Tod ebenso wie das jüdische Bankhaus Kusel zusammen. Das Bankhaus Rothschild war an diesem Konkurs nicht ganz unbeteiligt. Zu den bedeutenden Karlsruher Bankiers und Hoffaktoren dieser Zeit zählt auch der 1850 dort verstorbene David Seligmann Freiherr von Eichthal. 1797 hatte er die Krappfabrik in der Grötzinger Augustenburg gekauft, um dort eine Zuckerfabrik einzurichten. Im gleichen Jahr begründete er das Bankhaus Seligmann & Co., das an zahlreichen stattlichen Transaktionen beteiligt war, aber schon 1825 nicht mehr bestand. 1811 richtete er im ehemaligen Kloster St. Blasien mehrere Fabriken ein, die 1821 etwa 800 Personen Brot und Arbeit gaben. Außerdem hatte er mehrere Jahre mit gutem Gewinn das Salzmonopol im Großherzogtum gepachtet.
In den Gemeinden der großen Städte begann im Zusammenhang mit den Emanzipationsbemühungen ein langwieriges Ringen um eine fortschrittlichere Gestaltung des jüdischen Gottesdienstes. In Karlsruhe schlossen sich bereits 1819 zehn jüdische Familien zu einem, „Tempelverein" zusammen und feierten einen reformierten Gottesdienst weitgehend in deutscher Sprache. Dieser Streit führte 1869 unter dem Rabbinat Benjamin Willstätters zur Abspaltung der jüdisch-orthodoxen Gemeinde, der späteren Israelitischen Religionsgesellschaft, die unter Führung von Baruch H. Wormser den alten Ritus ohne Orgel und weitgehend in hebräischer Sprache beibehalten wollte. 1871 brannte die Synagoge Weinbrenners nieder. An ihrer Stelle errichtete Baurat Durm einen Neubau mit Chor und Orgel, der 1875 in Anwesenheit des großherzoglichen Paares eingeweiht wurde. Die Orthodoxen, die schon vorher in Privathäusern Gottesdienst abgehalten hatten, entschlossen sich daraufhin zum Bau einer eigenen Synagoge in der Karl-Friedrich-Straße und zur Anlage eines eigenen Friedhofs.
Der älteste, 1723 angelegte jüdische Friedhof am Mendelssohnplatz wurde bereits 1826 geschlossen. Bis dahin hatten hier 924 Juden ihre letzte Ruhestätte gefunden. In der Judenordnung von 1752 war festgelegt worden, dass dort alle Juden der Stadt und des Unterlandes gegen Bezahlung des festgesetzten Sterbegeldes bestattet werden durften. Von seiner ursprünglich abseitigen Lage vor der Stadt war der Friedhof durch die Ausdehnung des Stadtkerns immer mehr in das Zentrum gerückt. 1898 wurde er aus verkehrstechnischen Gründen nach heftigem, religiös begründetem Widerstand der Gemeinde enteignet und eingeebnet. Die dort Bestatteten wurden teils auf den neuen Friedhof der Orthodoxen, teils auf den ebenfalls schon geschlossenen zweiten Friedhof an der Kriegsstraße umgebettet. Hier ruht nun der berühmte Gelehrte Nathanael Weil, der als Nachfolger Nathan Uri Kahns 1750-69 in Karlsruhe als Oberlandesrabbiner für beide Markgrafschaften wirkte, und ebenso sein Sohn und Nachfolger Jedidia genannt Tia Weil, der 1770-1805 amtierte. Von Nathanael stammt der weit verbreitete Superkommentar Korban Nesanel zum Talmud-Kommentar Ascheri. Sein Werk wurde in der zu seiner Zeit in Karlsruhe bestehenden hebräischen Druckerei gedruckt.
Während seit 1875 die Zahl der Juden auf dem Lande überall im Absinken war, stieg sie durch Zuwanderung in den größeren Städten an. 1875 lebten 1.488 Juden in der Hauptstadt Badens (2,8 Prozent von 52.886 Einwohnern), 1900 2.577 (2,4 Prozent von 107.765), 1910 3.058, 1925 3.386 (2,3 Prozent von 145.694). Damit war der höchste Stand erreicht. Am wirtschaftlichen Leben der Stadt waren zahlreiche jüdische Firmen beteiligt wie die Papierfabriken Vogel und Bernheimer, die Kunstwollfabriken Vogel und Schnurmann, die Lederfabrik Hermann und Ettlinger sowie der Warenhauskonzern der Geschwister Knopf. Die Malzfabrik Wimpfheimer konnte 1966 ihr hundertjähriges Bestehen feiern. Außerdem gab es vier jüdische Bankhäuser, darunter das 1854 gegründete Bankhaus Veit L. Homburger, das 1939 von der Badischen Landeszentralbank aufgekauft wurde. Aber auch in allen anderen Wirtschaftsbereichen waren Juden vertreten. Sie stellten 1928 26 Prozent der Ärzte und 40 Prozent der Rechtsanwälte der Stadt. Zu ihren markanten Persönlichkeiten gehörten Pr. Ludwig Haas und der später im KZ Kislau ermordete Dr. Ludwig Marum, die beide der badischen Revolutionsregierung vom Dezember 1918 angehört hatten.
Früh machten sich in Karlsruhe antisemitische Kräfte bemerkbar. Schon 1923 wurden Flugblätter unter den Studenten der Technischen Hochschule verbreitet, um sie gegen die Ernennung von zwei jüdischen Dozenten aufzuputschen. Im Frühjahr 1926 wurden in der Mittelstadt zahlreiche Häuserfassaden mit Hakenkreuzen aus Teer beschmiert. Die Täter überstiegen auch das Eisengitter vor der Synagoge und besudelten die Vorhalle und das Ehrenmal der 60 gefallenen jüdischen Bürger aus Karlsruhe und Durlach, die im Ersten Weltkrieg ihr Leben für das Vaterland geopfert hatten. Noch verurteilten alle Zeitungen diese schändliche Tat. Knapp sieben Jahre später wurde die Bevölkerung zum Boykott der jüdischen Geschäfte aufgerufen.
Im Juni 1933 lebten 3.119 Juden in der Stadt. Beide jüdische Gemeinden entfalteten ein reichhaltiges differenziertes Leben in zahlreichen Organisationen. Die Wohlfahrtspflege wurde vom Israelitischen Wohlfahrtsbund wahrgenommen. Es existierten eine Reihe von Vereinigungen für die Unterstützung in allen möglichen Notlagen. Es gab einen Kindergarten, einen Kinderhort, eine Schule, ein Arbeitslosenheim und zwei Altersheime. Die kulturellen Belange wurden vom Verein für jüdische Geschichte und Literatur, von einem Lehrhaus, einem Turnverein und dem Sportklub Hakoah wahrgenommen. Der Unabhängige Orden B'ne B'rith war durch die Karl-Friedrich-Loge vertreten, die 1937 durch einen Runderlass des Reichsführers SS aufgelöst wurde. In Karlsruhe bestand auch eine Ortsgruppe der Agudas Jisroel, der Weltorganisation der orthodoxen Juden. Sie zählte 1937 84 Mitglieder.
Der Antisemitismus fand besonders eifrige Anhänger an der Technischen Hochschule. Kurz nach dem Boykottaufruf forderten im April 1933 [zweite Satzhälfte fehlt im Original]. Im Herbst des gleichen Jahres wurde der erste Dozent als Nichtarier entlassen. Im Laufe der folgenden Jahre wurde 15 Professoren, Dozenten und Assistenten die Lehrbefugnis bzw. die Arbeitserlaubnis entzogen wegen ihrer jüdischen Abstammung. Von dieser Maßnahme wurde auch der Vorsitzende des Oberrates der Israeliten, der Honorarprofessor Dr. Nathan Stein, betroffen, der nach seiner Emigration 1966 im Alter von 85 Jahren in New York verstarb. Er war einer der Mitbegründer der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland. Im Badischen Landestheater wurde 1933 die Verlängerung der Verträge für jüdische Schauspieler versagt.
Nach der Verkündigung der Nürnberger Gesetze verschärfte sich die Hasskampagne. 1936 wurde ein Karlsruher Arzt wegen der Beschäftigung eines arischen Mädchens in seiner Praxis zu einer Geldstrafe verurteilt. Im Herbst dieses Jahres prahlte Streicher vor 15.000 Karlsruhern mit seinem Wissen über das jüdische Problem und erklärte, er hätte nichts dagegen, wenn alle Juden Selbstmord begingen. Die einzige jüdische Organisation, die in gewissem Maße vom Nationalsozialismus toleriert wurde, war die zionistische Bewegung. Aber gerade diese fand in Karlsruhe wenig Anhang und zählte 1936 nur 215 Mitglieder. Im Bericht an den zionistischen Delegiertentag dieses Jahres in Berlin wurde die konservative Haltung der Judenschaft in der Beamtenstadt Karlsruhe bemängelt. Die Judenpolitik der Nationalsozialisten führte zu verstärkter Auswanderung. Im September 1936 sammelte sich in Karlsruhe ein Transport von 680 Emigranten, von denen ein großer Teil der Jugend-Alija, der Organisation für die Einwanderung Jugendlicher nach Palästina, angehörte. Es war eine der größten Auswanderungsgruppen, die Deutschland vor der Kristallnacht verließen.
Im März 1938 wurde die israelitische Religionsgemeinde Karlsruhe auf Grund der neuen Gesetzgebung aus einer Körperschaft des öffentlichen Rechts in einen rechtsfähigen Verein umgewandelt. Als Satzung galt die vom Oberrat 1930 verkündete Gemeindeordnung. Bis zum Herbst 1938 verlief das Leben der inzwischen durch Auswanderung, Tod und sonstigen Wegzug sehr zusammengeschrumpften Gemeinde im wesentlichen ungestört. Sie konnte auch frei über ihr Vermögen verfügen. Am 28. Oktober 1938 wurden plötzlich alle männlichen polnischen Staatsangehörigen verhaftet und nach Polen abgeschoben. Die Frauen folgten später meist freiwillig nach. Dann kam die Kristallnacht. Zahlreiche jüdische Geschäfte und Häuser wurden demoliert. Die Synagoge der Orthodoxen in der Karl-Friedrich-Straße war innen mit Öl begossen worden und brannte restlos nieder. Einige Kultgegenstände konnten beschädigt geborgen werden. Die Gemeinde musste für den Abbruch der Ruine selbst sorgen. Das Synagogengrundstück wurde von der Druckerei Braun zur Betriebserweiterung erworben. Das Gemeindehaus und das Bad durften jedoch weiterhin benutzt werden. Die Synagoge in der Kronenstraße hatte verhältnismäßig geringen Schaden erlitten. Da hinter dem Gebäude das Benzinlager einer Autofirma lag, mussten der Feuerwehr Löscharbeiten von den SA-Leuten erlaubt werden. Eine Explosion hätte verheerende Folgen für die Umgebung gehabt. Trotzdem musste auch diese Synagoge auf Kosten der jüdischen Gemeinde abgebrochen werden. Man erteilte ihr später die Erlaubnis, in den früheren Sitzungsräumen des Gemeindehauses in der Herrenstraße einen Betsaal für die Gottesdienste herzurichten. Das Büro der Gemeinde, das man in der Kristallnacht selbst nicht beachtet hatte, wurde auf eine Denunziation hin am nächsten Vormittag zertrümmert, alles brauchbare Büromaterial gestohlen. Bis gegen Abend - der Aufruf zur Beendigung der Aktion war inzwischen durch Goebbels erfolgt - dauerte hier das barbarische Treiben. Ein großer Teil der jüdischen Einwohner wurde unter Beschimpfungen und Misshandlungen durch den Straßenpöbel auf das Polizeipräsidium verbracht, unter ihnen mancher, der das Opfer persönlicher Rachsucht war. Auf dem Marktplatz, in der Kaiserstraße und den angrenzenden Straßen hatte sich eine große Menschenmenge zusammengerottet, die mit allen neuen Ankömmlingen ein Spießrutenlaufen veranstaltete. Vom Präsidium wurden die so unwürdig behandelten Mitbürger in die Gottesauer Kaserne gefahren. „Mischlinge" wurden von dort aus entlassen, die anderen für Wochen oder Monate nach Dachau ins KZ gebracht, darunter auch der Gemeindevorsteher Dr. S. Weissmann. Nach ihrer Rückkehr setzte noch einmal eine große Auswanderungswelle ein. Insgesamt verringerte sich die Zahl der Juden von 1933 bis Ende 1939 um 1744 Seelen. Mit dem Gebet um Frieden und Segen für alle schied im März 1939 auch Rabbiner Dr. Schiff von der Stätte seines fast 15jährigen Wirkens.
Zu Kriegsbeginn plante man eine Teilevakuierung Karlsruhes. Das Büro des Oberrats der Israeliten wurde nach Mannheim verlegt. Kurz danach erfolgten die ersten Ausgangsbeschränkungen für Juden. Alle Anweisungen wurden der Gemeindeverwaltung ohne schriftliche Bestätigung telefonisch durch die Gestapo mitgeteilt. Am 22. Oktober 1940 wurde schließlich der überwiegende Teil der verbliebenen Karlsruher Juden in das Lager Gurs am Fuß der Pyrenäen deportiert. Damit hörte die jüdische Gemeinde auf zu bestehen, obwohl ein Auflösungsvermerk etwa im Vereinsregister nicht aufzufinden ist.
Von den 1375 Juden, die am 17. Mai 1939 noch in Karlsruhe und dem inzwischen eingemeindeten Durlach wohnten, wurden 894 nach Gurs deportiert, wo ein großer Teil den Strapazen des Lagerlebens erlag. - Bis zum Kriegsausbruch war noch manchem die Auswanderung gelungen. - Am 1. Februar 1941 befanden sich nach einer nicht ganz vollständigen Aufstellung noch 104 Juden in der Stadt, von denen die meisten in Mischehe mit einem „arischen" Partner lebten. Möglicherweise waren es noch ein knappes Dutzend mehr, deren Namen nicht in dem genannten Verzeichnis, dafür aber in den Deportationslisten der folgenden Jahre auftauchen. 114 sind es nach einer amtlichen Aufstellung im September 1941. Von 1941-44 wurden etwa 35 Juden von Karlsruhe aus in die Vernichtungslager des Ostens verschleppt. Einzelne starben in der Haft im KZ Mauthausen. In Karlsruhe starben in dieser Zeit 35 Juden eines natürlichen Todes oder zogen den Freitod der Deportation vor. 17 Juden wurden noch im Februar 1945 nach Theresienstadt gebracht, wo der größte Teil von ihnen die Befreiung erleben konnte. Der Rest der einst so großen Gemeinde tauchte in der Illegalität unter und rettete sich oft unter menschenunwürdigen Verhältnissen lebend durch die letzten Kriegsmonate.
Der Betsaal in der Herrenstraße wurde nach dem Kriege zum Mittelpunkt des erneuerten Gemeindelebens. Die Stadt übernahm die Patenschaft über den Deportationsfriedhof in Gurs, der 1963 eingeweiht werden konnte. An die Synagoge in der Kronenstraße erinnert eine Gedenktafel.
Bis zur Erbauung von Karlsruhe war Durlach die Residenz der durch die Landesteilung von 1535 entstandenen Markgrafschaft Baden-Durlach. Schon im 14. Jahrhundert wohnten wahrscheinlich Juden in der Stadt, denn das Deutzer Memorbuch zählt sie zu den Orten, wo im Zusammenhang mit der großen Pest der Jahre 1348/49 Judenverfolgungen stattfanden. Im 15. Jahrhundert scheint es einen Judenfriedhof am östlichen Abhang des Turmberges gegeben zu haben, worauf aber nur noch der dort vorkommende Flurname Judenbusch hinweist. Er wurde spätestens im 30jährigen Krieg verwüstet. Deshalb bestatteten die Durlacher Juden seit dieser Zeit ihre Toten in Obergrombach im Hochstift Speyer, später im benachbarten Karlsruhe.
Erst 1547 wurden unter Markgraf Ernst I. nachweislich Schutzjuden in Durlach aufgenommen. Ihre Zahl und die Dauer ihres Aufenthalts blieben aber beschränkt, bis Georg Friedrich die Aufnahme von Juden in seinem Testament völlig untersagte. Trotz der wiederholten Vertreibungen der Juden aus der Markgrafschaft ließen sich immer wieder einzelne, meist nur vorübergehend in Durlach nieder. So pachtete 1638 Jakob Ettlinger aus Durlach das Salzmonopol der unteren Markgrafschaft. 1676 pachtete der schon mehrere Jahre in der Residenz ansässige Hofjude Oberländer den gesamten Eisenhandel der Stadt und das Branntweinmonopol, das ihm aber im folgenden Jahr wieder entzogen wurde. Unter Markgraf Friedrich VI. wurden erneut vereinzelt Juden in den Schutz genommen. In einem Privileg für die Stadt Durlach von 1672 bestimmte er, dass alle Juden, die ein modellmäßiges Haus dort bauten, in den Schutz aufgenommen werden sollten und gegen Erlegung des Schirmgeldes zahlreiche Vorteile, darunter die freie Religionsausübung genießen sollten. So durfte in dieser Zeit Gottesdienst in Durlach gehalten werden. Schon 1681 wird ein Rabbiner Aron Frank genannt, der zugleich in der Markgrafschaft Baden-Baden tätig war. Nach der Verwüstung des Landes durch die Franzosen 1689 wurde der Gottesdienst im Hause des Juden Moses in Grötzingen abgehalten. Der Regierung war die Errichtung einer Synagoge in der Residenz selbst unerwünscht.
Das Verhältnis zu den christlichen Einwohnern blieb gespannt. Wiederholte Bitten an den Markgrafen um Ausweisung der Juden blieben ohne Erfolg. Immer neue Schutzaufnahmen sind überliefert. Nach dem Brand von 1689 wurde als erster Emanuel Reutlinger 1695 aufgenommen. Gegen den Protest der Durlacher Kaufleute durfte er einen eigenen Laden eröffnen. Auf ihre Intervention hin mussten alle Juden seit 1698 ihre Stände in einer Gasse des Marktes beisammen haben. Von dieser Maßnahme war besonders Reutlinger betroffen, der sich heftig gegen die Aufgabe seines Ladens wehrte. Er spielte auch eine Rolle bei den Streitigkeiten über die Abhaltung des Gottesdienstes und den Rang der einzelnen Gemeindemitglieder in der Synagoge, die sich zu Anfang des 18. Jahrhunderts in der Durlacher Judenschaft erhoben. Für die Stellung in der Synagoge erklärte die Regierung das Alter der Schutzbriefe für maßgebend. 1713 erhielten die Juden Erlaubnis, den Gottesdienst im Hause Reutlingers zu feiern, nachdem er eine Zeitlang im Hause des Juden Lämlein abgehalten worden war. Auf ihre Bitten erstellte auch ihnen der aus Krakau stammende Rabbiner Isaak Salomon Kahn aus Philippsburg eine Zeremonienordnung, die alle künftigen Streitigkeiten verhindern sollte. Sie enthielt genaue Vorschriften über die Ordnung beim Gottesdienst und über das gegenseitige Verhalten in geschäftlicher Hinsicht. Auch wurde festgesetzt, dass ständig ein Vorsänger gehalten werden sollte. Zu dieser Zeit wohnten sieben jüdische Familien in der Stadt.
1713 fand eine Versammlung der Gesamtjudenschaft der Markgrafschaft im Hause Reutlingers statt, bei der eine später von der Regierung bestätigte Gerichtsordnung beraten wurde. Isaak Kahn wurde zum Landrabbiner mit Sitz in Durlach gewählt, Reutlinger und Model aus Pforzheim zu Schultheißen. Diese Regelung wurde nach der Begründung Karlsruhes hinfällig. Die meisten Juden zogen in die Neugründung. 1825 wohnten 4 in Durlach, 1862 nur 2, aber dann stieg die Zahl bis zur Eingemeindung in die Hauptstadt 1938 ständig an: 1875 waren es 14, 1900 32, 1905 46, 1925 60 Juden, 1933 noch 57.
Bei der Bezirkseinteilung von 1827 wurde Durlach der Bezirkssynagoge Karlsruhe unterstellt, 1885 dem Bezirk Bretten zugewiesen. Da die Gemeinde zu dieser Zeit sehr klein war, verlor sie ihre Selbständigkeit und wurde 1895 Filiale von Grötzingen. Eine Synagoge hat es dort nie gegeben. Seit der Eingemeindung teilten die Juden das Schicksal ihrer Karlsruher Glaubensbrüder.
Der heutige Karlsruher Stadtteil Mühlburg wurde 1670 von Markgraf Friedrich VI. zur Stadt erhoben. Die dort wohnhaften Juden erhielten die gleichen Rechte und Pflichten wie ihre Glaubensgenossen im benachbarten Durlach. Nach der erneuten Stadtrechtsverleihung von 1699 wurde eine Reihe von Juden in Mühlburg in den Schutz genommen. Eine eigene Gemeinde hat sich bis zur Eingemeindung nach Karlsruhe 1886 nicht gebildet.
In dieser Studie nachgewiesene Literatur
- Fecht, Karl Gustav, Geschichte der Stadt Durlach, 1869.
- Vgl. außerdem die allgemeine Literatur, in der Karlsruhe umfassend behandelt ist, z. B. bei Rosenthal.
Zitierhinweis: Hundsnurscher, Franz/Taddey, Gerhard: Die jüdischen Gemeinden in Baden, Stuttgart 1968, Beitrag zu Karlsruhe, veröffentlicht in: Jüdisches Leben im Südwesten, URL: […], Stand: 20.12.2022
Lektüretipps für die weitere Recherche
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- Hahn, Joachim/Krüger, Jürgen, „Hier ist nichts anderes als Gottes Haus...“. Synagogen in Baden-Württemberg. Band 1: Geschichte und Architektur. Band 2: Orte und Einrichtungen, hg. von Rüdiger Schmidt (Badische Landesbibliothek, Karlsruhe) und Meier Schwarz (Synagogue Memorial, Jerusalem), Stuttgart 2007.
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- Paulus, Jael, Die jüdische Gemeinde Karlsruhe, in: Jael Paulus, Juden in Baden 1809-1984, hg. von Oberrat der Israeliten Badens, 1984, S. 227-234.
- Twiehaus, Christiane, Synagogen im Großherzogtum Baden (1806-1918). Eine Untersuchung zu ihrer Rezeption in den öffentlichen Medien, (Schriften der Hochschule für jüdische Studien Heidelberg), Heidelberg 2012, S. 121-148.
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- Werner, Josef, Hakenkreuz und Judenstern. Das Schicksal der Karlsruher Juden im Dritten Reich, (Veröffentlichungen des Karlsruher Stadtarchivs Bd. 9), 1988.
- Württemberg - Hohenzollern – Baden (Pinkas Hakehillot. Encyclopedia of Jewish Communities from their foundation till after the Holocaust), hg. von Joseph Walk, Yad Vashem/Jerusalem 1986, S. 299-302.
Weitere Quellen
- Landesdenkmalamt Baden-Württemberg: Dokumentation der jüdischen Grabsteine in Baden-Württemberg, Fotografien (Heid und Neustraße liberal)
- Landesdenkmalamt Baden-Württemberg: Dokumentation der jüdischen Grabsteine in Baden-Württemberg, Fotografien (Kriegsstraße)
- Landesdenkmalamt Baden-Württemberg: Dokumentation der jüdischen Grabsteine in Baden-Württemberg, Fotografien (Heid und Neustraße orthodox)