Niederstetten 

Bereich um den Standort der neuen Synagoge in der heutigen Mittelgasse auf der Württembergischen Flurkarte, Blätter NO LXXXVI 55 und 56 von 1833. Das Gebäude wurde während der Pogrome im November 1938 nicht zerstört, fiel jedoch im Frühjahr 1945 einem Luftangriff zum Opfer. [Quelle: Landesarchiv BW, StAL EL 68 VI Nr 6736 und 6737]
Bereich um den Standort der neuen Synagoge in der heutigen Mittelgasse auf der Württembergischen Flurkarte, Blätter NO LXXXVI 55 und 56 von 1833. Das Gebäude wurde während der Pogrome im November 1938 nicht zerstört, fiel jedoch im Frühjahr 1945 einem Luftangriff zum Opfer. [Quelle: Landesarchiv BW, StAL EL 68 VI Nr 6736 und 6737]

Dieser Beitrag stammt aus der Studie von Paul Sauer, Die jüdischen Gemeinden in Württemberg und Hohenzollern. Denkmale, Geschichte, Schicksale, hg. von der Archivdirektion Stuttgart (Veröffentlichungen der Staatlichen Archivverwaltung Baden-Württemberg 18), Stuttgart 1966.

Die Studie wird hier in der Originalfassung als Volltext zugänglich gemacht und separat bebildert. Inhalte und Sprachgebrauch entsprechen dem Stand von 1966. Weitere Informationen zur Entstehung und Einordnung der Studie finden Sie hier.

Die Stadt Niederstetten hatten als würzburgisches Lehen von 1641 bis 1794 die Fürsten von Hatzfeld inne, nach deren Aussterben sie an Würzburg zurückfiel. Der Reichsdeputationshauptschluss von 1803 sprach Niederstetten den Fürsten von Hohenlohe Bartenstein zu, deren Nebenlinie Waldenburg-Jagstheim kurze Zeit hier residierte. 1806 wurde die Stadt zunächst bayerisch, dann württembergisch.

Nach dem Nürnberger Memorbuch wurden hier bereits 1298 Juden erschlagen. Zahl und Namen der Opfer sind nicht bekannt. In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts erlaubten die Fürsten von Hatzfeld mehreren jüdischen Familien die Niederlassung in der Stadt (1675 Judensiedlung). 1714 richtete die kleine israelitische Gemeinde einen Betsaal ein. 1737 legte sie oberhalb des Schlosses Haltenbergstetten einen Friedhof an. Einer alten Überlieferung zufolge hatte sie ihre Toten zuvor in Schopfloch in Bayern begraben. Seit 1730 hatte sie allerdings den Friedhof in Weikersheim mitbenutzt, zumindest aber einen Vertrag mit der israelitischen Gemeinde Weikersheim über die Mitbenutzung geschlossen. Auf dem Niederstetter Friedhof fanden zeitweise auch Juden aus Archshofen, Creglingen, Gerabronn und Mulfingen ihre letzte Ruhestätte. Das 1929 noch erhaltene, mit seinen Eintragungen bis 1741 zurückreichende Chewra-Buch der Chewra-Kadischa-Bruderschaft der israelitischen Gemeinde Niederstetten berichtet, dass 1756 hier auch ein Jude aus Rothenburg bestattet wurde. 1744 errichtete die Gemeinde eine Synagoge. Im 18. Jahrhundert wirkte in Niederstetten Reb Mahram, der als Nachkomme des berühmten Rabbi Meir von Rothenburg galt. Bereits zu jener Zeit verfügten die hiesigen Juden über bedeutende Handelsbeziehungen. Sie betrieben wie auch später noch Handel mit Wein, Wolle und Vieh. Ihre Rechte und Pflichten, ebenso ihre Abgaben hatte die Herrschaft festgelegt.

1807 lebten in der Stadt 138 Juden, 1824 171, 1831 189, 1843 195, 1854 215, 1869 199, 1886 192, 1900 163, 1910 116 und 1933 81. Unter den Niederstetter Gefallenen des Ersten Weltkriegs befanden sich zwei jüdische Bürger: Manfred Grünfeld und Martin Laub.

1832 wurde die israelitische Religionsgemeinde Niederstetten dem Rabbinat Mergentheim zugeteilt, dem es bis zu ihrer Auflösung im August 1939 angehörte. Eine israelitische Volksschule wurde in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts begründet; sie bestand noch 1933 als freiwillige israelitische Konfessionsschule, zählte damals jedoch nur noch drei Schüler (Lehrer: Lazarus Oberdörfer 1914-33).

Von 1933 bis 1939 wurde sie von der Israelitischen Religionsgemeinschaft in Württemberg als Privatschule weitergeführt (Lehrer: Alexander Rohberg 1933-37 und Justin Schloss 1937-39). Sehr hohes Ansehen genoss die Chewra-Kadischa-Bruderschaft, die sich der Krankenpflege, der Totenbestattung und anderen karitativen Aufgaben widmete. Ihre Anfänge reichen in die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts zurück. Sie hat wesentlich zur Vertiefung des religiösen Lebens der Gemeinde beigetragen.

Die Juden waren im 19. Jahrhundert und trotz Abwanderungen bis zur Machtergreifung durch Hitler von erheblicher wirtschaftlicher Bedeutung für die kaum 2.000 Einwohner zählende Stadt. Einige der führenden Geschäfte und Warenhandlungen gehörten jüdischen Bürgern. 1933 waren im Besitz von Juden vier Fellhandlungen (Hirsch Braun, Brüder Max und Wolf Braun, Sofie Braun, Fritz Neuburger), ein Handelsgeschäft mit Wein und Landesprodukten (Max Ehrenberg), eine Weingroßhandlung (Otto Reis), eine Weinhandlung (Hermann Ney), sechs Textilgeschäfte (Albert Kahn, Max Kirchheimer, Julius Löwenstein, Siegfried Schlesinger, Berthold Schloßberger und David Wolf), zwei Metzgereien (Max Kahn, Fritz Neuburger), eine Leder- und Farbwarenhandlung (Max Strauß), eine Speisewirtschaft (Wolf Braun). Mehrere jüdische Bürger betätigten sich im Viehhandel (Abraham Kirchheimer, Simon Kirchheimer, Jakob Neu, Julius Schloßberger). Michael Levi betrieb einen Industriediamantenhandel geringen Umfangs. Daniel Wolf unterhielt neben seinem Textilgeschäft noch eine Privatbank. Abgesehen von den wohlhabenden Juden gab es aber schon 1933 wenig bemittelte jüdische Bürger, die zum Teil auf Unterstützung angewiesen waren.

In den Jahren der Weimarer Republik lebten christliche und jüdische Bürger, aufs ganze gesehen, in gutem Einvernehmen. Nicht wenige Juden erfreuten sich als Bürger wie als Geschäftsleute großen Ansehens. Der Vorsteher der israelitischen Gemeinde Max Stern war viele Jahre Mitglied des Stadtrats. Zahlreiche Juden gehörten den örtlichen Turn-, Sport- und Gesangvereinen an, ebenso den demokratischen Parteien.

Nach der sogenannten Machtergreifung vom 30. Januar 1933 hatten die jüdischen Geschäfte schon bald unter Boykottmaßnahmen zu leiden. Die Nationalsozialisten rissen eine Kluft zwischen jüdischen und christlichen Bürgern auf. Am 25. März 1933 erschienen im Zuge der von dem neuen Regime angeordneten Waffendurchsuchungen bei Gegnern der nationalsozialistischen Bewegung Heilbronner SA-Leute in Niederstetten und misshandelten einige jüdische Männer schwer, so Michael Levi, Fritz Neuburger, Max Stern, Leopold Schlossberger u. a. Im November 1938 entging die Synagoge der Zerstörung (Mitteilung des Bürgermeisteramts Niederstetten). Acht Männer wurden jedoch verhaftet und wochenlang im Konzentrationslager festgehalten. Die Lebens- und Einkommensverhältnisse der jüdischen Bürger verschlechterten sich seit 1933 beständig. Nachdem im November 1938 auch die letzten jüdischen Geschäfte hatten schließen müssen, war eine immer größere Zahl auf die Unterstützung durch ihre noch wohlhabenden Glaubensgenossen angewiesen. Viele jüdische Bürger wanderten aus. Die Zurückgebliebenen wurden vornehmlich in den Jahren 1941 und 1942 zwangsverschleppt. Insgesamt traten von Niederstetten 42 Menschen den Weg in die Deportation an, von denen nur drei nach Kriegsende zurückkehrten: die heute in den USA lebenden Geschwister Käthe und Ignatz Julius Selling (geb. 1925 und 1927), die 1941 mit Mutter und einem zweiten Bruder (umgekommen) nach Riga verschleppt worden waren, und Thea Baumann, die als Partnerin einer sogenannten Mischehe erst am 12. Februar 1945 nach Theresienstadt verbracht worden war. Unter den in der Deportation Umgekommenen befanden sich auch die 78jährige Mutter des Kriegsfreiwilligen Martin Laub, der am 14. November 1914 gefallen war, und Mina Reis mit ihren drei 1930, 1932 und 1936 geborenen Kindern (der Ehemann, Otto Reis, der einer der angesehensten Niederstetter Familien angehörte, war 1940 nach den USA ausgewandert in der Absicht, seine Familie nachkommen zu lassen, sobald er dort Fuß gefasst hatte).

Die Synagoge wurde durch die Kriegsereignisse im Frühjahr 1945 zerstört. Die Kultgegenstände hatte die Fürstin von Hohenlohe-Bartenstein bei sich versteckt gehalten. Sie übergab sie nach Kriegsende dem amerikanischen Armeerabbiner Dr. Kahan. Heute erinnert nur noch der große Friedhof an die einst blühende jüdische Gemeinde.[1]

In dieser Studie nachgewiesene Literatur

  • Archiv Yad Washem, Jerusalem, Gemeindefragebogen 441: Niederstetten.
  • Beschreibung des Oberamts Gerabronn, 1847.
  • Bilder vom Friedhof und vom Traustein in der Synagoge, in: Jüdische Gotteshäuser und Friedhöfe, 1932, S. 108 f.
  • Stern, Max, Das Chewrabuch der Chewra-Kadischa der Gemeinde Niederstetten, in:  Gemeindezeitung für die israelitisclien Gemeinden Württembergs, Jg. 5, Nr. 13, 1. Oktober 1928.

Anmerkungen

[1] Diese Information bezieht sich auf das Jahr 1966, als die Studie erschien.

Ergänzung 2023:

In dem Wohn- und Geschäftshaus, das anstelle der ehemaligen Synagoge errichtet wurde, sind Reste der Umfassungsmauer der Synagoge erhalten. An dem Haus ist eine Gedenktafel für die Synagoge angebracht.

Zitierhinweis: Sauer, Paul, Die jüdischen Gemeinden in Württemberg und Hohenzollern, Stuttgart 1966, Beitrag zu Niederstetten, veröffentlicht in: Jüdisches Leben im Südwesten, URL: […], Stand: 20.11.2022

Lektüretipps für die weitere Recherche

  • Behr, Hartwig, Gedenkt unser. Zur Geschichte der jüdischen Gemeinde von Niederstetten, in: 650 Jahre Stadt Niederstetten, hg. von der Stadt Niederstetten 1991, S. 317-331.
  • Germania Judaica, Bd.2, 1. Halbband, hg. von Zvi Avneri, Tübingen 1968, S. 323.
  • Hahn, Elfriede, Jüdischer Alltag in Niederstetten, in: 650 Jahre Niederstetten, hg. von der Stadt Niederstetten, S. 332-335.
  • Hahn, Joachim/Krüger, Jürgen, „Hier ist nichts anderes als Gottes Haus...“. Synagogen in Baden-Württemberg. Band 1: Geschichte und Architektur. Band 2: Orte und Einrichtungen, hg. von Rüdiger Schmidt (Badische Landesbibliothek, Karlsruhe) und Meier Schwarz (Synagogue Memorial, Jerusalem), Stuttgart 2007.
  • Henck, Herbert, Else Thalheimer. Ein Lebensweg von Köln nach Tel Aviv.
  • Jakob Stern. Vom Rabbiner zum Atheisten. Ausgewählte religionskritische Texte, hg. von H. Jestrabek.
  • Stern, Bruno, Meine Jugenderinnerungen an eine württembergische Kleinstadt und ihre jüdische Gemeinde, 1968.
  • Stern, Bruno, So war es. Leben und Schicksal eines jüdischen Emigranten.
  • Württemberg - Hohenzollern – Baden (Pinkas Hakehillot. Encyclopedia of Jewish Communities from their foundation till after the Holocaust), hg. von Joseph Walk, Yad Vashem/Jerusalem 1986, S. 114-117.
Suche