Nordstetten
Dieser Beitrag stammt aus der Studie von Paul Sauer, Die jüdischen Gemeinden in Württemberg und Hohenzollern. Denkmale, Geschichte, Schicksale, hg. von der Archivdirektion Stuttgart (Veröffentlichungen der Staatlichen Archivverwaltung Baden-Württemberg 18), Stuttgart 1966.
Die Studie wird hier in der Originalfassung als Volltext zugänglich gemacht und separat bebildert. Inhalte und Sprachgebrauch entsprechen dem Stand von 1966. Weitere Informationen zur Entstehung und Einordnung der Studie finden Sie hier.
Die Herrschaft Nordstetten mit Isenburg war seit dem 15. Jahrhundert österreichisches Lehen. Sie gelangte 1598 durch Kauf an die Wendler von Pregenroth und wurde 1644 von dem ehemaligen kaiserlichen Oberst Adam Heinrich Keller von Sehleitheim erworben. 1805 fiel Nordstetten an Württemberg.
Ums Jahr 1712 nahmen die Herren Keller von Sehleitheim Juden aus Auerbach, Hürben und Kriegshaber (Bayerisch Schwaben) auf. Bereits 1721 errichteten die hier ansässig gewordenen Schutzjuden ihre erste Synagoge, 1767 eine neue, die 1839 umgebaut und vergrößert wurde. 1797 legte die jüdische Gemeinde Nordstetten einen Friedhof an. Zuvor hatte sie ihre Toten auf dem Mühringer Judenfriedhof bestattet. Im Jahr 1772 lebten hier 18 jüdische Familien. Jede dieser Familien hatte an die Herrschaft eine Rezeptionsgebühr von 30 Gulden, ein jährliches Schutzgeld von 15 Gulden sowie an Nebengebühren 2 Gulden 11 Kreutzer zu entrichten, an die Dorfgemeinde außerdem jährlich 2 Gulden. Die Schutzjuden, die Gottesdienste in ihren Häusern abhalten und dabei eine Thorarolle ausstellen wollten, mussten eine Taxe von 50 Gulden an das kaiserliche „Kameral", seit 1789 an die Judengemeindekasse bezahlen. Nach einer Verfügung des österreichischen Oberamts in Rottenburg von diesem Jahr sollte diese Taxe für die Unterhaltung der jüdischen Normalschulen verwendet werden. Den Juden war wie den christlichen Einwohnern eine Türkenkriegssteuer auferlegt. Als Kaufleute und Händler wurden sie zu besonderen Kriegslieferungen herangezogen. 1788 erlaubte die vorderösterreichische Regierung den Nordstetter Juden, im Kriege ihrer Militärpflicht auch „mit dem Feuergewehr" zu genügen und nicht wie bisher bloß beim Fuhrwesen. 1787 ordnete Kaiser Joseph II. an, dass die Juden künftig bestimmte Familiennamen annehmen und dass die Beschneidungs- und Geburtsbücher ohne Ausnahmen in deutscher Sprache geführt werden sollten. Die Nordstetter Juden entschieden sich damals u. a. für folgende Familiennamen: Auerbacher, Ochs, Frank, Rothschilt, Levi, Ottenheimer, Kahn, Kuhn, Weil, Gideon (Gidion).
Die jüdische Gemeinde richtete auf Initiative ihres tatkräftigen Vorstehers Rothschild im Jahr 1822 die erste israelitische Volksschule in Württemberg ein. Als Lehrer wählte sie von den fünf Bewerbern, die sich auf ihre Annonce im Stuttgarter „Schwäbischen Merkur" gemeldet hatten, Bernhard Frankfurter aus Kufhausen, dessen Vater Rabbiner in Oberdorf am Ipf war. Frankfurter hatte sich sein jüdischtalmudisches Wissen bei Rabbiner Moses Horkheimer in Ansbach angeeignet, die Prüfung für das Schulamt hatte er vor dem Evangelischen Konsistorium in Stuttgart abgelegt. Die Schule, die mit 46 Schülern eröffnet worden war, erlangte unter B. Frankfurter, dem Lehrer und Freund Berthold Auerbachs, bald einen ausgezeichneten Ruf. Anfänglich war Frankfurter von der Gemeinde angestellt, die sich das Recht vierteljährlicher Kündigung vorbehalten hatte. Schon 1823 verfügte die Regierung des Schwarzwaldkreises, dass zur Unterhaltung der Schule alle jüdischen Familien beitragen sollten und nicht nur die Familien mit schulpflichtigen Kindern. 1840 wurde die Schule öffentlich.
Wie in anderen Gemeinden gab es in Nordstetten religiöse Vereinigungen, die sich der Krankenpflege und der Armenfürsorge widmeten. Im 18. und in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts waren hier auch Rabbiner ansässig: 1780 Jakob ben Samuel aus Gailingen, 1803 Abraham Raphael. Damals lebte auch der ob seiner Gelehrsamkeit berühmte Rabbi Jehuda in Nordstetten. Der ehrwürdige Rabbi Moses Auerbacher, der Großvater des Dichters Berthold Auerbach, übte das Rabbinat ohne Entgelt aus; er besaß bei den österreichischen Behörden ein so hohes Ansehen, dass sie ihn als Sprecher der Juden von Horb bis Freiburg anerkannten. Zeitweise konkurrierte Nordstetten als Rabbinatssitz mit Mühringen, bis letzteres 1832 von der württembergischen Regierung endgültig dazu bestimmt wurde.
Zu Spannungen zwischen Juden und Christen ist es in Nordstetten im Lauf von 200 Jahren kaum einmal gekommen. Bei einer mutwilligen Schändung des israelitischen Friedhofs im Jahr 1797 drohte das österreichische Oberamt in Rottenburg, falls sich solche Exzesse wiederholen sollten, strenge Bestrafung der Täter an. Im 19. Jahrhundert machte Pfarrer Ginter eine Stiftung zugunsten armer jüdischer Mitbürger.
Die jüdische Gemeinde erlebte ihre Blütezeit in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. 1807 lebten hier 176 Juden, 1824 waren es 240, 1831 261, 1843 333, 1854 352, 1869 157, 1886 62, 1900 65, 1910 39, 1933 12. Infolge der nach 1850 einsetzenden Abwanderung der jüdischen Einwohner musste die Gemeinde, die zeitweise auch die Juden in Mühlen am Neckar und Horb mit umfasst hatte, 1925 aufgelöst werden. Die Synagoge wurde geschlossen und verkauft. An ihrer Stelle steht heute ein Privathaus. Die wenigen 1933 hier ansässigen Bürger betätigten sich vornehmlich als Viehhändler. Leo Rothschild betrieb eine bekannte Mazzenbäckerei. Die Brüder Gidion besaßen eine Zigarrenfabrik. Der Nationalsozialismus zwang sieben Bürger zur Auswanderung, vier starben während der Verfolgungszeit im Heimatort und vier kamen in der Deportation um. In der Kristallnacht wurden die Fensterscheiben einiger jüdischer Häuser eingeworfen.
In Nordstetten ist am 28. Februar 1812 der Dichter Berthold Auerbach als Sohn eines Handelsmanns und Landwirts geboren. Berthold Auerbach wuchs im Elternhaus in einer Atmosphäre strenger Religiosität auf. Als Dreizehnjähriger kam er auf die Talmudschule nach Hechingen, 1827 nach Karlsruhe, 1832 legte er am Stuttgarter Obergymnasium das Abitur ab und studierte seit dem Wintersemester 1832/33 in Tübingen, wo er David Friedrich Strauß und Ludwig Uhland zu akademischen Lehrern hatte. Vom Sommersemester 1833 an setzte er aus politischen Gründen sein Studium in München und Heidelberg fort. Seinen Plan, Rabbiner zu werden und in den Dienst der israelitischen Religionsgemeinschaft in Württemberg zu treten, vereitelte ein Verfahren, das gegen ihn wegen seiner Mitgliedschaft bei der Burschenschaft Germania eingeleitet wurde und das ihm schließlich zwei Monate Festungshaft auf dem Hohenasperg eintrug. So entschied er sich für den Beruf des Schriftstellers und Literaturkritikers. Seiner dichterischen Neigungen war er sich bereits 1828 als Schüler in Karlsruhe bewusst geworden. 1843 erschienen im Verlag von Friedrich Bassermann in Mannheim seine ersten „Schwarzwälder Dorfgeschichten", die ihn weit über das deutsche Sprachgebiet hinaus berühmt machten. Den größten Erfolg hatte 1856 das „Barfüßele". Obwohl Berthold Auerbach fast zeitlebens ein unstetes Wanderleben führte, bald in Karlsruhe, bald in Fulda, Weimar, Halle, Berlin, Leipzig, Dresden und Breslau seinen Wohnsitz hatte, ist er doch mit seinem Heimatort Nordstetten stets eng verbunden geblieben, in dem „alle Menschen so gut waren, Christ und Jud, alles gleich". Sein Lehrer und Freund Frankfurter hat für ihn Gebräuche, Volkslieder und Redensarten aufgezeichnet, hat ihm immer wieder Angaben über Nordstetter Örtlichkeiten gemacht. 1881 weilte er ein letztes Mal in Nordstetten. Er errichtete damals im Gedenken an seine Eltern eine Stiftung zugunsten der Ortsarmen. Als er am 8. Februar 1882 in Cannes gestorben war, wurde er auf seinen ausdrücklichen Wunsch nach Nordstetten überführt und am 15. Februar auf dem jüdischen Friedhof beigesetzt. Der greise Friedrich Theodor Vischer hielt dem Freunde die Grabrede. Der Biograph Berthold Auerbachs, Pfarrer Walter Hagen, urteilt über den Dichter: „Seine engere Heimat hat in den Schwarzwälder Dorfgeschichten, und zwar vor allem in den ältesten, ein unersetzliches Bilderbuch, das die bäuerliche Welt zeigt, wie sie wirklich war, bevor Eisenbahn, Industrialisierung und Kriege ihre zerstörerische Wirkung ausüben konnten: Auerbach hat uns eine wahre Schatzkammer volkstümlicher Sitten, Gebräuche und Lieder aufbewahrt. Und das alles geschildert von einem Menschen, der von einer unverwüstlichen Zuversicht getragen war und trotz aller enttäuschenden Erfahrungen um ihn her nie aufhörte, an den guten und besserungsfähigen Kern des Volkes zu glauben." Unter dem gegen Ende seines Lebens neu aufkommenden Antisemitisnms hat er sehr gelitten. „Dass solche Roheit, solche Verlogenheit und solcher Haß möglich ist! Wie überwindet, wie tilgt man sie? Man muss die Schande des Vaterlands mittragen und ausharren." Berthold Auerbach hat sich stets als Deutscher und als Schwabe gefühlt, dabei aber nie seine jüdische Herkunft verleugnet. Der Nationalsozialismus hat das Andenken „des Machers von Schwarzwälder Dorfgeschichten" verunglimpft und die Tafel, die an seinem Geburtshaus angebracht war, entfernt.
Im August 1942 wurde der Nordstetter Metzger und Handelsmann Siegmund Auerbacher (geb. 1868), vielleicht ein Verwandter des Dichters, mit seiner Frau nach Theresienstadt und von dort am 26. September 1942 in das Vernichtungslager Maly Trostinec zwangsverschleppt, wo die Eheleute umkamen.
In dieser Studie nachgewiesene Literatur
- Beschreibung des Oberamts Horb, 1865.
- Bilder vom Friedhof, vom Grab Berthold Auerbachs und der Synagoge (Innenraum), in: Jüdische Gotteshäuser und Friedhöfe, 1932, S. 110-112.
- Das ehemalige Rabbinat Horb, Funkmanuskript Südwestfunk Tübingen WK 1733.
- Hagen, Walter, Berthold Auerbach, in: Lebensbilder aus Schwaben und Franken, Bd. VII, 1960, S. 289 ff.
- Schweizer, Abraham, Die israelitische Gemeinde Nordstetten, in: Gemeindezeitung für die israelitischen Gemeinden Württembergs, Jg. 3, Nr. 2, 4, 5, 16. April, 16. Mai und 1. Juni 1926.
Zitierhinweis: Sauer, Paul, Die jüdischen Gemeinden in Württemberg und Hohenzollern, Stuttgart 1966, Beitrag zu Nordstetten, veröffentlicht in: Jüdisches Leben im Südwesten, URL: […], Stand: 20.11.2022
Lektüretipps für die weitere Recherche
- Bernstein, Charles Bernard, The Rothschilds of Nordstetten. Their History and Genealogy, Chicago 1989.
- Hahn, Joachim/Krüger, Jürgen, „Hier ist nichts anderes als Gottes Haus...“. Synagogen in Baden-Württemberg. Band 1: Geschichte und Architektur. Band 2: Orte und Einrichtungen, hg. von Rüdiger Schmidt (Badische Landesbibliothek, Karlsruhe) und Meier Schwarz (Synagogue Memorial, Jerusalem), Stuttgart 2007.
- Schneiderhan, Emil, Häusergeschichte von Nordstetten bei Horb, 1975.
- Württemberg - Hohenzollern – Baden (Pinkas Hakehillot. Encyclopedia of Jewish Communities from their foundation till after the Holocaust), hg. von Joseph Walk, Yad Vashem/Jerusalem 1986, S. 78-79.