Öhringen

Der Betsaal im ehemaligen Gasthof Sonne in Öhringen wurde während der Pogrome im November 1938 schwer beschädigt. Das Haus ging im Anschluss an die Gemeinde Öhringen über und wird seitdem unter anderem von Bildungseinrichtungen genutzt. [Quelle: Landesarchiv BW]
Der Betsaal im ehemaligen Gasthof Sonne in Öhringen wurde während der Pogrome im November 1938 schwer beschädigt. Das Haus ging im Anschluss an die Gemeinde Öhringen über und wird seitdem unter anderem von Bildungseinrichtungen genutzt. [Quelle: Landesarchiv BW]

Dieser Beitrag stammt aus der Studie von Paul Sauer, Die jüdischen Gemeinden in Württemberg und Hohenzollern. Denkmale, Geschichte, Schicksale, hg. von der Archivdirektion Stuttgart (Veröffentlichungen der Staatlichen Archivverwaltung Baden-Württemberg 18), Stuttgart 1966.

Die Studie wird hier in der Originalfassung als Volltext zugänglich gemacht und separat bebildert. Inhalte und Sprachgebrauch entsprechen dem Stand von 1966. Weitere Informationen zur Entstehung und Einordnung der Studie finden Sie hier.

Um 1250 gelangte die von den Staufern gegründete Stadt Öhringen an die Hohenlohe, in deren Besitz sie bis zur Mediatisierung durch Württemberg im Jahr 1806 blieb. Juden lebten hier bereits 1253. Während des von dem fränkischen Ritter Rindfleisch ausgelösten Pogroms wurden 1298 auch in Öhringen Juden erschlagen; Zahl und Namen sind nicht bekannt. In den Verfolgungen von 1348/49 ging wohl die ganze damalige jüdische Gemeinde zugrunde. Das 1353 gestiftete Spital wurde auf dem Platz gebaut, wo vorher die Synagoge der unglaubigen Juden gestanden" (das Spital wurde später verlegt). Doch waren im 15. Jahrhun­dert zumindest wieder zeitweise Juden in der Stadt ansässig. 1475 ist von einem Haus beim unteren Tor die Rede, das zuvor Mose der Jude bewohnt hatte. Die Grafen von Hohenlohe hatten Mose das Haus weggenommen „umb sein Verschulden an uns und den unsern begangen". Es scheint, dass die Hohenlohe im 13. und 14. Jahrhundert häufig jüdische Geldgeber in Anspruch nahmen, seit dem 15. Jahr­hundert dagegen Juden möglichst aus ihrem Territorium fernzuhalten suchten. In der Erbeinigung von 1455 legten die Grafen Kraft und Albrecht fest, dass keiner ohne des anderen Willen Juden aufnehmen solle. Diese Vereinbarung wurde in späteren Erbeinigungen bestätigt, ja in noch schärferer Form wiederholt.

Eine neue jüdische Gemeinde bildete sich in Öhringen erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch Zuzüge von Juden aus der näheren und weiteren Umgebung. 1869 zählte die Stadt 8 jüdische Bürger, 1886 180, 1900 164, 1910 154, 1925 159 und 1933 163. 1869/70 wurde die israelitische Religionsgemeinde offiziell gegründet. Sie besaß zunächst einen Betsaal in der Vorstadt. 1888 kaufte sie den Gasthof zur Sonne und baute ihn zu einer Synagoge um. Am 29. und 30. März 1889 fand die feierliche Einweihung in Anwesenheit des Israelitischen Kirchenrats von Wassermann und unter zahlreicher Beteiligung der christlichen Bevölkerung statt. Die Festpredigt hielt der Heilbronner Rabbiner Dr. Engelbert. 1911 legte die israelitische Gemeinde am Fuß des Galgenbergs einen Friedhof an. Ein israelitischer Wohltätigkeits-, ein Armen- und ein Frauenverein, denen ein großer Teil der Gemeindemitglieder angehörte, widmeten sich vornehmlich karitativen Aufgaben. Im Ersten Weltkrieg starben die beiden Kriegsfreiwilligen Josef und Justin Rosen­feld für ihr deutsches Vaterland.

Die jüdischen Bürger spielten seit den achtziger Jahren vornehmlich im wirtschaftlichen Leben der Stadt eine bedeutsame Rolle. 1933 hatte Max Blum ein Groß­ und Kleinhandelsgeschäft in Tabakwaren inne, Moritz Mosche Friessner und Julius Israel betrieben Weingroßhandlungen, Ferdinand und Siegfried Bloch eine Getreidehandelsfirma, Louis Kaufmann besaß eine Bäckerei, Max Kochentaler ein Textilwarengeschäft, Amalie Lämmle zusammen mit ihrem Sohn eine Getreidegroß­handlung, Samuel Rosenfeld eine Mehlhandlung, Seligmann Weil eine Metzgerei und Gastwirtschaft, Eugen und Hugo Schleßinger gehörte ein Warenhaus. Ebenso waren einige Industrieunternehmen im Besitz jüdischer Familien, die sie zumeist auch schon gegründet hatten: Schuhfabrik Heinrich Einstein, Stuhlindustrie Öhringen (Teilhaber: Sigmund Israel und Heinrich Scheuer), sowie die Lack- und Farben­fabrik Gebrüder Thalheimer (Berthold, Julius und Max Thalheimer). Eine größere Zahl jüdischer Bürger betätigte sich im Vieh- und Pferdehandel: Gustav Berliner, Adolf Ehrlich, Elias Heidenheimer, Alfred und Siegfried Herz, Louis Hirsch, Louis Kahn, Heinrich Levi, Abraham Loew, Julius Metzger, Julius und Leopold Stern. Einige Juden waren Vertreter und kaufmännische Angestellte.

Jüdische Bürger gehörten vor 1933 den örtlichen Vereinen an. Julius Bloch war Mitglied des Gemeinderats, der Landesproduktenbörsen Stuttgart und Karlsruhe, Dr. med. Julius Merzbacher (später mit seiner Frau in der Deportation umge­kommen) unterhielt seit 1919 eine gutgehende ärztliche Praxis.

Die Auswirkungen der nationalsozialistischen Machtübernahme am 30. Januar 1933 bekamen die jüdischen Bürger sehr bald zu verspüren. Anlässlich einer vom Württembergischen Innenministerium angeordneten Waffendurchsuchung bei Geg­nern des neuen Regimes wurden mehrere Juden misshandelt. Fabrikant Heinrich Einstein erlitt so schwere Kopfverletzungen, dass er seinen Beruf nicht mehr auszu­üben vermochte. Im Progymnasium hatten jüdische Schüler von Lehrern und Mit­schülern viel Anfeindung zu erdulden. 1936 mussten die letzten Juden das Progymnasium verlassen. Dr. Merzbacher wurde 1937 zu drei Monaten Gefängnis verurteilt, weil er einem ihn herausfordernden Hitlerjungen eine Ohrfeige verab­reicht hatte. Die jüdischen Geschäfte und Unternehmen gerieten durch die gegen sie verhängten Boykottmaßnahmen in eine immer schwierigere Situation. Die in die Isolation gedrängten Juden unterhielten von 1936-1938 für ihre Kinder eine Privatschule. Während der Kristallnacht im November 1938 wurde die Innenein­richtung der Synagoge beschädigt. Die Täter, SA-Leute und Angehörige anderer Parteiformationen, handelten auf Anordnung des damaligen Kreisleiters der NSDAP. Jüdische Geschäfte wurden nicht demoliert.

Bis 1941 vermochten sich rund zwei Drittel der Öhringer Juden im Ausland in Sicherheit zu bringen. 36 jüdische Bürger wurden von hier wie von anderen Orten im In- und westeuropäischen Ausland aus deportiert: 33 von ihnen fanden den Tod, 3 überlebten. Unter den Umgekommenen befand sich Leopold Einstein mit Frau und zwei 1928 und 1937 geborenen Kindern (am 1. Dezember 1941 nach Riga deportiert und verschollen). August Thalheimer geriet mit seiner Familie in Holland, wohin er ausgewandert war, in die Netze der Gestapo. Er und ein Sohn kamen um, während seine Frau und der andere Sohn 1945 befreit wurden.

Die Auflösung der israelitischen Religionsgemeinde Öhringen erfolgte bereits im Juli 1939. Die umgebaute Synagoge dient heute als Jugendherberge.[1]

 

In dieser Studie nachgewiesene Literatur

  • Bauer, Israeliten im wirtembergischen Franken, in: Württ. Franken, Bd. 5, Heft 3, 1861.
  • Beschreibung des Oberamts Öhringen, 1865.
  • Bild vom Friedhof, in: Jüdische Gotteshäuser und Friedhöfe, 1932, S. 115.

Anmerkungen

[1] Diese Information bezieht sich auf das Jahr 1966, als die Studie erschien.

Zitierhinweis: Sauer, Paul, Die jüdischen Gemeinden in Württemberg und Hohenzollern, Stuttgart 1966, Beitrag zu Öhringen, veröffentlicht in: Jüdisches Leben im Südwesten, URL: […], Stand: 20.11.2022

Ergänzung 2023:

An dem Gebäude der ehemaligen Synagoge, das heute als Wohnhaus und von verschiedenen Bildungseinrichtungen genutzt wird, wurde 1998 eine Gedenktafel angebracht.

Lektüretipps für die weitere Recherche

  • Die Öhringer Synagoge wurde verwüstet, in: Kleine Hohenloher Zeitung vom 9. November 1983.
  • Ein Öhringer Schicksal. Das Lebensbild des Öhringer Arztes Dr. Julius Merzbacher, hg. von Norberg Strauß.
  • Germania Judaica, Bd.3, 2. Teilband, hg. von Arye Maimon/Mordechai Breuer/Yacov Guggenheim, Tübingen 1995, S. 1057.
  • Hahn, Joachim/Krüger, Jürgen, „Hier ist nichts anderes als Gottes Haus...“. Synagogen in Baden-Württemberg. Band 1: Geschichte und Architektur. Band 2: Orte und Einrichtungen, hg. von Rüdiger Schmidt (Badische Landesbibliothek, Karlsruhe) und Meier Schwarz (Synagogue Memorial, Jerusalem), Stuttgart 2007.
  • Jüdische Bürger in Öhringen, hg. von der Stadt Öhringen, Öhringen 1993.
  • Rauser, Jürgen Hermann, Ohrntaler Heimatbuch, XI. Bd, Öhringer Buch, Weinsberg 1982.
  • Spuhler, Gregor, Gerettet - zerbrochen. Das Leben des jüdischen Flüchtlings Rolf Merzbacher zwischen Verfolgung, Psychiatrie und Wiedergutmachung, Zürich 2011.
  • Strauß, Norbert, Zur Geschichte der jüdischen Gemeinde Öhringens, in: Heimatbuch „Öhringen, Stadt und Stift“, 1988.
  • Unvergessene Mitbürger. Zur Erinnerung an die ermordeten jüdischen Bürger Öhringens - ausgegrenzt - entwürdigt - verschleppt – ermordet, hg. von der Stadt Öhringen, 2011.
  • Württemberg - Hohenzollern – Baden (Pinkas Hakehillot. Encyclopedia of Jewish Communities from their foundation till after the Holocaust), hg. von Joseph Walk, Yad Vashem/Jerusalem 1986.
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