Berlichingen mit Bieringen
Dieser Beitrag stammt aus der Studie von Paul Sauer, Die jüdischen Gemeinden in Württemberg und Hohenzollern. Denkmale, Geschichte, Schicksale, hg. von der Archivdirektion Stuttgart (Veröffentlichungen der Staatlichen Archivverwaltung Baden-Württemberg 18), Stuttgart 1966.
Die Studie wird hier in der Originalfassung als Volltext zugänglich gemacht und separat bebildert. Inhalte und Sprachgebrauch entsprechen dem Stand von 1966. Weitere Informationen zur Entstehung und Einordnung der Studie finden Sie hier.
In den Besitz des Dorfes teilten sich bis Anfang des 19. Jahrhunderts die Herren von Berlichingen und das reichsunmittelbare Benediktinerkloster Schöntal. Die Herren von Berlichingen siedelten schon in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts Juden an; 1623 wird die jüdische Siedlung erstmals erwähnt, im gleichen Jahr der Friedhof. Nach dem Werk „Jüdische Gotteshäuser und Friedhöfe in Württemberg" war noch 1932 ein Grabstein aus dem Jahr 1659 erhalten . Der Überlieferung nach soll ein Teil der jüdischen Familien von Spanien über das Elsass nach Berlichingen gekommen sein. Wie die Herren von Berlichingen nahm auch das Kloster Schöntal Juden auf. Da nach Auffassung des Klosters der Judenschutz gemeinschaftlich war, die Berlichingen ihn in ihrem Gebiet aber ausschließlich für sich in Anspruch nahmen, kam es zwischen beiden Herrschaften fortgesetzt zu Streitigkeiten. 1783 protestierte Schöntal beispielsweise dagegen, dass die Berlichingen Juden auch christliche Häuser zum Wohnen überließen. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts hatten die Herren von Berlichingen 25 Schutzjuden im Ort, Schöntal einen. 1807 zählte Berlichingen insgesamt 128 jüdische Einwohner. 1791 bzw. 1806 erbaute die israelitische Gemeinde eine Synagoge.
1809 stand der Gemeinde Rabbiner Jakob Bär vor. Bei der kirchlichen Neuorganisation der israelitischen Religionsgemeinschaft in Württemberg im Jahr 1832 wurde Berlichingen Sitz eines Rabbinats, das die israelitischen Gemeinden Berlichingen, Nagelsberg, Ernsbach und Olnhausen umfasste. Als Rabbinatsverweser bzw. Rabbiner wirkten bis 1840 Maier Hirsch Löwengart, bis 1851 Dr. Abraham Wälder. Nach der Versetzung von Dr. Wälder nach Laupheim wurde das Rabbinat Berlichingen nicht mehr besetzt, die hiesige israelitische Religionsgemeinde bald darauf dem Rabbinat Mergentheim zugewiesen. 1883 bestand hier eine israelitische Konfessionsschule. Die in Berlichingen am häufigsten vertretenen jüdischen Familiennamen waren Kaufmann, Metzger, Gottlieb und Berlinger. Aus der Familie Berlinger gingen mehrere württembergische Rabbiner und Lehrer hervor.
Die israelitische Gemeinde vergrößerte sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, ging aber seit der Jahrhundertmitte wieder zurück: 1824 169, 1831 203, 1843 223, 1854 249, 1869 192, 1886 121, 1900 89, 1910 95, 1933 (Juni) 68 Juden.
Im 19. Jahrhundert gehörten zur israelitischen Religionsgemeinde auch die Bieringer Juden, die aber schon 1900 alle abgewandert waren (1854 50, 1883 16). In Bieringen befanden sich bereits 1654 drei jüdische Familien, von denen das Erzstift Mainz Schutz- wie Aufnahmegeld beanspruchte.
Im 19. Jahrhundert waren die Juden von großer wirtschaftlicher Bedeutung für das Dorf Berlichingen, dessen verhältnismäßig kleine Markung damals zum größten Teil dem Staat und den Herren von Berlichingen gehörte. 1883 gab es hier nicht weniger als 138 Gewerbebetriebe. Die Oberamtsbeschreibung Künzelsau (1883) stellte damals fest: „Sämtliche Gewerbe sind vertreten, was einen starken Umsatz und an Sonntagen einen starken Verkehr von Seiten der benachbarten badischen und württembergischen Orte veranlasst. An solchen Tagen gleicht Berlichingen einem belebten Städtchen." Um 1860 bestanden zwei gutgeführte koschere Gaststätten: „Zum Löwen" und „Zur Krone".
Der Handel der zahlreichen jüdischen Viehhändler erstreckte sich bis in die Oberämter Hall, Crailsheim und Ellwangen. Mit der Abwanderung der Juden verlor Berlichingen seine Bedeutung als wirtschaftlicher Mittelpunkt für ein größeres Hinterland. 1854 zählte der Ort 1.524 Einwohner, 1961 dagegen nur 828.
Die 1933 noch ansässigen jüdischen Bürger betätigten sich vornehmlich im Viehhandel, nebenberuflich zum Teil auch als Metzger. Aron Berlinger und sein Sohn Asur betrieben bis 1935 eine Buchdruckerei, Simon Metzger eine Gastwirtschaft und Metzgerei.
In den Jahren der Weimarer Republik gehörte Simon Metzger zeitweise dem Gemeinderat an. Unter den Berlichinger Gefallenen des Ersten Weltkriegs befand sich der Musketier Wilhelm Metzger. Juden und Christen lebten in gutem Einvernehmen, das sich auch mit der Machtübernahme durch den Nationalsozialismus zunächst nur wenig änderte. Erst 1935 weigerte sich das Bürgermeisteramt, den Juden die bisher üblichen 14 Birken für das Laubhüttenfest aus dem Gemeindewald zu liefern.
Das religiöse Leben der kleinen jüdischen Gemeinde war noch bis in die Zeit des Nationalsozialismus hinein recht rege. 1918 fand hier der gesamtdeutsche Bundestag der zionistischen „Blau-Weiß"-Jugendorganisation statt, an dem u. a. Ortsgruppen aus Fulda, Wiesbaden, Hamburg, Berlin, Mannheim und Stettin teilnahmen. Auf dem Gut Halsberg Gemeinde Schöntal, das jüdische Bürger Berlichingens und Künzelsaus (Metzger und Baer) von den Freiherrn von Berlichingen gekauft hatten, bestand zeitweise eine Hachscharah, ein Heim, das junge Menschen für die Auswanderung nach Palästina vorbereitete. Im Dritten Reich unterhielt die israelitische Gemeinde (Religions-Oberlehrer Schloss) eine Jüdische Jugendherberge, die später den Namen „Jüdisches Übernachtungsheim" annehmen musste, mit 13 Betten. In der Kristallnacht 1938 demolierten SA-Leute aus Neuhof, Sindringen, Öhringen und Berlichingen die Inneneinrichtung der Synagoge, anschließend zerschlugen sie die Fensterscheiben und Wohnungseinrichtungen einiger Judenhäuser (Benzion Gottlieb, Simon Metzger). Im Hause von Simon Metzger sollen sie nicht einmal das Milchfläschchen des einjährigen Töchterchens verschont haben. Drei Männer wurden verhaftet und wochenlang im Konzentrationslager Dachau festgehalten. Seit 1938 verschlechterten sich die Lebensverhältnisse der von allen Berufen ausgeschlossenen jüdischen Einwohner rasch. Ein Teil war auf die Unterstützung israelitischer Stellen angewiesen. Christliche Nachbarn und Bekannte halfen mit Lebensmitteln aus. Die Mehrzahl der jüdischen Bürger vermochte unter sehr erschwerten Bedingungen noch auszuwandern. 1938 beging Norbert Nathan Kaufmann in Palästina Selbstmord; Motiv: Verfolgungswahn. Mindestens 20 Juden aber, die 1933 hier wohnhaft gewesen waren, verloren ihr Leben in der Deportation. Unter ihnen befand sich auch die vierköpfige Familie Samuel Gottlieb, die nach Holland ausgewandert war, dort aber verhaftet und 1943 im Lager Sobibor in Polen ermordet wurde. Ein am 1. Dezember 1941 nach Riga zwangsverschlepptes Mädchen schrieb im Herbst 1944 von Westpreußen aus einen letzten erschütternden Brief an eine Bekannte in Berlichingen.
Die israelitische Gemeinde wurde bereits im Juli 1939 aufgelöst, die Synagoge später abgerissen. Heute erinnert nur noch der große, an der Straße nach Berlichingen-Neuhof gelegene israelitische Friedhof, auf dem jahrhundertelang auch die Juden von Bieringen, Ernsbach, Olnhausen und Ohrnberg ihre Toten beerdigten, an die jüdische Gemeinde in Berlichingen.
In dieser Studie nachgewiesene Literatur
- Beschreibung des Oberamts Künzelsau, 1883.
- Bilder vom Friedhof und von der Synagoge, in: Jüdische Gotteshäuser und Friedhöfe, 1932, S. 57f.
- Dürr, Günther, Das Schicksal der Juden in Stadt und Kreis Künzelsau, in: Hohenloher Chronik, 11. Jg., Nr. 1, 11. Januar 1964.
- Schwarz-Kaufmann, Esther, Eine Berlichingerin erzählt, in: Feiertagsschrift der Israelitischen Kultusvereinigung Württembergs, Sept. 1963, S. 26f.
Zitierhinweis: Sauer, Paul, Die jüdischen Gemeinden in Württemberg und Hohenzollern, Stuttgart 1966, Beitrag zu Berlichingen, veröffentlicht in: Jüdisches Leben im Südwesten, URL: […], Stand: 20.11.2022
Lektüretipps für die weitere Recherche
Berlichingen
- Bamberger, Naftali Bar-Giora, Die jüdischen Friedhöfe im Hohenlohekreis, Künzelsau 2002.
- Berlinger, Simon, Synagoge und Herrschaft. 400 Jahre jüdische Landgemeinde Berlichingen, Sigmaringendorf 1991.
- Bloch, Fritz Elieser, Vor 45 Jahren in Berlichingen, in: Pessach 5723 (1963), S. 18.
- Hahn, Joachim/Krüger, Jürgen, „Hier ist nichts anderes als Gottes Haus...“. Synagogen in Baden-Württemberg. Band 1: Geschichte und Architektur. Band 2: Orte und Einrichtungen, hg. von Rüdiger Schmidt (Badische Landesbibliothek, Karlsruhe) und Meier Schwarz (Synagogue Memorial, Jerusalem), Stuttgart 2007.
- Kühner, Heinrich, Das Ende der Berlichinger Judengemeinde, in: Schöntaler Heimatbuch (1982), S. 132-142.
- Schwarz-Kaufmann, Esther, Eine Berlichingerin erzählt, in: Feiertagsschrift 5724 (1963), S. 26-27.
Bieringen
- Bamberger, Naftali Bar-Giora, Die jüdischen Friedhöfe im Hohenlohekreis, Künzelsau 2002.
- Berlinger, Simon, Synagoge und Herrschaft. 400 Jahre jüdische Landgemeinde Berlichingen, Sigmaringendorf 1991.
- Familie Baruch Stern, in: Gemeindezeitung für die israelitischen Gemeinden Württembergs, Jg. VI, Nr. 6 vom 16.6.1929, S. 88-89.
- Hahn, Joachim/Krüger, Jürgen, „Hier ist nichts anderes als Gottes Haus...“. Synagogen in Baden-Württemberg. Band 1: Geschichte und Architektur. Band 2: Orte und Einrichtungen, hg. von Rüdiger Schmidt (Badische Landesbibliothek, Karlsruhe) und Meier Schwarz (Synagogue Memorial, Jerusalem), Stuttgart 2007.
- Ludwig Lämmlein Stern, in: Jüdisches Lexikon Bd. IV, 2 Sp. 719.
- Rauser, Jürgen Hermann, Ortsgeschichte Bieringen, in: Schöntaler Heimatbuch (1982), S. 257.