Herrlingen
Dieser Beitrag stammt aus der Studie von Paul Sauer, Die jüdischen Gemeinden in Württemberg und Hohenzollern. Denkmale, Geschichte, Schicksale, hg. von der Archivdirektion Stuttgart (Veröffentlichungen der Staatlichen Archivverwaltung Baden-Württemberg 18), Stuttgart 1966.
Die Studie wird hier in der Originalfassung als Volltext zugänglich gemacht und separat bebildert. Inhalte und Sprachgebrauch entsprechen dem Stand von 1966. Weitere Informationen zur Entstehung und Einordnung der Studie finden Sie hier.
Im Jahr 1912 gründete Klara Weimersheimer geb. Essinger, Gattin des Herrlinger Bezirksarztes Dr. med. Moritz Weimersheimer (gest. 1919), in Herrlingen ein Heim für noch nicht schulpflichtige Kinder. Bis zur Machtübernahme durch Hitler fanden in dem Heim neben jüdischen auch christliche Kinder Aufnahme. Im Jahr 1933 zwangen jedoch die Nationalsozialisten Frau Weimersheimer, die der israelitischen Religionsgemeinschaft angehörte, die nichtjüdischen Kinder ihren Eltern zurückzubringen. Frau Weimersheimer führte das Heim noch bis 1936 als jüdische Anstalt weiter und übersiedelte dann mit den ihr anvertrauten Kindern nach Palästina. Ein zweites Kinderheim simultanen Charakters unterhielt von 1927-1933 Käthe Hamburg, die ebenfalls Jüdin war.
1926 begründete die Schwester von Frau Weimersheimer, Anna Essinger, die in den USA Sprachen und Pädagogik studiert hatte, ein Landschulheim als staatlich anerkannte Privatschule, die vier Grundschulklassen und die untersten Klassen einer höheren Schule (Reformrealgymnasium) umfasste. Es war beabsichtigt, das Landschulheim allmählich zur Vollanstalt mit Abitur auszubauen. Das Internat, dessen wirtschaftliche Leitung in den Händen von Paula Essinger, einer zweiten Schwester von Frau Weimersheimer, lag, übernahm zu einem großen Teil die Kinder aus dem Weimersheimer'schen Kinderheim, stand aber auch anderen jüdischen und christlichen Jugendlichen offen. 1930 befanden sich in den vier Grundschulklassen 26 Kinder, in der ersten Oberschulklasse 11, in der zweiten 10, in der dritten und vierten je 4, in der fünften und sechsten zusammen 8. Am 1. April 1931 wurde das Landschulheim Herrlingen der Dienstaufsicht der Ministerialabteilung für die höheren Schulen in Württemberg unterstellt. Das Kultusministerium in Stuttgart zeigte stets großes Interesse an der Schule. Nach der nationalsozialistischen Machtübernahme vom 30. Januar 1933 durften nur noch jüdische Schüler dem Landschulheim angehören. Der politische Umsturz veranlasste Fräulein Essinger, mit zahlreichen Schülern bereits im Herbst 1933 nach England auszuwandern. Dort baute sie mit Unterstützung öffentlicher Stellen eine neue Schule auf, die 1936 die staatliche Anerkennung fand. Fräulein Essinger vermochte in England die Schule in beschränktem Umfang auch noch nach Kriegsausbruch im September 1939 fortzuführen.
Die Gebäude des Landschulheims in Herrlingen pachtete im Herbst 1933 Hugo Rosenthal, der zuvor Lehrer an der jüdischen Volksschule in Berlin gewesen war, und richtete in ihnen ein jüdisches Landerziehungsheim ein. Die neue Anstalt, die in der Tradition des Internats von Fräulein Essinger stand, wurde ebenfalls der Ministerialabteilung für die höheren Schulen in Württemberg unterstellt und als Heimoberrealschule anerkannt. Rosenthal, eine echte Erzieherpersönlichkeit, gewann die Unterstützung der jüdischen Landesverbände Württemberg, Baden und Bayern, fand aber auch bei der Reichsvertretung der deutschen Juden viel Förderung. Regen Anteil an der Schule nahmen Rabbiner Dr. Leo Baeck sowie die Professoren Martin Buber und Ernst Simon, die beide später nach Palästina auswanderten und an der Hebräischen Universität in Jerusalem lehrten. Das Landschulheim Herrlingen wurde rasch ein Zentrum jüdischen Lebens in Süddeutschland. Seine Schüler kamen aus allen Teilen des Deutschen Reiches. Rosenthal und seine Mitarbeiter vermochten die jungen Menschen zu einem selbstbewussten, zum geistigen Widerstand fähigen Judentum zu erziehen. In einer Zeit, in der jüdische Kinder in vielen öffentlichen Schulen einer schlimmen Diskriminierung preisgegeben waren, erfüllte das Landschulheim Herrlingen eine hohe erzieherische Funktion. Segensreich wirkte es aber auch dadurch, dass es die jungen Menschen auf die Auswanderung vorbereitete und ihnen das geistige Rüstzeug dazu an die Hand gab. Das Landschulheim wurde anfangs von 70-90 Schülern, später, als die Stadt Ulm die Juden von den höheren Schulen verwies, von 90-120 Schülern besucht. Im Frühjahr 1939 wurde die Schule, deren Schülerzahl bereits 1937/38 stark zurückgegangen war, aufgelöst. Über das Schicksal des größten Teils der jungen Menschen, die die Anstalt durchliefen oder doch wenigstens kurze Zeit besuchten, ist nichts Näheres bekannt. Aller Wahrscheinlichkeit nach sind die meisten noch rechtzeitig ausgewandert. Hugo Rosenthal, der in den Jahren 1933-38 in Herrlingen auch Fortbildungskurse für jüdische Lehrer abgehalten und Tagungen über jüdische Erwachsenenbildung geleitet hatte, übersiedelte mit seiner Frau im Sommer 1939 nach Palästina, wo er wieder als Erzieher tätig war.
Die Räumlichkeiten des Landschulheims fanden in den Jahren 1939-42 als Altersheim Verwendung. Zahlreiche Juden aus Stuttgart, Heilbronn, Ulm und anderen württembergischen Orten wurden hier untergebracht. Die meisten Insassen kamen im Frühjahr 1942 in das Schloss in Oberstotzingen und wurden von dort aus nach Theresienstadt deportiert. Einige jüdische Bürger waren schon vor der Verlegung ins Oberstotzinger Schloss nach dem Osten zwangsverschleppt und ermordet worden.
Am 1. September 1942 berichtete der Landrat des Kreises Ulm, dass nunmehr auch Herrlingen „judenfrei" sei. Eines der Häuser, die Anna und Paula Essinger 1932 für ihre Schule erworben hatten, schenkte die Stadt Ulm, der es das Reich überlassen hatte, im Jahr 1944 Generalfeldmarschall Erwin Rommel. Heute gehört der Gebäudekomplex des Landschulheims der Arbeiterwohlfahrt e.V. Bezirk Nordwürttemberg.
Zitierhinweis: Sauer, Paul, Die jüdischen Gemeinden in Württemberg und Hohenzollern, Stuttgart 1966, Beitrag zu Herrlingen, veröffentlicht in: Jüdisches Leben im Südwesten, URL: […], Stand: 20.11.2022
Lektüretipps für die weitere Recherche
- Binder, Hans-Otto, Ritterkreuz und Judenstern. Rommel und das jüdische Landschulheim Herrlingen, hg. von der Fachschaft Geschichte der Universität Tübingen, 1995.
- Elze, Melanie/Godel-Gaßner, Rosemarie/Hagemann, Alfed/Krehl, Sabine, Jenny Heymann (1890-1996), 2020.
- Fichtner, Ruth/Wegemer, Beate, Kindern eine Zukunft. Von zwei Kinderheimen in der Weimarer Zeit, Diplom-Arbeit Erziehungswissenschaft Universität Tübingen, 1986.
- Giebeler, S., Das Landschulheim der Anna Essinger, 1997.
- Greimel, Hansjörg, Tante Annas Kinder. Bericht über ein Treffen ehemaliger Schüler der aus Ulm stammenden jüdischen Pädagogin Anna Essinger, in: Mitteilungen des Dokumentationszentrums Oberer Kuhberg Ulm e.V. 48 (2007), S. 4-5.
- Herrlingen im Brennpunkt. Anna Essinger, Martin Buber, Erwin Rommel und andere, in: Momente. Beiträge zur Landeskunde von Baden-Württemberg, Heft 04, 2008, S. 2-7.
- Rosenthal, Hugo (Josef Jashuvi), Lebenserinnerungen, in: Bereitet den Weg, Bd. 18, hg. von Micheline Prüter-Müller/Peter Wilhelm A. Schmidt, 2000.
- Schachne, Lucie, Erziehung zum geistigen Widerstand. Das jüdische Landschulheim Herrlingen 1933-1939, 1986.
- Schmidt, Peter Wilhelm A., „Erziehung zum Mut“. Über das Leben und Werk des Lehrers und Erziehers Hugo Rosenthal/Josef Jashuvi im Deutschen Reich, in British Palästina und in Israel, Waldburg 2016.
- Schwersenz, Jizchak, Die versteckte Gruppe. Ein jüdischer Lehrer erinnert sich an Deutschland, 1994.
- Seemüller, Ulrich, Das jüdische Altersheim Herrlingen 1939-42, hg. von der Gemeinde Blaustein, 1997.