Michelbach an der Lücke mit Hengstfeld
Dieser Beitrag stammt aus der Studie von Paul Sauer, Die jüdischen Gemeinden in Württemberg und Hohenzollern. Denkmale, Geschichte, Schicksale, hg. von der Archivdirektion Stuttgart (Veröffentlichungen der Staatlichen Archivverwaltung Baden-Württemberg 18), Stuttgart 1966.
Die Studie wird hier in der Originalfassung als Volltext zugänglich gemacht und separat bebildert. Inhalte und Sprachgebrauch entsprechen dem Stand von 1966. Weitere Informationen zur Entstehung und Einordnung der Studie finden Sie hier.
Von 1423 bis 1601 hatten die Herren von Berlichingen das Dorf Michelbach als Mannlehen des Klosters Comburg inne. Nachdem deren Besitznachfolger, die Herren von Crailsheim, der Reichsacht verfallen waren, kam der Ort 1631 als Reichslehen an die Grafen (seit 1671 Fürsten) von Schwarzenberg. Die Landesherrschaft über Michelbach war im 18. Jahrhundert zwischen der Ortsherrschaft und Brandenburg Ansbach strittig. 1806 fiel das Dorf an Bayern, 1810 an Württemberg.
Sehr wahrscheinlich waren die ersten Juden, die sich in Michelbach niederließen, Flüchtlinge aus der Reichsstadt Rothenburg, die in den Jahren 1519/20 alle ihre jüdischen Einwohner vertrieben hatte. 1556 wird ein Mosse von Michelbach erwähnt, der sich mit einigen anderen zur Leistung einer Bürgschaft in Höhe von 1.000 Gulden für einen von den Grafen von Oettingen-Wallerstein gefangengehaltenen Juden Hirsch bereit erklärte. Der hohe Betrag lässt vermuten, dass Mosse in guten Vermögensverhältnissen lebte.
Das ganze 17. Jahrhundert schweigen die Quellen über Juden in Michelbach. Erst 1710 ist von einer jüdischen Siedlung die Rede, die sich in der Folgezeit vergrößerte: 1732 besaßen die Juden hier 13 Häuser, die Christen 47. Bis 1796 stieg die Zahl der jüdischen Familien auf 26 an. 1812 lebten in Michelbach 139 Juden. Sie wohnten wohl bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts fast ausschließlich in der Judengasse, deren Name sich bis heute erhalten hat. Dort errichteten sie auch ihre Synagoge (1757; 1844 erneuert) und ihr Frauenbad. Die Michelbacher Juden beschäftigten sich schon im 18. Jahrhundert neben dem Hausiergewerbe mit Viehhandel in der näheren und weiteren Umgebung. Seit 1832 unterstand die israelitische Religionsgemeinde Michelbach, die auch die Israeliten in Hengstfeld (1808 51 jüdische Einwohner, 1847 119, 1869 84, 1886 54, 1900 18; 1910 waren alle Juden abgewandert) und Wiesenbach umfasste, dem Rabbinat Braunsbach. Neben einer evangelischen Volksschule besaß das Dorf von den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts an bis nach dem Ersten Weltkrieg eine israelitische Volksschule. Der jeweilige Lehrer war zugleich Vorsänger in der Synagoge. Einen eigenen Friedhof legten die Michelbacher Juden im Jahr 1840 an. Zuvor sollen sie ihre Toten auf dem israelitischen Friedhof in Schopfloch/Bayern begraben haben. Bis etwa 1870 wuchs die israelitische Gemeinde an, nahm dann aber vornehmlich durch Abwanderungen wieder rasch ab. Im 19. Jahrhundert waren zeitweise fast ein Drittel der Einwohnerschaft des Dorfes Juden. 1824 betrug die Zahl der jüdischen Einwohner 172 (Gesamteinwohnerschaft 711), 1831 154 (674), 1847 184 (723), 1861 185 (721), 1869 216 (692), 1885 158 (708), 1900 129 (661), 1910 81 (607) und 1933 35 (508).
Im Ersten Weltkrieg fiel Nathan Gundelfinger. Da die Markung des Dorfes sehr klein war (mit nicht einmal 300 Hektar die kleinste im Kreis Crailsheim), konnte stets nur ein Teil der Einwohnerschaft seinen Lebensunterhalt in der Landwirtschaft verdienen. Der Rest war auf Handel und Gewerbe angewiesen, die die soziale Struktur Michelbachs im Unterschied zu den bis heute vornehmlich landwirtschaftlich orientierten dörflichen Siedlungen der Umgebung seit dem 18. Jahrhundert weitgehend geprägt haben. Die Juden betrieben auch im 19. und bis herein ins 20. Jahrhundert hauptsächlich Vieh- und Pferdehandel, den sie bis weit ins Bayerische hinein ausdehnten. Einige betätigten sich als Grundstücksmakler. Noch vor dem Ersten Weltkrieg verschwanden die letzten jüdischen Landwirte. Haus- und Grundbesitz besaß jedoch ein großer Teil der bis in die Zeit des Nationalsozialismus hier ansässigen Juden. Um 1900 gehörten die jüdischen Bürger zu den wohlhabendsten Einwohnern. Sie waren damals die größten Steuerzahler der Gemeinde. Zahlreiche kleine Landwirte und Tagelöhner standen im Dienst der jüdischen Viehhändler, die im allgemeinen als Arbeitgeber nicht unbeliebt waren. Die rege Handelstätigkeit der Juden trug zum Aufschwung des örtlichen Handwerks bei. Nicht zuletzt dank der Juden wurde Michelbach ein kleiner gewerblicher Mittelpunkt für die umliegenden Orte.
Seit der Emanzipation nahmen die jüdischen Bürger in der Gemeindeverwaltung ein Mitspracherecht wahr. Stets saßen einer oder zwei von ihnen im Gemeinderat, so um 1900 Hermann Gundelfinger, Otto Leininger und etwas später Nathan Landauer, drei Männer, die allgemein hohes Ansehen genossen. Otto Leininger hatte eine örtliche Privatbank gegründet, die von manchem Bürger in Anspruch genommen wurde.
Die in Michelbach ansässigen jüdischen Familien hießen u. a. Gundelfinger, Stern, Landauer, Grünsfelder und Ries. Von hier stammen, wie Archivrat Karl Schumm/Neuenstein festgestellt hat, die Vorfahren des bekannten Heidelberger Germanisten Friedrich Gundolf, eigentlich Friedrich Gundelfinger (1880-1931). Angehörige der Familie Gundelfinger begründeten Eisenwarenfabriken in Nürnberg (Ludwig Gundelfinger) und Ulm (Max Gundelfinger).
Auf Sitte und Brauchtum des Dorfes, vor allem auch die Sprache der Michelbacher Bevölkerung färbte das jahrhundertelange Zusammenleben zwischen Christen und Juden ab. Manche sprachlichen Eigenheiten haben sich bis heute erhalten. Zwischen den beiden Glaubensgemeinschaften herrschte durch Generationen ein gutes Einvernehmen. Bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs übernahm der für den Militärdienst untaugliche jüdische Lehrer Isaak Strauß den Unterricht an der evangelischen Volksschule, da deren Lehrer eingezogen worden war. Der Antisemitismus musste nach der Machtergreifung durch den Nationalsozialismus erst von außen her in das Dorf hineingetragen werden, fand aber auch dann nur geringen Nährboden. In der sogenannten Kristallnacht im November 1938 wurde die Synagoge nicht zerstört. Die Lebensverhältnisse der jüdischen Einwohner, die seit 1938 ihre Berufe nicht mehr ausüben durften, verschlechterten sich aber immer mehr. Hinzu kam ihre von der Partei erzwungene fortschreitend strengere Isolierung.
Von den 35 jüdischen Bürgern, die 1933 hier wohnhaft waren, wurden insgesamt 18 am 1. Dezember 1941 nach Riga und am 22. August 1942 nach Theresienstadt deportiert, unter ihnen der 85jährige David Gundelfinger. Von den nach Riga Verschleppten kehrten 1945 die heute in den USA lebende Thea Gundelfinger (Mutter umgekommen) und Moritz Eichberg (Ehefrau umgekommen) zurück. Von den nach Theresienstadt Verbrachten überlebte keiner.
Die Synagoge der im Juli 1939 aufgelösten Gemeinde diente während des Zweiten Weltkriegs als Munitionsdepot. Heute ist in dem ehemaligen Gotteshaus eine Mostkellerei untergebracht.
Der israelitische Friedhof wurde bis 1939 belegt.
In dieser Studie nachgewiesene Literatur
- Beschreibung des Oberamts Gerabronn, 1847.
- Bilder von der Synagoge und vom Friedhof, in: Jüdische Gotteshäuser und Friedhöfe, 1932, S. 102.
- Rüb, Friedrich, Die Juden in Michelbach-Lücke. Ihr Einfluss auf die wirtschaftliche und soziale Entwicklung des Dorfes sowie auf Volksbrauch und -sitte und Volkssprache, maschinenschriftlich, Gemeindearchiv Michelbach, 1953.
Ergänzung 2023:
1978 kaufte die Gemeinde Wallhausen die ehemalige Snyagoge auf. Die damals stark renovierungsbedürftige Anlage wurde 1979 als erhaltenswertes Baudenkmal eingestuft und ab 1982 schließlich mit Mitteln des Landkreises wieder instand gesetzt. 1984 folgte die Einweihung als Dokumentationszentrum für die Geschichte der Juden in der Region Franken.
Zitierhinweis: Sauer, Paul, Die jüdischen Gemeinden in Württemberg und Hohenzollern, Stuttgart 1966, Beitrag zu Michelbach an der Lücke, veröffentlicht in: Jüdisches Leben im Südwesten, URL: […], Stand: 20.11.2022
Lektüretipps für die weitere Recherche
Michelbach an der Lücke
- Gedenkstätte Synagoge Michelbach/Lücke (Gemeinde Wallhausen). Dokumentation zur Geschichte der Juden in der Region Franken, hg. vom Kreisarchiv Schwäbisch Hall, Schwäbisch Hall 1984.
- Hahn, Joachim/Krüger, Jürgen, „Hier ist nichts anderes als Gottes Haus...“. Synagogen in Baden-Württemberg. Band 1: Geschichte und Architektur. Band 2: Orte und Einrichtungen, hg. von Rüdiger Schmidt (Badische Landesbibliothek, Karlsruhe) und Meier Schwarz (Synagogue Memorial, Jerusalem), Stuttgart 2007.
- Hahn, Joachim, Synagogen in Baden-Württemberg, Stuttgart 1987, S. 70-72.
- Kaufmann, Uri R., Die Synagogen. Ablege in Wallhausen-Michelbach an der Lücke. Fragen zur jüdischen Kultur Württembergisch-Frankens, in: Württembergisch Franken 82 (1998), S. 143-156.
- Rose, Emily C., Als Moises Katz seine Stadt vor Napoleon rettete. Meiner jüdischen Geschichte auf der Spur, 1999.
- Rose, Emily C., Portraits of Our Past. Jews of the German Countryside, 2001.
- Ströbel, Otto, Juden und Christen in dörflicher Gemeinschaft. Geschichte der Judengemeinde Michelbach/Lücke, Crailsheim 2000.
- Taddey, Gerhard, Die jüdische Gemeinde von Michelbach/Lücke, 1984.
- Taddey, Gerhard, Kein kleines Jerusalem. Geschichte der Juden im Landkreis Schwäbisch Hall, (Forschungen aus Württembergisch Franken Bd. 36), 1992.
- Württemberg - Hohenzollern – Baden (Pinkas Hakehillot. Encyclopedia of Jewish Communities from their foundation till after the Holocaust), hg. von Joseph Walk, Yad Vashem/Jerusalem 1986, S. 112-114.
Hengstfeld
- Hahn, Joachim/Krüger, Jürgen, „Hier ist nichts anderes als Gottes Haus...“. Synagogen in Baden-Württemberg. Band 1: Geschichte und Architektur. Band 2: Orte und Einrichtungen, hg. von Rüdiger Schmidt (Badische Landesbibliothek, Karlsruhe) und Meier Schwarz (Synagogue Memorial, Jerusalem), Stuttgart 2007.
- Ströbel, Otto, Hengstfeld. Leben in der ritterschaftlichen Pfarrgemeinde, 1990, S. 278-304.
- Ströbel, Otto, Juden und Christen in dörflicher Gemeinschaft. Geschichte der Judengemeinde Michelbach/Lücke, 2000.
- Taddey, Gerhard, Kein kleines Jerusalem. Geschichte der Juden im Landkreis Schwäbisch Hall, 1992.