Ludwigsburg mit Aldingen
Dieser Beitrag stammt aus der Studie von Paul Sauer, Die jüdischen Gemeinden in Württemberg und Hohenzollern. Denkmale, Geschichte, Schicksale, hg. von der Archivdirektion Stuttgart (Veröffentlichungen der Staatlichen Archivverwaltung Baden-Württemberg 18), Stuttgart 1966.
Die Studie wird hier in der Originalfassung als Volltext zugänglich gemacht und separat bebildert. Inhalte und Sprachgebrauch entsprechen dem Stand von 1966. Weitere Informationen zur Entstehung und Einordnung der Studie finden Sie hier.
Die Muttergemeinde der israelitischen Gemeinde Ludwigsburg war Aldingen. Dort hatte die Dorfherrschaft, die Herren von Kaltental, in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts Juden die Ansiedlung ermöglicht. Herzog Karl Eugen von Württemberg übernahm 1750 mit dem heimgefallenen Lehen Aldingen auch die jüdische Gemeinde und bestätigte ihre Rechte. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts besaßen die Vorsteher der israelitischen Gemeinde eine beschränkte Gerichtsbarkeit. Sie konnten Vergehen in der Synagoge mit Strafen bis zu 3 Gulden 15 Kreutzer ahnden. In Fragen der Religion und des Kultus waren ihnen weitgehende Freiheiten eingeräumt. Die Aldinger Juden mussten kein Schutzaufnahmegeld, wohl aber ein jährliches Schutzgeld von 20 Gulden pro Familie und eine Waisenhausabgabe von 2 Gulden sowie an die Ortsgemeinde 2-3 Gulden Fleckenschaden entrichten. 1806 zählte Aldingen 9 jüdische Familien mit 32 Köpfen. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nahm die jüdische Bevölkerung sehr rasch zu, um dann nach der Jahrhundertmitte vor allem durch Abwanderungen nach Ludwigsburg ebenso schnell wieder abzusinken: 1831 94 Juden, 1843 116, 1854 114, 1869 27. 1886 lebten keine Juden mehr im Dorf. Die israelitische Gemeinde besaß eine Synagoge, einen einfachen Betsaal, und von 1835 bis etwa 1860 auch eine Schule. Nach der Ludwigsburger Oberamtsbeschreibung von 1859 waren die jüdischen Einwohner außer im Handel auch in der Landwirtschaft tätig.
In der von Herzog Eberhard Ludwig (1693-1733) gegründeten Stadt Ludwigsburg fanden bereits im 18. Jahrhundert jüdische Hoffaktoren Aufnahme. Zeitweise hielt sich hier auch Jud Süß Oppenheimer auf. Die 1736 gegründete Tabaksfabrik verpachtete Süß auf 12 Jahre an die kurpfälzischen Schutzjuden Jakob Benzheim, Koppel Wolf Brühler, Mayer Wassertrittlingen und Comp. 1803 waren hier 4 jüdische Familien ansässig. 1812 zählte die Stadt 32 jüdische Einwohner. 1824 59, 1831 69, 1843 70, 1854 77, 1869 77, 1886 211, 1900 243, 1910 222, 1933 163. In der Stadt, die im 19. Jahrhundert die bedeutendste württembergische Garnison beherbergte, nahm die Zahl der jüdischen Bürger bis 1900 durch Zuwanderungen aus der Umgebung (Aldingen, Hochberg usw.) stetig zu. Die Namen der hier ansässig gewordenen jüdischen Familien lauteten: Elsas, Ottenheimer, Kahn, Wertheimer, Kaufmann, Dreifuß, Israel, Kusiel, Neuburger, Stern, Strauß, Weis, Weil usw. Am 1. Juli 1849 wurde die israelitische Religionsgemeinde Ludwigsburg als Filiale der Synagogengemeinde Aldingen gegründet. Die Gottesdienste fanden 35 Jahre in einem Privathaus statt, das ein Gemeindeglied dafür unentgeltlich zur Verfügung gestellt hatte. Im Dezember 1884 wurde in Anwesenheit hoher Offiziere, zahlreicher Vertreter der Stadt und des Staates die Synagoge Ecke Alleen- und Solitudestraße eingeweiht. Der Staat hatte zum Bau des Gotteshauses 2.500 Mark gegeben. Die Orgel in der Synagoge hatte die Familie Elsas gestiftet.
Die Ludwigsburger Juden waren vornehmlich in Handel und Gewerbe vertreten. Zu den ältesten Industrieunternehmen der Stadt gehörte die Mechanische Buntweberei Elsas und Söhne, die der 1816 in Aldingen geborene Webermeister Benedikt Elsas im Jahr 1865 gegründet hatte. Benedikt Elsas hatte bereits in den vierziger Jahren eine Weberei in Aldingen begonnen, diese in den fünfziger Jahren nach Ludwigsburg und 1860 wegen Wassermangel nach Cannstatt verlegt. Auch die Cannstatter Firma, die in Murrhardt eine Filiale besaß, blieb bis in die Zeit des Nationalsozialismus in Besitz der Familie Elsas.
Im Jahr 1933 waren hier neben zahlreichen Vieh- und Pferdehandlungen u. a. folgende Firmen ganz oder teilweise in der Hand von jüdischen Bürgern: Mechanische Buntweberei Elsas, Damenkleiderfabrik Ottenheimer, Metallwarenfabrik Karl Weis & Co., die Kaufhäuser Epstein, Grumach und Stern, die Württ. Papierzentrale (Papiergroßhandlung Greilsamer), die Sportschuhfabrik Kaufmann. Als Ärzte wirkten damals in Ludwigsburg Dr. Pintus, Dr. Schmal und Dr. Elsas, als Rechtsanwälte Julius Schmal und Dr. Waitzfelder.
Die jüdische Gemeinde besaß seit 1870 einen eigenen Friedhof (Alter Israelitischer Friedhof) im Anschluss an den alten städtischen Friedhof. Nach Anlegung des Neuen Friedhofs durch die Stadt erhielt die Israelitische Gemeinde dort wiederum eine eigene Abteilung (Neuer Israelitischer Friedhof). Auf dem Alten Israelitischen Friedhof befindet sich das Gefallenendenkmal von 1870/71, auf dem Neuen das Kriegerdenkmal von 1914/18. Im Ersten Weltkrieg sind sechs jüdische Bürger gefallen: Benno Elsas, Berthold Elsas, Wilhelm Ottenheimer (geb. 1892), Wilhelm Ottenheimer (geb. 1894), Willy Ottenheimer und Sigwart Wertheimer.
Zwischen Juden und Christen herrschte vor 1933 ein gutes Einvernehmen. Fabrikant Max Elsas gehörte nicht nur viele Jahre dem Gemeinderat an, sondern war auch von 1915-18 stellvertretender Oberbürgermeister. 1902 bedachte der Geheime Kommerzienrat Hermann Frank, Inhaber der bekannten Firma Heinrich Frank & Söhne, in seinem Testament die Israelitische Gemeinde mit einem namhaften Legat.
Noch am 9. April 1933 nahm eine Abordnung des Reichsbunds jüdischer Frontsoldaten im Schlosshof an der Vereidigung der Rekruten der Reichswehr teil. Der Kommandeur wandte sich in seiner Ansprache ausdrücklich gegen jede Diskriminierung von Bürgern: „Ihr wißt, die Armee kennt keine Gegensätze der Klasse, des Standes, der Religion oder des Stammes. Wir dienen und gehören dem ganzen Volke - unterschiedlos." Obwohl auch hier mit der Machtergreifung durch den Nationalsozialismus die Boykottierung jüdischer Geschäfte einsetzte, die sich im Lauf der Jahre zunehmend verschärfte, gab es nach der nationalsozialistischen Zeitschrift „Flammenzeichen" auch 1936 noch viele „verblendete" Volksgenossen, die in diesen Geschäften einkauften. Ein pensionierter Oberlehrer spielte immer noch die Orgel in der Synagoge. Zu Ausschreitungen kam es am 10. November 1938: Gegen 13 Uhr drang nach einem Bericht der „Ludwigsburger Zeitung" vom 11. November 1938 eine Anzahl Ludwigsburger in das israelitische Gotteshaus ein, räumte die Akten und das sonstige Schriftmaterial heraus und legte Feuer. Die Synagoge brannte völlig aus. Die Umfassungsmauern wurden später von der Technischen Nothilfe gesprengt. Die Brandstifter gehörten wohl meist der SA an. Der Ortsgruppenleiter und der zuständige SA-Standartenführer waren maßgeblich beteiligt. Im Zusammenhang mit den Ereignissen der Kristallnacht wurden zahlreiche Juden, unter ihnen auch der achtzigjährige Fabrikant und frühere stellvertretende Oberbürgermeister Max Elsas, verhaftet und in die Konzentrationslager Welzheim und Dachau eingeliefert. Der praktische Arzt Dr. Pintus, der großes Ansehen genoss, beging vor der Einweisung nach Dachau Selbstmord. Einige Schaufenster von jüdischen Geschäften wurden eingeschlagen. Dagegen kam es nicht zur Demolierung von Wohnungen. Der Zeitungsbesitzer Gerhard Ulmer hatte den Mut, auszusprechen, was viele damals dachten: „Ich schäme mich, ein Deutscher zu sein."
Etwa 120 der 163 Juden, die am 16. Juni 1933 in Ludwigsburg wohnten, vermochten sich ins Ausland zu retten. Mindestens 36 der 1933 in der Stadt ansässigen Juden und 12 der zwischen 1933 und 1942 zugezogenen kamen in der Deportation um. So musste im August 1942 auch Max Elsas trotz seines hohen Alters (geb. 1858) den Weg nach Theresienstadt antreten. Die Verdienste, die er um seine Heimatstadt erworben hatte, galten nichts mehr. Er starb in Theresienstadt am 30. September 1942. Zwei Frauen, die im Ersten Weltkrieg den Mann bzw. den Sohn verloren hatten, wurden in den Vernichtungslagern des Ostens ermordet. Die Deportation überlebten 1945 zwei jüdische Bürger: der Arzt Dr. Ludwig Elsas, der bereits 1949 wohl an den Folgen der langen Haft in Amerika starb, und Paula Glück, die 1940 von Waibstadt (Baden) aus nach Gurs in Südfrankreich zwangsverschleppt wurde. An der Stelle der Synagoge befindet sich seit 1959 ein Gedenkstein mit der Inschrift:
„Hier stand die im Jahre 1884 erbaute Synagoge. Ihre willkürliche Zerstörung am 10. November 1938 mahne unser Gewissen an die Wahrung von Menschlichkeit und Recht."
In dieser Studie nachgewiesene Literatur
- Belschner, C., Ludwigsburg in zwei Jahrhunderten, Ludwigsburg 1904.
- Beschreibung des Oberamts Ludwigsburg, 1859.
- Bild von der Synagoge, in: Jüdische Gotteshäuser und Friedhöfe, 1932, S. 98.
- 50 Jahre Synagoge in Ludwigsburg, in: Gemeindezeitung für die israelitischen Gemeinden Württembergs, Jg. 11, Nr. 17, 1. Dezember 1934, S. 146.
- Ttinzer, Paul, Die Rechtsgeschichte der Juden in Württemberg 1806-1828, Stuttgart 1922.
Zitierhinweis: Sauer, Paul, Die jüdischen Gemeinden in Württemberg und Hohenzollern, Stuttgart 1966, Beitrag zu Ludwigsburg, veröffentlicht in: Jüdisches Leben im Südwesten, URL: […], Stand: 20.11.2022
Lektüretipps für die weitere Recherche
Ludwigsburg
- Faber, Jochen, Das Schicksal der Familie Frischauer. Wie die Stadt Ludwigsburg eine günstige Dienstvilla erwarb, in: Ausgrenzung. Raub. Vernichtung. NS-Akteure und „Volksgemeinschaft“ gegen die Juden in Württemberg und Hohenzollern 1933 bis 1945, hg. von Heinz Högerle/Peter Müller/Martin Ulmer, Stuttgart 2019, S. 431-436.
- Geschichte der jüdischen Gemeinde Ludwigsburg, hg. von Werner Heinrichs, 1989.
- Hahn, Joachim, Jüdisches Leben in Ludwigsburg. Geschichte, Quellen und Dokumentation, hg. von der Stadt Ludwigsburg - Stadtarchiv - und vom Historischen Verein für Stadt und Kreis Ludwigsburg e.V. Karlsruhe, 1998.
- Ruth „Sara“ Lax - 5 Jahre alt - deportiert nach Riga. Deportation und Vernichtung badischer und württembergischer Juden. Katalog zur Wanderausstellung. Wanderausstellung des Bundesarchiv - Außenstelle Ludwigsburg, des Staatsarchiv Ludwigsburg und des Stadtarchivs Ludwigsburg, Ludwigsburg 2002.
- Schüßler, Beate Maria, Das Schicksal der jüdischen Bürger von Ludwigsburg während der Zeit der nationalsozialistischen Verfolgung, (Ludwigsburger Geschichtsblätter 30), 1978.
- Sting, Albert, Spuren jüdischen Lebens. Ein Rundgang durch Ludwigsburg, Haigerloch 2001.
- Stolpersteine in Ludwigsburg. Zu Besuch bei verfolgten Nachbarn. Geschichten von Menschen aus Ludwigsburg, die Opfer der Nazi-Verfolgung wurden, Ludwigsburg 2010.
Aldingen
- Bickhoff-Böttcher, Nicole/Bolay, Gertrud/Theiner, Eduard, 200 Jahre jüdisches Leben in Hochberg und Aldingen. 1730-1930, (Heimatkundliche Schriftenreihe der Gemeinde Remseck am Neckar, Bd. 10), 1990.
- Hahn, Joachim, Jüdisches Leben in Ludwigsburg. Geschichte, Quellen und Dokumentation, hg. von der Stadt Ludwigsburg - Stadtarchiv - und vom Historischen Verein für Stadt und Kreis Ludwigsburg e.V. Karlsruhe, 1998.