Rexingen

Während der Pogrome im November 1938 wurde die Synagoge in Rexingen schwer beschädigt. In den 50er-Jahren richtete die evangelische Kirche in den Räumen ein Gemeindezentrum ein. Seit den 90er-Jahren kümmert sich ein Träger- und Förderverein um das Gebäude, in dem auch ein Gedenkbereich geschaffen wurde. [Quelle: Landeszentrale für politische Bildung BW - Gedenkstätten]
Während der Pogrome im November 1938 wurde die Synagoge in Rexingen schwer beschädigt. In den 50er-Jahren richtete die evangelische Kirche in den Räumen ein Gemeindezentrum ein. Seit den 90er-Jahren kümmert sich ein Träger- und Förderverein um das Gebäude, in dem auch ein Gedenkbereich geschaffen wurde. [Quelle: Landeszentrale für politische Bildung BW - Gedenkstätten]

Dieser Beitrag stammt aus der Studie von Paul Sauer, Die jüdischen Gemeinden in Württemberg und Hohenzollern. Denkmale, Geschichte, Schicksale, hg. von der Archivdirektion Stuttgart (Veröffentlichungen der Staatlichen Archivverwaltung Baden-Württemberg 18), Stuttgart 1966.

Die Studie wird hier in der Originalfassung als Volltext zugänglich gemacht und separat bebildert. Inhalte und Sprachgebrauch entsprechen dem Stand von 1966. Weitere Informationen zur Entstehung und Einordnung der Studie finden Sie hier.

Das Dorf Rexingen war bis 1805 im Besitz des Johanniterordens (Sitz eines Komturs) und fiel dann an Württemberg.

1645 nahm der Rat der Reichsstadt Rottweil einen Juden Simeon auf, der angab, vorher in Horb und Rexingen gewohnt zu haben. Ob Simeon länger oder nur vorübergehend in Rexingen ansässig gewesen war, lässt sich nicht feststellen. Zu einer dauernden Niederlassung von Juden kam es hier erst nach dem Dreißigjährigen Krieg. Damals siedelten sich Wolf Pollack und David Buchbinder an, die aus Polen stammten und wahrscheinlich vor den 1649 dort einsetzenden Judenverfolgungen der Kosaken geflüchtet waren. Die Namen der Familien Pressburger und Lemberger, die später zuzogen, deuten ebenfalls auf eine Herkunft aus dem polnisch-slowakischen Raum hin. Dagegen kam die hier vertretene Familie Zürndorfer aus Zirndorf bei Nürnberg. Über die rechtlichen und sozialen Verhältnisse der Rexinger Juden unter dem Johanniterorden ist wenig bekannt. Die Juden mussten Schutzgelder, Abgaben bei Geburt, Verheiratung und Tod, Martini-Gänse usw. entrichten. Der Orden gestattete ihnen den Handel mit Vieh, Leder und Hausierwaren. Auch den Güterhandel durften sie betreiben, doch hatten sie die Grundstücke innerhalb von acht Tagen weiter zu veräußern, da sie sonst der Orden an sich zog. Bis herein ins 19. Jahrhundert lebten die hiesigen Juden in armseligen Verhältnissen. Um 1850 gab es erst wenige wohlhabende jüdische Familien im Ort.

Die jüdische Gemeinde erbaute 1710 eine Synagoge und legte 1760 einen Friedhof an. Zuvor waren die Toten auf dem Mühringer Friedhof beigesetzt worden.

Im 19. Jahrhundert machten die Juden lange Zeit mehr als ein Drittel der Gesamteinwohnerschaft des Dorfes aus (1846 37,42 Prozent, 1887 37,44 Prozent). Unter den jüdischen Landgemeinden bildet Rexingen eine Ausnahme. Hier lässt sich keine so starke Zunahme des jüdischen Bevölkerungsteils in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts beobachten, aber auch kein so rascher Rückgang nach 1860/70 wie in fast allen anderen Dorfgemeinden. Zunahme und Abwanderung hielten sich zwischen 1820 und 1930 in Grenzen. 1830 betrug der Anteil der Juden an der Ortsbevölkerung 33,74 Prozent, 1933 immer noch 28,77 Prozent (die entsprechenden Zahlen für Mühringen und Baisingen: 1830 43,26 bzw. 31,68 Prozent, 1933 7,4 bzw. 12,37 Prozent). Offenbar waren die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse in Rexingen günstiger als in den benachbarten jüdischen Gemeinden Baisingen, Mühringen und Nordstetten, die sich nach 1850 zunehmend entvölkerten. Zwar waren auch hier die meisten Juden Viehhändler, einige Metzger, Wirte und Inhaber von Gemischtwarengeschäften, aber sie waren doch wohl mehr als anderswo mit dem Land verbunden. Nicht wenige besaßen Grundbesitz, den sie selbst bewirtschafteten. 1807 lebten in Rexingen 240 Juden, 1824 317, 1831 330, 1843 393, 1854 427, 1869 354,  1886 425, 1900 387, 1910 355, 1925 307, 1933 262, 1937 217. Aus dem Ersten Weltkrieg kehrten 14 jüdische Soldaten nicht zurück, unter ihnen der Fliegerleutnant Josef Zürndorfer. Für die 1914 kaum noch 350 Seelen zählende jüdische Gemeinde war dies ein sehr hoher Blutzoll. An der Einweihung des Gefallenen-Ehrenmals auf dem jüdischen Friedhof im November 1920 beteiligte sich die gesamte Einwohnerschaft. Bereits 1848 hatten die Rexinger zum Kommandanten ihrer Bürgerwehr den Juden David Gideon gewählt. Später saßen Juden im Gemeinderat und gehörten dem Männergesangverein an. Ein jüdischer Bürger war zeitweise stellvertretender Bürgermeister.

Die Rexinger Juden gehörten von der Begründung ihrer Gemeinde bis zum Jahr 1911 zum Rabbinat Mühringen, seit 1914 zum Rabbinat Horb. Eine neue Synagoge errichtete die Gemeinde 1835-37. Eine jüdische Schule bestand seit 1824. Ihr erster Lehrer war Isaak Bickart (1802-1869), dessen Familie aus der Schweiz stammte. Die politische Gemeinde erkannte erst nach 11jährigen Streitigkeiten den von der jüdischen Gemeinde seit 1837 auf Grund des württembergischen Volksschulgesetzes von 1836 beanspruchten öffentlichen Charakter der jüdischen Volksschule an. 1933 waren von den 30 öffentlichen israelitischen Volksschulen, die im 19. Jahrhundert in Württemberg bestanden hatten, nur noch die Volksschule Buttenhausen und Rexingen übriggeblieben, die von zusammen 26 Kindern besucht wurden. Ein Willkürakt der nationalsozialistischen württembergischen Regierung wandelte beide Schulen mit Wirkung vom 30. September 1933 in Privatschulen um. Oberlehrer Samuel Spatz (gest. am 3. Juni 1937 in Stuttgart), der 44 Jahre als Volksschul- und Religionslehrer tätig gewesen war, davon allein 29 in Rexingen, wurde in den Ruhestand versetzt. Als Privatanstalt, die dem Oberrat der Israeliten in Württemberg unterstand, behauptete sich die Schule noch bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs. 1924 bestanden hier ein Talmud-Thora-Verein, ein Psalmen-Verein (Tehillim), ein Bruderschaftsverein Chewra Kadischa, ein Israelitischer Frauenverein, ein Wohltätigkeitsverein und ein jüdischer Schützenverein. Die Zionisten besaßen bereits 1924 eine Ortsgruppe.

Als in Deutschland der Nationalsozialismus zur Macht gekommen war, wurde Rexingen ein Mittelpunkt jüdischen Lebens in Württemberg. Im Winter 1933/34 richtete die Synagogen-Gemeinde eine jüdische Jugendherberge ein. Eine Kinderschule kam hinzu. Der jüdische Jugendbund, der in Rexingen eine Ortsgruppe hatte, wählte das Dorf wiederholt für größere Tagungen. 1935 fand hier der erste Neuhebräisch-Kurs statt. Bei der wachsenden Bedrückung, die sich auch in Rexingen immer stärker bemerkbar machte, entschloss sich ein Teil der jüdischen Einwohner zur gemeinsamen Auswanderung nach Palästina. 1937 bereisten im Auftrag der Gemeinde drei „Kundschafter" das Land der Urväter und erwarben ein 60 Hektar großes Stück Ödland nördlich von Akko an der Küste des Mittelmeers, in einer Gegend, die während der Kreuzzüge der den Rexingern so vertraute Johanniterorden beherrscht hatte. Im Frühjahr 1938 verließ nach feierlichem Abschiedsgottesdienst in der Synagoge die erste Siedlergruppe Rexingen. Weitere Familien folgten. Aber es blieben auch viele, meist ältere Gemeindeglieder zurück, die sich von der alten Heimat nicht trennen oder das Wagnis eines Neuanfangs unter schwierigsten Bedingungen nicht mehr auf sich nehmen konnten. Die Rexinger Auswanderer machten in mühseliger Arbeit, ständig durch Überfälle arabischer Extremisten bedroht, das karge Land urbar. Ihrer Siedlung wollten sie zuerst den Namen Rexingen geben, entschieden sich aber dann bezeichnenderweise für Shavej Zion: Heimkehr nach Zion. Der Viehhändler und Landwirt Alfred Pressburger, der als erster den Gedanken einer gemeinschaftlichen Auswanderung nach Palästina vertreten hatte, fand als erster in der neuen Heimat sein Grab (gestorben 09. August 1938). Shavej Zion ist heute ein blühendes Gemeinwesen, eine landwirtschaftliche Mustersiedlung in Israel. Es hat seinen ursprünglich deutschen, ja schwäbischen Charakter bewahrt, auch nachdem sich zu den Pionieren aus Rexingen und anderen ländlichen oder städtischen Gemeinden Süddeutschlands Einwanderer aus der Tschechoslowakei, aus Ungarn und aus Ägypten gesellt haben. Maßgeblicher Anteil an der Gründung von Shavej Zion kommt dem aus Heilbronn stammenden früheren Rechtsanwalt Dr. Manfred Scheuer zu, der dem Dorf mehr als 25 Jahren als Bürgermeister vorstand. Die in den Katastrophenjahren des Zweiten Weltkriegs untergegangene, amtlich bereits 1939 aufgelöste Synagogengemeinde Rexingen lebt als einzige württembergische Judengemeinde in einer Tochtersiedlung auf israelischem Boden fort. Eine beschädigte Thora-Rolle, die ein Landjäger während der Ausschreitungen im November 1938 aus der Rexinger Synagoge rettete, hat, nach Israel gebracht, im Gotteshaus von Shavej Zion einen neuen würdigen Platz gefunden. Shavej Zion ehrt das Andenken der über 120 Juden, die 1941 und 1942 von Rexingen aus nach dem Osten deportiert und umgebracht wurden. Hier hat auch der Vorsitzende des Oberrats der israelitischen Religionsgemeinschaft in Württemberg, Dr. Otto Hirsch, zuletzt Mitglied der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland, ein von zwei ehemaligen Stuttgarter Juden geschaffenes Denkmal erhalten. Dr. Hirsch wurde am 19. Juni 1941 im Konzentrationslager Mauthausen ermordet.

In Rexingen erinnern an die frühere jüdische Gemeinde nur noch die Synagoge, deren Inneneinrichtung im November 1938 durch auswärtige SA-Leute demoliert wurde - sie ist seit 1952 evangelisches Gotteshaus -, der Friedhof und das Ehrenmal für die in den Lagern des Ostens ermordeten jüdischen Bürger. Über dem Eingangsportal der ehemaligen Synagoge steht in deutsch wie früher an gleicher Stelle in hebräisch: „Hier ist nichts anderes denn Gottes Haus und die Pforte des Himmels.“[1]

In dieser Studie nachgewiesene Literatur

  • Beschreibung des Oberamts Horb, 1865.
  • Bilder vom Friedhof und von der Synagoge, in: Jüdische Gotteshäuser und Friedhöfe, 1932, S. 117-119.
  • Die Berichte über die Siedlung Shavej Zion, die in der Stuttgarter Zeitung, der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, den Badischen Neuesten Nachrichten und anderen Zeitungen bzw. Zeitschriften erschienen sind, werden hier im einzelnen nicht erwähnt.
  • Marx, Leopold, Shavej Zion. Experiment and Promise, 1963.
  • Neufeld, Siegbert, Das ehemalige Rabbinat Horb, in: Funkmanuskript Südwestfunk Tübingen WK 1733.
  • Spatz, Samuel, Zur Geschichte der Juden in Rexingen, in: Gemeindezeitung für die israelitischen Gemeinden Württembergs, Jg. 1, Nr. 3.

Anmerkungen

[1] Die Informationen in diesem Absatz beziehen sich auf das Jahr 1966, als die Studie erschien.

Ergänzung 2023:

Das Gebäude der ehemaligen Synagoge in Rexingen wird heute gleichzeitig als Gedenkstätte für die ehemalige Synagoge und als Kirche genutzt. Seit 1997 kümmert sich der Träger- und Förderverein „Ehemalige Synagoge Rexingen e.V.“ um den Erhalt und die Restaurierung des Gebäudes und um die Erforschung und Dokumentation der jüdischen Geschichte Rexingens.

Zitierhinweis: Sauer, Paul, Die jüdischen Gemeinden in Württemberg und Hohenzollern, Stuttgart 1966, Beitrag zu Rexingen, veröffentlicht in: Jüdisches Leben im Südwesten, URL: […], Stand: 20.11.2022

Lektüretipps für die weitere Recherche

  • Fröhlich, Amos, Rexingen - Zürich - Tuttlingen - Shavei Zion. Aus dem Leben meiner Familie, 2022.
  • Gräber im Wald. Lebensspuren auf dem jüdischen Friedhof in Mühringen, hg. vom Stadtarchiv Horb und vom Träger- und Förderverein Ehemalige Synagoge Rexingen (Jüdische Friedhöfe der Stadt Horb. Band II), Stuttgart 2003.
  • Hahn, Joachim/Krüger, Jürgen, „Hier ist nichts anderes als Gottes Haus...“. Synagogen in Baden-Württemberg. Band 1: Geschichte und Architektur. Band 2: Orte und Einrichtungen, hg. von Rüdiger Schmidt (Badische Landesbibliothek, Karlsruhe) und Meier Schwarz (Synagogue Memorial, Jerusalem), Stuttgart 2007.
  • In Stein gehauen. Lebensspuren auf dem jüdischen Friedhof in Rexingen, hg. von Stadtarchiv Horb, 1997.
  • Kohlmann, Carsten, Die Synagoge in Rexingen. Ein Bauwerk aus dem 19. Jahrhundert, in: Schwäbische Heimat, 2002/4 und 2003/1.
  • Löwengart, Arthur, Geschichte der Juden in Rexingen, in: Pessach-Festschrift 5731 (1971), S. 12-15.
  • Müller, Hans Peter, Die Juden in der Grafschaft Hohenberg, in: Der Sülchgau 25 (1981), S. 36-43.
  • Petzold, Günther/Petzold, Leslie, Shavei Zion. Blüte in Israel aus schwäbischer Wurzel, Gerlingen 1978.
  • Spatz, Samuel, Die Geschichte der Juden in Rexingen, in: GZ Jg. I Nr. 3 vom 15. Juni 1924, S. 36-37.
  • Staudacher, Barbara, Das nationalsozialistische Schächtverbot und seine Auswirkungen am Beispiel jüdischer Metzger in Rexingen, Horb und Baisingen, in: Ausgrenzung. Raub. Vernichtung. NS-Akteure und „Volksgemeinschaft“ gegen die Juden in Württemberg und Hohenzollern 1933 bis 1945, hg. von Heinz Högerle/Peter Müller/Martin Ulmer, Stuttgart 2019, S. 157-167.
  • Staudacher, Barbara, Rexingen, in: Ort der Zuflucht und Verheißung. Shavei Zion 1938-2008, hg. von Heinz Högerle/Carsten Kohlmann/Barbara Staudacher, Stuttgart, S. 8-20.
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