Stuttgart-Bad Cannstatt

 

Dieser Beitrag stammt aus der Studie von Paul Sauer, Die jüdischen Gemeinden in Württemberg und Hohenzollern. Denkmale, Geschichte, Schicksale, hg. von der Archivdirektion Stuttgart (Veröffentlichungen der Staatlichen Archivverwaltung Baden-Württemberg 18), Stuttgart 1966.

Die Studie wird hier in der Originalfassung als Volltext zugänglich gemacht und separat bebildert. Inhalte und Sprachgebrauch entsprechen dem Stand von 1966. Weitere Informationen zur Entstehung und Einordnung der Studie finden Sie hier.

Im Jahr 1350 verlieh Ludwig der Bayer dem zur Grafschaft Württemberg gehörenden Dorf Cannstatt Stadtrecht (Esslinger Recht). 1471 erlaubte Graf Ulrich V. von Württemberg dem Juden Bonin, sich mit Familie und Gesinde gegen ein jährliches Schutzgeld von 20 Gulden in der Stadt niederzulassen, und sagte ihm sicheres Geleit im ganzen Land zu. Nach dem Schutzbrief, den er erhielt, sollte er alle Vorteile und Freiheiten besitzen „wie ander unser armen lute und hindersessen". Bonin durfte vom Gulden wöchentlich einen Pfennig Zins nehmen. Wie lang er hier wohnte, ist nicht bekannt. Nachdem im Jahr 1482 auch der Stuttgarter Landesteil an den judenfeindlichen Grafen Eberhard im Bart gefallen war, kam es hier wohl kaum mehr zu Judenaufnahmen.

Erst im 19. Jahrhundert bildete sich wieder eine israelitische Gemeinde. 1831 waren in der Stadt 13 Juden ansässig, 1858 33, 1864 162, 1871 256, 1880 375, 1900 484, 1925 340 und 1933 261. 1871 schlossen sich die Cannstatter Juden, die bis dahin der Stuttgarter Gemeinde angehört hatten, zu einer eigenen Religionsgemeinde zusammen. Im Haus des Fabrikanten Otto Pappenheimer, Hofener Straße 5, richteten sie einen Betsaal ein. 1872 erwarben sie einen Acker „auf der Steig", auf dem sie im Jahr darauf einen Friedhof anlegten. Da der Betsaal der wachsenden Gemeinde bald nicht mehr genügte, wurde 1875/76 eine Synagoge in der Wilhelmstraße erbaut. Die Gemeinde zählte sehr wohlhabende Bürger zu ihren Mitgliedern, so die Fabrikanten Elsas, Gutmann, Straus, den Viehhändler Veit Rothschild sowie den Früchtehändler und Hoflieferanten Julius Koch, dessen Tochter Pauline die Mutter Albert Einsteins war. 1863 wurde hier die Mechanische Weberei Elsas gegründet, bald darauf die Korsettfabrik Gutmann (später Lindauer) von Göppingen nach Cannstatt verlegt. Zu den bedeutendsten Industrieunternehmen der Stadt entwickelte sich bis zur Jahrhundertwende die Bettfedernfirma Straus, die Zweigniederlassungen in Petersburg, Moskau, Charkow, Odessa, Paris und Berlin einrichten konnte. 1879 verlieh die Stadt Cannstatt Ernst Ezechiel Pfeiffer, der sich durch gemeinnützige Stiftungen hervorgetan hatte, das Ehrenbürgerrecht „als Ausdruck der dankbaren Anerkennung seiner vielseitigen bleibenden Verdienste um unsere Stadt und seiner in reichem Maße betätigten wohlwollenden Gesinnungen gegen deren Bewohner". Der Geheime Hofrat Ernst Ezechiel Pfeiffer, der Bruder des Stuttgarter Ehrenbürgers Dr. Eduard von Pfeiffer, gehörte von 1869-72 dem Cannstatter Bürgerausschuss an. Im Ersten Weltkrieg hatte die Gemeinde, zu der auch die wenigen Juden in Backnang, Nürtingen und Waiblingen gehörten, 16 Gefallene zu beklagen.

Die Cannstatter Juden waren stets nach Stuttgart hin orientiert. 1905 wurde Cannstatt nach Stuttgart eingemeindet. 1936 wurde die Gemeinde mit der Stuttgarter Großgemeinde vereinigt. Unter dem Nationalsozialismus hatten die Cannstatter Juden von Anfang an ebenso zu leiden wie die Stuttgarter. Während der sogenannten Kristallnacht vom November 1938 ging die Synagoge in Flammen auf. Die Brandstifter waren Angehörige nationalsozialistischer Parteiformationen. Das Schicksal der Deportation teilten während des Zweiten Weltkriegs zahlreiche Cannstatter Juden mit ihren Stuttgarter Glaubensgenossen.

Auf dem Platz der zerstörten Synagoge wurde 1961 ein Gedenkstein errichtet. Auf dem Steigfriedhof befindet sich ein Denkmal für die Gefallenen des Ersten Weltkriegs. Der israelitische Teil des Steinhaldenfeld-Friedhofs enthält Gräber aus der Zeit nach 1945. Er wird auch heute noch belegt.

 

In dieser Studie nachgewiesene Literatur

  • Bild von der Synagoge, in: Jüdische Gotteshäuser und Friedhöfe, 1932, S. 66.
  • Zelzer, Maria, Weg und Schicksal der Stuttgarter Juden. Ein Gedenkbuch, hg. von der Stadt Stuttgart, Sonderband der Veröffentlichungen des Archivs der Stadt Stuttgart, Stuttgart 1964.

 

Zitierhinweis: Sauer, Paul, Die jüdischen Gemeinden in Württemberg und Hohenzollern, Stuttgart 1966, Beitrag zu Stuttgart-Bad Cannstatt, veröffentlicht in: Jüdisches Leben im Südwesten, URL: […], Stand: 20.11.2022

Lektüretipps für die weitere Recherche

  • Germania Judaica, Bd.3, 1. Teilband, hg. von Arye Maimon/Mordechai Breuer/Yacov Guggenheim, Tübingen 1987, S. 204.
  • Hahn, Joachim, Steigfriedhof Bad Cannstatt, israelitischer Teil, in: Friedhöfe in Stuttgart, Bd. 4, 1995.
  • „Hier wohnte...“ Stolpersteine in Bad Cannstatt. Ein Stadtplan zur Spurensuche, 2. Auflage, 2015.
  • Jüdisches Leben in Stuttgart-Bad Cannstatt, hg. von Joachim Hahn/Alfred Hagemann/Rachel Dror, Essen 2006.
  • Werner, Manuel, Cannstatt - Neuffen - New York. Das Schicksal einer jüdischen Familie in Württemberg. Mit den Lebenserinnerungen von Walter Marx, Nürtingen/Frickenhausen 2005.
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