Göppingen mit Kirchheim/Teck und Süßen

Die neue Synagoge in Göppingen, links die Knabenschule, Ansichtskarte von Eugen Felle, Anfang 20. Jh. Das Gebäude wurde während der Pogrome im November 1938 durch Inbrandsetzung zerstört. [Quelle: TECHNOSEUM, Archiv]
Die neue Synagoge in Göppingen, links die Knabenschule, Ansichtskarte von Eugen Felle, Anfang 20. Jh. Das Gebäude wurde während der Pogrome im November 1938 durch Inbrandsetzung zerstört. [Quelle: TECHNOSEUM, Archiv]

Dieser Beitrag stammt aus der Studie von Paul Sauer, Die jüdischen Gemeinden in Württemberg und Hohenzollern. Denkmale, Geschichte, Schicksale, hg. von der Archivdirektion Stuttgart (Veröffentlichungen der Staatlichen Archivverwaltung Baden-Württemberg 18), Stuttgart 1966.

Die Studie wird hier in der Originalfassung als Volltext zugänglich gemacht und separat bebildert. Inhalte und Sprachgebrauch entsprechen dem Stand von 1966. Weitere Informationen zur Entstehung und Einordnung der Studie finden Sie hier.

Die im 14. Jahrhundert in Göppingen bestehende jüdische Gemeinde, über die Näheres nicht bekannt ist, fiel den Verfolgungen im Jahr 1349 zum Opfer. 1462 ließen sich mit Erlaubnis von Graf Eberhard dem Jüngeren einige Juden nieder, die aber wahrscheinlich bald wieder vertrieben wurden. Vom 16. bis zum 19. Jahrhun­dert lebten keine Juden in der altwürttembergischen Stadt. Die ersten Juden, die nach Erlass der Emanzipationsgesetze von 1828 und 1848/49 nach Göppingen über­ siedelten, waren die Jebenhäuser Fabrikanten Josef Raff, Salomon Einstein (1849) und die Brüder Leopold B. und Elias B. Gutmann (1850), die hier bedeutende Industrieunternehmen aufbauten. 1857 wohnten 10 Israeliten in Göppingen, 1867, dem Zeitpunkt der Begründung der israelitischen Gemeinde Göppingen, 30 selb­ständige Männer, 27 Frauen und 75 Kinder. Die meisten dieser jüdischen Bürger waren aus Jebenhausen zugezogen, einige auch aus Ludwigsburg, Laupheim, Lauch­heim, Mühlbach in Baden, Neckarsulm und Nordstetten.

1867 wurde ein Betsaal eingerichtet, 1881 fand die Einweihung der Synagoge statt, die bis zum November 1938 Mittelpunkt des regen Gemeindelebens blieb. 1902 überließ die Stadt der jüdischen Gemeinde kostenlos einen Platz zur Anlage eines Friedhofs. Schon 1867 verlegte Rabbiner Hertz seinen Sitz von Jebenhausen nach Göppingen. 1874 trat an die Stelle das Rabbinats Jebenhausen das Rabbinat Göppingen (Rabbiner: Kirchenrat Max Hertz 1867-95, Dr. Hermann Kroner 1896-97, Jeseia Straßburger 1897-1906, Dr. Aaron Tänzer 1907-37 und Dr. Luit­pold Wallach 1937-39). Die Gemeinde wuchs rasch weiter an: 1871 194, 1880 244, 900 324, 1910 311, 1925 351 Mitglieder. Karitative Aufgaben wurden durch einen Wohltätigkeitsverein (gegr. 1875), einen Frauenverein (gegr. 1881), einen Männer-(Unterstützungs-)Verein (gegr. 1901) und eine israelitische Wohlfahrts­zentrale (gegr. 1921) wahrgenommen. Der Förderung des kulturellen und gesell­schaftlichen Lebens dienten der 1868 ins Leben gerufene Verein „Merkuria", der Israelitische Lese- und Familienverein (gegr. 1876) usw. Mehr politische Zielsetzun­gen (Abwehr des Antisemitismus) hatte der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, dessen Göppinger Ortsgruppe seit 1908 bestand, und der Reichsbund jüdischer Frontsoldaten, der seit 1921 hier vertreten war. Am Ersten Weltkrieg nahmen 92 Mitglieder der jüdischen Gemeinde teil, von denen sich 9 kriegsfreiwillig gemeldet hatten (unter ihnen Rabbiner Dr. Tänzer und sein Sohn Paul). Sieben Göppinger Juden kehrten aus dem Felde nicht mehr zurück: Salo Brauer, Moritz Fuchs, Milton Hirsch, Albert Netter, Max Netter, Eugen Rothschild und Arthur Simon.

Den Juden kommt ein wichtiger Anteil an dem wirtschaftlichen Aufschwung Göppingens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu. Schon in Jebenhausen hatten sie einige bedeutsame Industrieunternehmen gegründet, die in Göppingen voll zur Entfaltung gelangten. Bereits 1852 gab es hier 11 jüdische Fabrikanten vornehmlich in der Textilbranche. Die meisten dieser Fabrikanten waren nicht aus dem Handelsstand hervorgegangen, sondern aus dem Handwerk (geprüfte Weber­ meister). Die 1840 in Jebenhausen gegründete Firma A. Gutmann Co. war eine der ältesten Weberei-Firmen Württembergs. Sie beschäftigte 1927 zusammen mit ihren Zweigbetrieben in Hechingen (B. Baruch Söhne) und Memmingen 1.150 Ar­beiter und 110 Angestellte. Neben ihr ist u.a. noch die Firma Raff Söhne zu erwähnen, die im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts ebenfalls in Jebenhausen ent­standen war und sich in Göppingen zu einem beachtlichen Unternehmen entwickelte.

J. Ottenheimer und Daniel Rosenthal kommt das Verdienst zu, Göppingen zum Mittelpunkt der württembergischen Korsettindustrie gemacht zu haben. Auch in anderen Produktionszweigen (Filztuch-, Kaliko-, Herrenkleiderfabrikation, Strickwaren, Trikotweberei usw.) waren jüdische Firmen beteiligt. Zahlreich betätigten sich Juden im Handel. Eine Reihe von Geschäften war in jüdischem Besitz.

Das Verhältnis zwischen Juden und Nichtjuden war bis in die Jahre der Weimarer Republik gut. Noch 1927 bezeugte Rabbiner Dr. A. Tänzer, der Geschichtsschreiber der jüdischen Gemeinden Jebenhausen und Göppingen, dass der konfessio­nelle Friede in der Stadt bisher nie gestört worden sei. Die jüdische Gemeinde war angesehen, ihre Mitglieder spielten im öffentlichen Leben der Stadt eine Rolle. So gehörten u.a. die Industriellen Josef Raff und Leopold A. Gutmann jahrelang dem Bürgerausschuss und dem Gemeinderat an. 1927 praktizierten 2 jüdische Ärzte und ein jüdischer Zahnarzt. Dr. Albert Steiner unterhielt ein Rechtsanwaltsbüro. Die Zwing'sche Apotheke betrieb seit 1907 Moritz Neuburger aus Konstanz. Nicht wenig zum Ansehen der jüdischen Gemeinde trugen auch die Rabbiner bei. So war Rabbiner Dr. Tänzer, der 30 Jahre in Göppingen wirkte, seit 1921 Ehrenmitglied des Göppinger Veteranen - und Militärvereins „Kampfgemeinschaft". Er legte auch seit 1909 den Grundstock für eine Volksbibliothek, der späteren Städtischen Leih­bücherei.

Mit der Machtübernahme durch den Nationalsozialismus im Jahre 1933 änderte sich die Situation für die Juden in Göppingen grundlegend. Zwar gehörte Göppingen nicht zu den Städten, die sich durch hemmungslosen Rassenhass hervortaten (bezeichnenderweise zogen zwischen 1933 und 1940 noch 189 Juden freiwillig aus anderen Gemeinden nach Göppingen zu), trotzdem wurden auch hier die Juden gesellschaftlich immer mehr isoliert, wirtschaftlich boykottiert und so nach und nach zur Auswanderung gezwungen. Eine nach der anderen angesehenen jüdischen Firma musste in arische” Hände übergeführt oder liquidiert werden, bis schließlich im November und Dezember 1938 die letzten jüdischen Betriebe und Geschäfte zwangsenteignet wurden. Die schrumpfende jüdische Gemeinde hatte 1936 für ihre Kinder eine eigene Schule einzurichten und viele in Not geratene Familien zu betreuen.

In der sogenannten Kristallnacht 1938 wurde auch die Göppinger Synagoge angezündet; zahlreiche Männer wurden verhaftet und oft monatelang in den Konzentrationslagern festgehalten. Im September 1939 wurde die israelitische Religionsgemeinde Göppingen, zu der auch Juden in Kirchheim/Teck (1933: 35) und Süßen (1933: 12) gehörten, mit der Großgemeinde Stuttgart vereinigt.

Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs vergrößerte sich die Not der Zurückgebliebenen. Die Chancen, sich im Ausland in Sicherheit zu bringen, verringerten sich mehr und mehr. Im Herbst 1941 setzten die Deportationen ein. Von den 87 Juden, die von Göppingen aus zwangsverschleppt wurden, überlebten nur fünf die Verfolgungszeit. Die anderen fanden in Theresienstadt und den Vernichtungslagern des Ostens den Tod. Ebenso kamen 19 jüdische Bürger, die 1933 in Süßen und Kirchheim gelebt hatten bzw. zwischen 1933 und 1939 dort zugezogen waren, in der Deportation um.

 

In dieser Studie nachgewiesene Literatur

  • Bild von der Synagoge, in: Jüdische Gotteshäuser und Friedhöfe, 1932, S. 78.
  • 87 Göppinger Juden deportiert. Fünf Überlebende, in: Neue Württ. Zeitung, 26. Februar 1960.
  • Immer in der Nacht kam die Gendarmerie, in: Neue Württ. Zeitung, 18. März 1960.
  • Tänzer, Aaron, Die Geschichte der Juden in Jebenhausen und Göppingen, Stuttgart 1927.

 

Zitierhinweis: Sauer, Paul, Die jüdischen Gemeinden in Württemberg und Hohenzollern, Stuttgart 1966, Beitrag zu Göppingen, veröffentlicht in: Jüdisches Leben im Südwesten, URL: […], Stand: 20.11.2022

Lektüretipps für die weitere Recherche

Göppingen

  • Bamberger, Naftali Bar-Giora, Die jüdischen Friedhöfe Jebenhausen und Göppingen, 1990.
  • Germania Judaica, Bd.2, 1. Halbband, hg. von Zvi Avneri, Tübingen 1968, S. 281.
  • Germania Judaica, Bd.3, 1. Teilband, hg. von Arye Maimon/Mordechai Breuer/Yacov Guggenheim, Tübingen 1987, S. 444.
  • Geschmay Mevorach, Anna Laura, Von der Schwäbischen Alb zur Venezianischen Lagune, Göppingen 2011.
  • Hahn, Joachim/Krüger, Jürgen, „Hier ist nichts anderes als Gottes Haus...“. Synagogen in Baden-Württemberg. Band 1: Geschichte und Architektur. Band 2: Orte und Einrichtungen, hg. von Rüdiger Schmidt (Badische Landesbibliothek, Karlsruhe) und Meier Schwarz (Synagogue Memorial, Jerusalem), Stuttgart 2007.
  • Jüdisches Museum Göppingen in der Alten Kirche Jebenhausen, Bd. 29, hg. vom Stadtarchiv Göppingen, Weißenhorn 1992.
  • Kauß, Dieter, Juden in Jebenhausen und Göppingen 1777 bis 1945, Bd. 16, hg. vom Stadtarchiv Göppingen, Göppingen 1981.
  • Keller, Walter, Pfarrstraße 33. Das Haus der ersten Göppinger Synagoge, in: Schwäbische Heimat (1982), S. 190-193.
  • Kühner, Doris, Der Rabbiner Dr. Aron Tänzer und die jüdische Gemeinde in Göppingen. Zulassungsarbeit zur Ersten Dienstprüfung für das Lehramt an Grund- und Hauptschulen an der PH Schwäbisch Gmünd, Schwäbisch Gmünd 1981.
  • Mayer, Hans, Die Firma Bernheimer und der Göppinger Kräutergeist „Borato“, hg. von Jüdisches Museum Göppingen, 2018.
  • Rabbiner Dr. Aron Tänzer. Gelehrter und Menschenfreund 1871-1937, (Schriften des Vorarlberger Landesarchivs Nr. 3), hg. von Karl Heinz Burmeister, 1987.
  • Rueß, Karl-Heinz, Die Israelitische Gemeinde Göppingen 1927-1945, in: Geschichte der Juden in Jebenhausen und Göppingen, hg. von Aaron Tänzer, Neuausgabe, Weißenhorn 1988.
  • Rueß, Karl-Heinz, „Was in Paris geschah, das habt ihr zu büßen!“. Die Reichspogromnacht in Göppingen, Göppingen 1999.
  • Tänzer, Aron, Geschichte der Juden in Jebenhausen und Göppingen, Berlin/Stuttgart/Leipzig 1927.
  • Württemberg - Hohenzollern – Baden (Pinkas Hakehillot. Encyclopedia of Jewish Communities from their foundation till after the Holocaust), hg. von Joseph Walk, Yad Vashem/Jerusalem 1986, S. 71-74.

Kirchheim/Teck

  • Bamberger, Naftali Bar-Giora, Die jüdischen Friedhöfe Jebenhausen und Göppingen, 1990.
  • Germania Judaica, Bd.2, 1. Halbband, hg. von Zvi Avneri, Tübingen 1968, S. 399-400.
  • Germania Judaica, Bd.3, 1. Teilband, hg. von Arye Maimon/Mordechai Breuer/Yacov Guggenheim, Tübingen 1987, S. 615-616.
  • Götz, Rolf, Zur Lokalisierung der 1329 genannten Kirchheimer Synagoge, Bd.7, hg. vom Stadtarchiv Kirchheim unter Teck, 1988, S. 137-144.
  • Hahn, Joachim/Krüger, Jürgen, „Hier ist nichts anderes als Gottes Haus...“. Synagogen in Baden-Württemberg. Band 1: Geschichte und Architektur. Band 2: Orte und Einrichtungen, hg. von Rüdiger Schmidt (Badische Landesbibliothek, Karlsruhe) und Meier Schwarz (Synagogue Memorial, Jerusalem), Stuttgart 2007.
  • Kilian, Rainer, Fragmente hebräischer Handschriften im Stadtarchiv, Bd.7, hg. vom Stadtarchiv Kirchheim unter Teck, 1988, S. 117-130.
  • Kneher, Brigitte, Chronik der jüdischen Bürger Kirchheims seit 1896, in: Stadt Kirchheim unter Teck, hg. vom Stadtarchiv Kirchheim unter Teck, 1985, S. 71-114.
  • Rüger, Hans Peter, Ein neues Fragment einer Ezechielhandschrift mit Raschikommentar, Bd.7, hg. vom Stadtarchiv Kirchheim unter Teck, 1988, S. 131-136.

Süßen

  • Germania Judaica, Bd.2, 2. Halbband, hg. von Zvi Avneri, Tübingen 1968, S.719.
  • Hüttenmeister, Frowald Gil, Der jüdische Friedhof in Wankheim, 1995.
  • Kienzle, Paula, Spuren sichern für alle Generationen. Die Juden in Rottenburg im 19. und 20. Jahrhundert, Berlin 2008.
  • Lang, Stefan, Ausgrenzung und Koexistenz. Judenpolitik und jüdisches Leben in Württemberg und im „Land zu Schwaben“ (1492-1650), in: Schriften zur Südwestdeutschen Landeskunde, Bd. 63, hg. vom Institut für Geschichtliche Landeskunde an der Universität Tübingen, Sigmaringen 2008.
  • Müller, H. P., Die Juden in der Grafschaft Hohenberg, in: Der Sülchgau 25 (1981), S. 36-43.
  • Veitshans, H., Historischer Atlas 5, S. 51-52.
  • Veitshans, H., Historischer Atlas 6, S. 5 und S. 26.
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