Baisingen 

Die ehemalige Synagoge in Baisingen. Während der Pogrome im November 1938 wurde die Inneneinrichtung der Synagoge zerstört, danach Nutzung als Scheune. Das in den 1980er Jahren unter Denkmalschutz gestellte Gebäude ist seit Ende der 1990er Jahre Ort der Begegnung und Gedenkstätte mit Museum. [Quelle: Landeszentrale für politische Bildung BW - Gedenkstätten]
Die ehemalige Synagoge in Baisingen. Während der Pogrome im November 1938 wurde die Inneneinrichtung der Synagoge zerstört, danach Nutzung als Scheune. Das in den 1980er Jahren unter Denkmalschutz gestellte Gebäude ist seit Ende der 1990er Jahre Ort der Begegnung und Gedenkstätte mit Museum. [Quelle: Landeszentrale für politische Bildung BW - Gedenkstätten]

Dieser Beitrag stammt aus der Studie von Paul Sauer, Die jüdischen Gemeinden in Württemberg und Hohenzollern. Denkmale, Geschichte, Schicksale, hg. von der Archivdirektion Stuttgart (Veröffentlichungen der Staatlichen Archivverwaltung Baden-Württemberg 18), Stuttgart 1966.

Die Studie wird hier in der Originalfassung als Volltext zugänglich gemacht und separat bebildert. Inhalte und Sprachgebrauch entsprechen dem Stand von 1966. Weitere Informationen zur Entstehung und Einordnung der Studie finden Sie hier.

Das reichsritterschaftliche Dorf Baisingen, über das Österreich bis ins 18. Jahrhundert lehensherrliche Rechte geltend machte, gelangte nach mehrfachem Herrschaftswechsel in den Jahren 1658 und 1660 an die Herren von Werdenau und 1696 im Erbgang an die Grafen Schenk von Stauffenberg. Es wurde 1805 von Württemberg mediatisiert.

Die ersten Schutzjuden, Wolf von der brah und Josef Schmaje, fanden hier im Jahr 1640 Aufnahme. Die Herrschaft räumte ihnen zwei von ihr erstellte Häuser als Wohnungen ein. Ebenso erhielt 1665 der Jude Josef Salomon ein weiteres herrschaftliches Haus zugewiesen. Dagegen musste sich im Jahr 1725 Moses Bollak das Haus, das er beziehen wollte, selbst bauen. Doch beteiligte sich sein Schutzherr, Graf Wilhelm Schenk von Stauffenberg, der sich das Eigentumsrecht an dem Gebäude vorbehielt, mit 100 Gulden an den Baukosten und stellte zum Heranfahren der Baumaterialien unentgeltlich herrschaftliche Fuhrwerke zur Verfügung. Diese vier Häuser waren noch 1781 ausschließlich von Juden bewohnt. Die Juden lebten in Baisingen in einer Art kleinem Ghetto. Die Gasse, in der 1782 die Synagoge erbaut wurde, führt noch heute den Namen Judengasse. Die herrschaftlichen Häuser, in denen die Juden wohnten, hießen Schutzhäuser, weil mit ihnen der Schutz verbunden war, den die Herrschaft gewährte. Veräußerte ein Jude sein Haus oder seinen Hausanteil, so verlor er noch nach einer Bestimmung von 1795 den Schutz, musste Baisingen verlassen und beim Abzug 10 Prozent seines Vermögens an die Grafen Schenk von Stauffenberg entrichten. Die bauliche Unterhaltung der Schutzhäuser oblag der Herrschaft. Erst seit 1806 durften die jüdischen Einwohner auch Häuser von Christen erwerben und sich in anderen Teilen des Ortes niederlassen. Bis zu diesem Zeitpunkt war ihnen auch bei Strafe verboten, Grundbesitz zu erwerben.

Jede jüdische Familie hatte jährlich ein Schutzgeld von 15 Gulden und eine Gans an die Herrschaft abzuführen. Die Ortsgemeinde erhob den sogenannten Judentaler in Höhe von 1 Gulden 30 Kreutzer zur Unterhaltung von Brunnen, Weg und Steg.

Nach dem Güterbuch von 1765 lebten die Baisinger Juden damals in sehr ungünstigen wirtschaftlichen Verhältnissen. Vermögen besaßen Salomon Kiefe, Mose Gumble, der mit Eisen und Wolle handelte, der Pferdehändler Eisig Abraham und die beiden Viehhändler Marx Liebmändle und Benedikt Marum. Diese fünf Männer brachten zusammen 350 Gulden Steuer im Jahr für den Ritterkanton Neckar Schwarzwald auf. Dagegen hatten die folgenden 10 Schutzjuden keinerlei Besitz; sie handelten alle mit „Leder, Fellen, eisernen und kupfernen und anderen geringen Waren": Veit Gemple, Salomon Bollag, Gemple Kiese (oder Kiefe), Fromele Seligmann, Seligmann, Fromele (Abraham) Marx, Herz Seligmann, Schmay Polaks Sohn, Josef Kiefe, Kiese Kiefe. Jeder von ihnen bezahlte im Jahr nur 15 Gulden Steuer, während „des roten Veitlens Wittib" auch davon befreit war.

Der jüdischen Gemeinde stand im 18. Jahrhundert ein Parnas oder Judenschultheiß vor. 1788 versah Marum Löb Kiefe dieses Amt. 1765 lebten in Baisingen 15 jüdische Familien, 1771 21 Familien. Anfang des 19. Jahrhunderts war die Zahl der Schutzjudenfamilien auf 24 angewachsen. Über diese Zahl hinaus und 3 ledige Haushaltungen durften damals keine Juden aufgenommen werden. Junge Männer, die um den Schutz nachsuchten, hatten zu warten, bis eine alte Familie ausgestor­ben war.

Woher die Baisinger Juden zugewandert sind, ist im einzelnen nicht bekannt. Doch steht fest, dass 1670 einige Familien (darunter wohl die Familie Kiefe) aus Wien nach Baisingen gekommen sind, nachdem Kaiser Leopold in jenem Jahr die große Wiener jüdische Gemeinde vertrieben und die dortige Judenstadt in Leopold­stadt umbenannt hatte. Noch 1844 wurde hier eine Thorarolle gezeigt, die die Wiener Juden damals nach Baisingen gebracht hatten. 1782 erbaute die jüdische Gemeinde eine Synagoge, die sie 1837 vergrößerte. Einen Friedhof hatten die Baisinger Juden 1778 auf einer Wiese, die ihnen die Ortsherrschaft gegen einen jährlichen Zins von 5 Gulden überlassen hatte, angelegt. Zuvor hatten sie ihre Toten auf dem Judenfriedhof in Mühringen beerdigt. 1857 erwarb die Gemeinde das Areal des Friedhofs um 600 Gulden zu vollem Eigentum.

Seit 1800 wurde von der Obrigkeit darauf gesehen, dass die jungen Juden ein Handwerk ergriffen und es später auch ausübten. Die wirtschaftlichen Verhältnisse besserten sich im 19. Jahrhundert. Im Jahr 1848 wurde das sonst gute Verhältnis zwischen Christen und Juden für kurze Zeit getrübt. Unter dem Eindruck von Nachrichten über revolutionäre, gegen Juden gerichtete Umtriebe im Elsass rotteten sich in Baisingen am Abend des 24. April junge Dorfbewohner zusammen, warfen den Juden die Fenster ein und erpressten von dem reichen Wolf Kiefe, der neben der Synagoge wohnte, 400 Gulden. Einige wohlhabende Juden flohen tags darauf aus Angst vor weiteren Ausschreitungen mit Sack und Pack nach Stuttgart. Der katholische Ortsgeistliche erreichte durch sein entschiedenes Auftreten, dass das meiste Geld zurückgegeben wurde. Die gerichtliche Untersuchung und die Verurteilung der Rädelsführer vermochten aber weder er noch Rabbiner Dr. Wassermann aus Mühringen trotz persönlicher Vorsprache bei der Regierung in Stuttgart zu verhindern.

1776 wird ein Privatlehrer Reh Leime (Lehmann Kiefe) erwähnt. 1827 wurde eine israelitische Volksschule gegründet und dem katholischen Kirchenrat unterstellt. Ihr erster Lehrer, Michael Hirsch, hatte zuvor privatim Schule gehalten, wobei er das Schulgeld selbst eingezogen und von jedem Schüler pro Tag ein gesägtes und gespaltenes Scheitlein Holz verlangt hatte. Die Schule bestand als freiwillige israelitische Konfessionsschule noch 1933. Sie zählte damals 8 Schüler, 1926 waren es 12 und 1890 56 Schüler gewesen.

Wie bei anderen jüdischen Landgemeinden erreichte auch die Seelenzahl der hiesigen Gemeinde um 1850 ihren höchsten Stand. 1807 lebten in Baisingen 115 Juden, 1824 180, 1831 198, 1843 235, 1854 231, 1869 199, 1886 190, 1900 148, 1910 108, 1933 (Juni) 86. Im Ersten Weltkrieg fielen drei Mitglieder der israelitischen Gemeinde: Friedrich Kahn, Max Weinberger und Max Josef Wolf.

Von den jüdischen Einwohnern, die 1933 noch in Baisingen lebten, betätigten sich die meisten im Viehhandel (mindestens 17) und einige im Wandergewerbe. Im Besitz von Juden waren eine Metzgerei, eine Schneiderei, ein Kolonialwarengeschäft, zwei Schuhhandlungen und ein Geschäft für Schuhmachereiartikel.

SA-Leute aus Horb und einigen anderen Orten der Umgebung demolierten unter Führung von Parteifunktionären am Vormittag und nochmals am Abend des 10. November 1938 die Synagoge des Dorfes. Am Abend drangen sie auch in die Häuser von 13 wirtschaftlich meist gutsituierten jüdischen Familien ein, zerstörten die Wohnungseinrichtungen und zerschlugen Türen und Fensterrahmen. Die einheimische Bevölkerung betätigte sich nicht an dem brutalen Zerstörungswerk, war im Gegenteil sehr aufgebracht darüber und versuchte vereinzelt, es zu verhindern. Die SA-Leute wagten nur in Zivil mit tief ins Gesicht gedrückten Hüten und mit hoch geschlagenen Mantelkragen durch die Straßen des Dorfes zu schleichen.

Seit Ende 1938 wurde das Leben für die aus allen Berufen ausgeschlossenen Juden fast unerträglich. Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs mussten sie einen Teil ihrer Häuser freimachen und in enge Wohnungen zusammenrücken. Juden aus Stuttgart und anderen Städten wurden im Frühjahr 1941 hierher zwangseingewiesen. In den Jahren 1941 und 1942 traten von Baisingen aus mehr als 60 jüdische Bürger den Weg in die Deportation an (darunter etwa 30 Zwangseingewiesene). Von diesen erlebten nur vier das Kriegsende: Karoline Marx, Harry Kahn, Adolf und Theresia Haarburger. Eine Frau aus Stuttgart beging unmittelbar vor der Zwangsverschleppung Selbstmord. Bereits 1936 hatte man Viktor Veit Gideon nach einem Verhör durch die Gestapo bei Mühlen tot aufgefunden. Etwa 60 Juden wanderten zwischen 1933 und 1941 aus, davon ein Teil erst im letzten Augenblick. Heute lebt nur noch eine jüdische Familie in Baisingen, die ein schweres Verfolgungsschicksal hatte.[1] An die jüdische Gemeinde erinnern der Friedhof, das Ehrenmal für die in der Deportation Umgekommenen sowie die zweckentfremdete, umgebaute Synagoge, die als Scheune dient.

 

 

In dieser Studie nachgewiesene Literatur

  • Beschreibung des Oberamts Horb, 1865.
  • Bild vom Friedhof, in: Jüdische Gotteshäuser und Friedhöfe, 1932, S. 56.
  • Neufeld, Siegbert, Das ehemalige Rabbinat Horb, in: Funk­manuskript Südwestfunk Tübingen WK, 1733. 
  • Oberlehrer Straßburger, Die Juden in Baisingen, in: Gemeindezeitung für die israelitischen Gemeinden Württembergs, Jg. 2, Nr. 20, 15. Januar 1926, S. 545-547.

Anmerkungen

[1] Diese Information bezieht sich auf das Jahr 1966, als die Studie erschien.

Ergänzung 2023:

1984 wurde das Gebäude unter Denkmalschutz gestellt, ehe die Stadt Rottenburg es 1988 erwarb und bis 1998 restaurierte. Heute befindet sich in der ehemalige Synagoge ein Museum zur Geschichte der jüdischen Gemeinde Baisingen.

Zitierhinweis: Sauer, Paul, Die jüdischen Gemeinden in Württemberg und Hohenzollern, Stuttgart 1966, Beitrag zu Baisingen, veröffentlicht in: Jüdisches Leben im Südwesten, URL: […], Stand: 20.11.2022

Lektüretipps für die weitere Recherche

  • 750 Jahre Baisingen. Eine Gemeinde im Gäu auf dem Weg in die Gegenwart, hg. von Karlheinz Geppert/Peter Ehrmann, Rottenburg am Neckar 2009.
  • Becker, Franziska, Die nationalsozialistische Judenverfolgung in Baisingen, in: Der Sülchgau 32 (1988), S.169-192.
  • Becker, Franziska, Gewalt und Gedächtnis. Erinnerung an die nationalsozialistische Verfolgung einer jüdischen Landgemeinde, Göttingen 1994.
  • Geppert, Karlheinz, Jüdisches Baisingen. Einladung zu einem Rundgang, Orte jüdischer Kultur, Haigerloch 2000.
  • Geppert, Karlheinz, Vom Schutzjuden zum Bürger, in: Der Sülchgau 32 (1988), S.145-168.
  • Gilam, Abraham, Die historische Bedeutung der Megillat Baisingen, in: Bulletin des Leo Baeck Instituts 52 (1976), S.78-87 und S. 88-95.
  • Hahn, Joachim/Krüger, Jürgen, „Hier ist nichts anderes als Gottes Haus...“. Synagogen in Baden-Württemberg. Band 1: Geschichte und Architektur. Band 2: Orte und Einrichtungen, hg. von Rüdiger Schmidt (Badische Landesbibliothek, Karlsruhe) und Meier Schwarz (Synagogue Memorial, Jerusalem), Stuttgart 2007.
  • Krins, Hubert, Baisingen. Zeugnisse jüdischen Lebens, in: Der Sülchgau 38 (1994).
  • Krins, Hubert, Die ehemalige Dorfsynagoge zu Rottenburg-Baisingen. Gestalt, Funktion, Bedeutung, in: Sülchgau 38, (2009).
  • Krins, Hubert, Die Synagoge in Rottenburg-Baisingen, ihre Rettung und Erhaltung, in: Denkmalpflege in Baden-Württemberg 3 (1995), S. 91-98.
  • Léon, Annie, La famille Kiefe, entre France et Allemagne, in: Généalo-J. Revue francaise de généalogie juive 149 (2022).
  • Müller, Hans Peter, Die Juden in der Grafschaft Hohenberg, in: Der Sülchgau 25 (1981), S.36-43.
  • Nationalsozialismus im Landkreis Tübingen. Eine Heimatkunde, hg. vom Ludwig-Uhland-Institut Tübingen, 1988, S. 311-348.
  • Staudacher, Barbara, Das nationalsozialistische Schächtverbot und seine Auswirkungen am Beispiel jüdischer Metzger in Rexingen, Horb und Baisingen, in: Ausgrenzung. Raub. Vernichtung. NS-Akteure und „Volksgemeinschaft“ gegen die Juden in Württemberg und Hohenzollern 1933 bis 1945, hg. von Heinz Högerle/Peter Müller/Martin Ulmer, Stuttgart 2019, S. 157-167.
  • Wiederhergestellte Synagogen. Raum - Geschichte - Wandel durch Erinnerung, hg. von Benigna Schönhagen.
  • Württemberg - Hohenzollern – Baden (Pinkas Hakehillot. Encyclopedia of Jewish Communities from their foundation till after the Holocaust), hg. von Joseph Walk, Yad Vashem/Jerusalem 1986, S. 64-66.
Suche