Mühringen
Dieser Beitrag stammt aus der Studie von Paul Sauer, Die jüdischen Gemeinden in Württemberg und Hohenzollern. Denkmale, Geschichte, Schicksale, hg. von der Archivdirektion Stuttgart (Veröffentlichungen der Staatlichen Archivverwaltung Baden-Württemberg 18), Stuttgart 1966.
Die Studie wird hier in der Originalfassung als Volltext zugänglich gemacht und separat bebildert. Inhalte und Sprachgebrauch entsprechen dem Stand von 1966. Weitere Informationen zur Entstehung und Einordnung der Studie finden Sie hier.
Das dem Ritterkanton Neckar-Schwarzwald inkorporierte Dorf Mühringen wechselte vom Beginn des 16. Jahrhunderts bis zur Mediatisierung durch Württemberg mehrmals den Besitzer: im 16. Jahrhundert nacheinander im Besitz Gottfrieds von Zimmern, der Familien Widmann und Westernach, gelangte es 1618 an den Deutschorden, 1652 an die Freiherren vom Holtz, 1695 an die Markgrafen von Brandenburg und 1735 an die Herren von Münch.
Die Anfänge der jüdischen Gemeinde Mühringen gehen in die Reformationszeit zurück. Der Friedhof ist schon Mitte des 16. Jahrhunderts angelegt worden. Die 1728 erbaute Synagoge hatte möglicherweise bereits Vorläufer, die nicht bekannt sind. Vielleicht ist aber auch der jüdische Gottesdienst zunächst ausschließlich in Privathäusern abgehalten worden. Der Überlieferung nach sollten die Juden aus Oberdorf am Ipf, Öttingen, Binswangen, Heinsfurt, Kriegshaber und anderen Orten zugewandert sein. 1722 zählte die jüdische Gemeinde 19 Familien mit 47 Seelen, 1744 war sie auf 50 Familien angewachsen. Da eine kaiserliche Verfügung vom 3. Mai 1753 eine Verminderung der Zahl der Schutzjuden forderte, waren hier im Jahr darauf bloß noch 46 Familien ansässig. Doch stieg die Zahl der jüdischen Einwohner vor allem durch Zuzug aus dem nahen Dettensee, wo die Juden unter überaus drückenden Bedingungen lebten, wieder an. Auch in Mühringen hatte die Ortsherrschaft ein primär finanzielles Interesse an ihren jüdischen Hintersassen. So erhöhten die Freiherren von Münch das Schutzgeld, das 10 Gulden je Familie betrug, willkürlich. 1773 nahmen sie eine Rezeptionsgebühr von 75 Gulden und ein jährliches Schutzgeld von 25 Gulden je Familie in Anspruch.
Im 18. Jahrhundert erlangte Mühringen als ein religiöser Mittelpunkt für die Juden in Südwestdeutschland eine große Bedeutung. 1728 wurde Elias Weil von Haigerloch als Rabbiner hierher berufen. Er wirkte in Mühringen bis 1745. Sein Nachfolger war der berühmte Nathanael Weil (geb. 1687 in Stühlingen, gest. 1769 in Rastatt), der allerdings nur kurze Zeit hier tätig war, ehe er Oberrabbiner der beiden badischen Markgrafschaften in Karlsruhe wurde. Nathanael hat einen Kommentar zum Talmud „Corvan Nathanael" geschrieben, der in den geläufigen Talmud-Ausgaben, auch in der berühmten Ausgabe von Rom in Wilna, abgedruckt ist. Sein Lebensweg ist bezeichnend für einen jüdischen Theologen des 18. Jahrhunderts: Mit 10 Jahren kam er nach Fürth, um sich den talmudischen Studien zu widmen, von dort siedelte er nach Prag über, wo ein reges jüdisches Geistesleben blühte, und wurde Schüler des berühmten Leiters der Prager Talmud-Hochschule, Abraham Brod, dessen Unterricht er 18 Jahre lang in verschiedenen Städten genoss, bis er nach der Vertreibung der Prager Juden durch Maria Theresia (1744) als Rabbiner nach Mühringen kam. Zum Nachfolger Weils wählten die Mühringer Juden Samson Veis aus Flehingen. Hochgelehrt war David (ben Joel) Dispecker aus Baiersdorf bei Nürnberg, der von 1771-78 das Rabbinat versah und eine Talmud-Hochschule (Jeschiwah) begründete. Sein Werk „Pardes David" hat ihn der jüdischen Welt bekannt gemacht. Nach 1778 wirkte er an der Talmud-Hochschule in Metz, der Vorgängerin der Ecole Rabbinique in Paris. über den von ihm bestimmten Nachfolger, seinen Schwiegersohn Jakob Samuel Schwabacher, kam es zwischen den Juden des Rabbinatsbezirks „Im Schwarzwald" zu Streitigkeiten. Schließlich einigten sich die Hauptkontrahenten Mühringen und Nordstetten dahin, dass Schwabacher jeweils abwechselnd ½ Jahr in einer der beiden Gemeinden wohnen sollte. Kurze Zeit hatte der Enkel von Nathanael Weil das Rabbinat Mühringen inne. Ihm folgte Abraham Ries, der 1813 nach Lengnau in der Schweiz berufen wurde. Der nächste Rabbiner war Gabriel Adler, ein Verwandter des Landesrabbiners Markus Adler in Hannover und des Chief Rabbi of London, Dr. Nathan Adler. Der Freiherr von Münch hatte die Wahl Adlers durch die jüdische Gemeinde angefochten und sein vermeintliches Präsentationsrecht, ohne Erfolg allerdings, geltend gemacht. Adler unterhielt hier ebenfalls eine Talmud-Schule. 1821 wurde er als einziger Rabbiner in die Kommission gewählt, die der württembergischen Regierung „Vorschläge zu einem Gesetzentwurf für eine bürgerliche Verbesserung der israelitischen Glaubensgenossen" unterbreiten sollte. Er setzte im gleichen Jahr bei den israelitischen Gemeinden des Schwarzwaldkreises die Einführung des allgemeinen Schulzwanges durch. Von 1835 bis zu seinem Tod 1859 stand er hochangesehen dem Rabbinat Oberdorf am Ipf vor. Der erste akademisch-gebildete Mühringer Rabbiner war Dr. Moses Wassermann, der hier seit 1835 tätig war, 1873 als Bezirksrabbiner nach Stuttgart versetzt wurde, wo er als theologisches Mitglied der Israelitischen Oberkirchenbehörde angehörte, mit dem Titel Kirchenrat und dem persönlichen Adel ausgezeichnet wurde (gest. 1892). Als letzte Rabbiner wirkten hier Dr. Michael Silberstein, der als einer der ersten das jüdisch-theologische Seminar in Breslau absolviert hatte, und der aus der Provinz Posen stammende Dr. Adolf Jaraschewski. Mit dem Tod von Dr. Jaraschewski 1911 erlosch das Mühringer Rabbinat, das für die jüdische Geistesgeschichte bedeutsamste Rabbinat in Württemberg. Es hatte seit der Organisation der kirchlichen Verhältnisse der israelitischen Religionsgemeinschaft in Württemberg die Gemeinden Mühringen, Rexingen, Baisingen, Unterschwandorf, Wankheim, Nordstetten, später auch Horb und Tübingen umfasst. An seine Stelle trat 1914 das neu gebildete Rabbinat Horb.
Die jüdische Gemeinde Mühringen errichtete 1810 eine neue geräumigere Synagoge. 1825 begründete sie eine israelitische Volksschule. Der Lehrer versah seit 1834 auch das Vorsänger-Amt. Zuvor war ein besonderer Vorsänger und Schächter angestellt gewesen. Die Schule wurde 1900 in eine freiwillige Konfessionsschule umgewandelt und 1913 ganz aufgehoben. Von 1924-1938 unterhielt der Unabhängige Orden B'ne B'rith Stuttgart ein Kindererholungsheim in Mühringen, das sogenannte Schwarzwaldheim.
Bereits 1807 lebten hier 342 Juden. Ihre Zahl nahm in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu und machte 1835 45 Prozent der Gesamtbevölkerung des Ortes aus, sank aber nach der Jahrhundertmitte wieder ab. 1933 waren nur 7,5 Prozent der Einwohner Juden. 1824 wohnten hier 224 Juden, 1831 466, 1843 493, 1854 512, 1869 275, 1885 118, 1900 130, 1910 83, 1933 45.
Im Ersten Weltkrieg hatte die jüdische Gemeinde zwei Gefallene zu beklagen, Theodor Berlizheimer und Max Nachmann.
Durch die Abwanderung der jüngeren Leute war die Gemeinde schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts stark überaltert. Von den 45 jüdischen Einwohnern, die Anfang 1933 noch in Mühringen ansässig waren, starben während der Verfolgungszeit 16 eines natürlichen Todes in der Heimatgemeinde, während 16 vornehmlich nach den USA auswanderten und 12 in den Jahren 1941 und 1942 meist von Rexingen aus, wohin sie zwangsumgesiedelt waren, deportiert wurden. Einer starb im November 1940 in Zwiefalten (wahrscheinlich in Grafeneck als Opfer der Euthanasie vergast).
Die meisten der hier 1933 wohnhaften Juden waren Viehhändler. Einer betrieb eine Metzgerei, ein anderer hatte eine Kleiderfabrik mit etwa 10 Beschäftigten. Im Besitz jüdischer Bürger waren außerdem eine Häute und Fellhandlung, ein Kolonialwarengeschäft und ein Textilgeschäft. Im 19. und noch zu Anfang des 20. Jahrhunderts saßen Juden stets im Gemeinderat. Ein jüdischer Bürger war jahrelang Ratsschreiber. Regen Anteil am öffentlichen Leben nahmen die jeweiligen Rabbiner und Lehrer.
Nach der Machtergreifung durch den Nationalsozialismus wurden wiederholt Einwohner verwarnt, weil sie immer noch bei Juden kauften oder persönliche Beziehungen zu ihnen unterhielten. Belästigungen der jüdischen Bürger ließen sich nur wenige verhetzte Elemente zuschulden kommen. In der Kristallnacht 1938 zündeten auswärtige SA-Leute die Synagoge an und warfen eine Anzahl Wohnungs- und Schaufensterscheiben von jüdischen Häusern ein. Der Brand des Gotteshauses wurde durch die Ortsfeuerwehr gelöscht, wobei verschiedene rituelle Gegenstände gerettet werden konnten. Einige jüdische Männer wurden verhaftet und wochenlang im Konzentrationslager Dachau festgehalten. Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs wurden 12 Juden im Haus des Julius Feigenheimer zusammengelegt. Im Frühjahr 1942 wurden die hier verbliebenen Juden nach Rexingen zwangsumgesiedelt. Die jüdische Gemeinde war im März 1939 vom Oberrat der israelitischen Religionsgemeinschaft in Württemberg aufgelöst worden. Die teilweise ausgebrannte Synagoge, die während des Krieges der Waffenfabrik Mauser als Schäftelager gedient hatte, musste 1960 dem Schulhausneubau weichen. Von der jüdischen Gemeinde gibt heute nur noch der große Friedhof Kunde, auf dem 600-700 Gräber vorhanden sind. 1951 wurden allerdings nur noch 220 Grabsteine registriert.
In dieser Studie nachgewiesene Literatur
- Bach, Johanna, Entstehung der jüdischen Gemeinde in Mühringen, in: Gemeindezeitung für die israelitischen Gemeinden Württembergs, Jg. 2, Nr. 1, S. 4-6, 1. April 1925.
- Beschreibung des Oberamts Horb, 1865.
- Bilder von der Synagoge und vom Friedhof, in: Jüdische Gotteshäuser und Friedhöfe, 1932, S. 104 f.
- Neufeld, Siegbert, Das ehemalige Rabbinat Horb, in: Funkmanuskript Südwestfunk Tübingen WK 1733.
- Rosenthal, Berthold, Heimatgeschichte der badischen Juden, S. 221 f.
Zitierhinweis: Sauer, Paul, Die jüdischen Gemeinden in Württemberg und Hohenzollern, Stuttgart 1966, Beitrag zu Mühringen, veröffentlicht in: Jüdisches Leben im Südwesten, URL: […], Stand: 20.11.2022
Lektüretipps für die weitere Recherche
- Gräber im Wald. Lebensspuren auf dem jüdischen Friedhof in Mühringen. Dokumentation des Friedhofes, der über 300 Jahre in Mühringen ansässigen jüdischen Gemeinde und des Rabbinats Mühringen, hg. vom Stadtarchiv Horb und vom Träger- und Förderverein Ehemalige Synagoge Rexingen (Jüdische Friedhöfe der Stadt Horb, Bd. II), Horb 2003.
- Hahn, Joachim/Krüger, Jürgen, „Hier ist nichts anderes als Gottes Haus...“. Synagogen in Baden-Württemberg. Band 1: Geschichte und Architektur. Band 2: Orte und Einrichtungen, hg. von Rüdiger Schmidt (Badische Landesbibliothek, Karlsruhe) und Meier Schwarz (Synagogue Memorial, Jerusalem), Stuttgart 2007.
- Müller, Hans Peter, Die Juden in der Grafschaft Hohenberg, in: Der Sülchgau 25 (1981), S. 36-43.
- Müller, Hans Peter, Die jüdische Gemeinde, in: 1200 Jahre Mühringen, 1986, S. 135-145.
- Rätsel um den berühmten Sprachlehrer Berlitz ist gelöst, in: Esslinger Zeitung vom 10. März 2001.
- Rose, Emily C., Als Moises Katz seine Stadt vor Napoleon rettete. Meiner jüdischen Geschichte auf der Spur, 1999.
- Rose, Emily C., Portraits of Our Past. Jews of the German Countryside, 2001.
- Württemberg - Hohenzollern – Baden (Pinkas Hakehillot. Encyclopedia of Jewish Communities from their foundation till after the Holocaust), hg. von Joseph Walk, Yad Vashem/Jerusalem 1986, S. 110-112.