Schluchtern
Dieser Beitrag stammt aus der Studie von Paul Sauer, Die jüdischen Gemeinden in Württemberg und Hohenzollern. Denkmale, Geschichte, Schicksale, hg. von der Archivdirektion Stuttgart (Veröffentlichungen der Staatlichen Archivverwaltung Baden-Württemberg 18), Stuttgart 1966.
Die Studie wird hier in der Originalfassung als Volltext zugänglich gemacht und separat bebildert. Inhalte und Sprachgebrauch entsprechen dem Stand von 1966. Weitere Informationen zur Entstehung und Einordnung der Studie finden Sie hier.
Das Dorf Schluchtern gehörte bis 1803 zur Kurpfalz (Amt Mosbach) und fiel, nachdem es vorübergehend im Besitz der Fürsten von Leiningen gewesen war, im Jahr 1806 an das Großherzogtum Baden. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Gemeinde, die bis dahin eine vom württembergischen Gebiet umschlossene badische Exklave bildete, dem Landkreis Heilbronn eingegliedert.
1722 war hier die jüdische Familie Löw wohnhaft. 1825 lebten in Schluchtern 63, 1875 85, 1900 74 Juden. Bis 1925 war ihre Zahl auf 31, bis zur Volkszählung vom 16. Juni 1933 auf 28 zurückgegangen. Nach dem Testament des Alexander Gunzenhausen von 1822 soll die kleine jüdische Gemeinde bereits Ende des 18. oder Anfang des 19. Jahrhunderts in einem Wohnhaus eine Synagoge (Betsaal) eingerichtet haben. Einen eigenen Friedhof legte die Gemeinde erst um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert an. Zuvor hatte sie ihre Toten auf dem jüdischen Verbandsfriedhof Heinsheim beigesetzt. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts besuchten die jüdischen Kinder die evangelische Volksschule des Dorfes. Als im Jahr 1868 die daneben bestehende katholische Schule wegen mangelnder Schülerzahl mit der evangelischen vereinigt werden sollte, beschloss die israelitische Gemeinde, ihre Kinder künftig in die katholische Schule zu schicken. Diese Entscheidung, die dem Rabbinatsamt Eppingen bemerkenswert erschien, sicherte den Bestand der katholischen Volksschule, bis im Jahr 1876 in Baden an die Stelle der Konfessionsschulen allgemein die Simultanschulen traten.
Die jüdischen Bürger betätigten sich 1933 hauptsächlich im Viehhandel (so Willy Bauernfreund, Josef und Siegfried Kirchhausen, Moses Oppenheimer und Ludwig Vollweiler). Josef Wolf Kirchhausen, Inhaber der Wirtschaft zur „Traube", besaß eine kleinere Landwirtschaft, die 1934 sein Sohn Julius übernahm. Alfred Abraham Kirchhausen betrieb eine Zigarrenfabrik mit 20 Beschäftigten, Elias Schwarzwälder eine kleine Seifenfabrik mit drei Beschäftigten. Die Juden lebten auch noch nach der Machtübernahme durch den Nationalsozialismus in gutem Einvernehmen mit der christlichen Bevölkerung. Der von der Partei erzwungene Boykott brachte indessen bis 1938 den jüdischen Viehhandel zum Erliegen. Die beiden Fabriken mussten an Nichtjuden veräußert werden. In der Kristallnacht im November 1938 demolierten SA-Männer aus benachbarten Orten die Synagoge und nahmen mehrere Juden in sogenannte Schutzhaft. Ein Teil der jüdischen Bürger, die sich bis dahin in dem vom Rassenwahn wenig infizierten Ort sicher gefühlt hatten, entzog sich weiteren Verfolgungen durch die Auswanderung. Die zurückgebliebenen 12 Juden wurden am 22. Oktober 1940 verhaftet und in einem großen Sammeltransport, der rund 6.500 Juden aus Baden, der Pfalz und dem Saarland umfasste, auf Weisung der Gauleiter von Baden und von Saarpfalz nach Südfrankreich abgeschoben. Eine Frau verstarb im Januar 1942 im französischen Lager Gurs (Pyrenäen). Die anderen 11 jüdischen Bürger fielen im Sommer 1942 wieder in die Hand der Gestapo: Sie wurden von Frankreich aus in das Vernichtungslager Auschwitz deportiert, wo sie sehr wahrscheinlich ausnahmslos den Tod fanden. Unter den Umgekommenen waren auch die Mutter, eine Schwester und ein Bruder von Isidor Kirchhausen, der im Ersten Weltkrieg gefallen war. Ein anderer Bruder von Isidor Kirchhausen, Alfred Abraham Kirchhausen, wurde, obwohl Kriegsbeschädigter und Träger des Eisernen Kreuzes I. Klasse, im September 1942 wohl von Darmstadt aus nach Theresienstadt verschleppt. Er überlebte die nationalsozialistische Gewaltherrschaft, starb aber bereits 1949 an einem Magenleiden, das er sich während der langen Konzentrationslagerhaft zugezogen hatte. Seine von Darmstadt aus deportierte Frau und Tochter kamen um. Von den Ausgewanderten kehrte nur David Kirchhausen nach Schluchtern zurück.
Die Synagoge wurde 1939 von dem letzten Vorsteher der israelitischen Gemeinde, Ludwig Vollweiler, verkauft.
In dieser Studie nachgewiesene Literatur
- Lauer, Hermann, Geschichte von Schluchtern, Donaueschingen 1925.
- Rosenthal, Berthold, Heimatgeschichte der badischen Juden, Bühl 1927.
Ergänzung 2023:
Heute steht auf dem ehemaligen Synagogengrundstück ein Wohnhaus mit Garage.
Zitierhinweis: Sauer, Paul, Die jüdischen Gemeinden in Württemberg und Hohenzollern, Stuttgart 1966, Beitrag zu Schluchtern, veröffentlicht in: Jüdisches Leben im Südwesten, URL: […], Stand: 20.11.2022
Lektüretipps für die weitere Recherche
- Angerbauer, Wolfram/Frank, Hans Georg, Jüdische Gemeinden in Kreis und Stadt Heilbronn, Heilbronn 1986, S. 200-205.
- Geiss, Norbert, Geschichte der Juden in Schluchtern. Ein Gedenkbuch für die Opfer der nationalsozialistischen Judenverfolgung, hg. von der Evangelische Kirchengemeinde Schluchtern/Evangelische Kirchengemeinde Großgartach/Evangelisch-methodistische Kirche Leingarten/Katholische Kirchengemeinde Leingarten.
- Staudinger, Josef, Im Jahr 1886 lebten 99 Juden in Schluchtern, in: Heilbronner Stimme vom 8. August 2002.