Talheim

Ende des 18. Jh. bezogen Juden einen Teil des unter mehreren Herrschaften aufgeteilten Oberen Schlosses in Talheim. Später wurde im Schlosshof ein Back- und Waschhaus mit Betsaal erbaut. Das Gebäude, auf dem Bild links, wurde während der Pogrome im November 1938 beschädigt. Das aufgrund weiterer Kriegs- und Wetterschäden baufällige Gebäude wurde in den 1950er-Jahren abgebrochen. [Quelle: Landesarchiv BW, Oberamtsbeschreibung Heilbronn, 1903]
Ende des 18. Jh. bezogen Juden einen Teil des unter mehreren Herrschaften aufgeteilten Oberen Schlosses in Talheim. Später wurde im Schlosshof ein Back- und Waschhaus mit Betsaal erbaut. Das Gebäude, auf dem Bild links, wurde während der Pogrome im November 1938 beschädigt. Das aufgrund weiterer Kriegs- und Wetterschäden baufällige Gebäude wurde in den 1950er-Jahren abgebrochen. [Quelle: Landesarchiv BW, Oberamtsbeschreibung Heilbronn, 1903]

Dieser Beitrag stammt aus der Studie von Paul Sauer, Die jüdischen Gemeinden in Württemberg und Hohenzollern. Denkmale, Geschichte, Schicksale, hg. von der Archivdirektion Stuttgart (Veröffentlichungen der Staatlichen Archivverwaltung Baden-Württemberg 18), Stuttgart 1966.

Die Studie wird hier in der Originalfassung als Volltext zugänglich gemacht und separat bebildert. Inhalte und Sprachgebrauch entsprechen dem Stand von 1966. Weitere Informationen zur Entstehung und Einordnung der Studie finden Sie hier.

Als die Reichsstadt Heilbronn Ende des 15. Jahrhunderts ihre jüdischen Einwoh­ner vertrieb, wandten sich einige der Ausgewiesenen auch nach Talheim und betrieben von hier aus, wenn auch vergeblich, ihre Wiederaufnahme in die Stadt. Am 15. Januar 1491 erhoben die Juden Abraham von Kaltenwesten (Neckarwestheim) und Nathan von Talheim in einem an den Heilbronner Rat gerichteten Schreiben Ansprüche auf das Gut der Heilbronner Juden, das die Stadt an sich gezogen habe, obwohl es ihnen und der gesamten „judßheit" vor fast 200 Jahren „hochgefreit" und bestätigt worden sei. 1543 lehnte der Rat der Reichsstadt das Ersuchen der Juden um Niederlassung in Heilbronn endgültig ab und ließ diesen Beschluss an 30 Orten, zuerst in Talheim, öffentlich bekanntgeben. Wann die Juden von hier abgewandert sind, steht nicht fest. Möglicherweise haben im Ort auch im 17. Jahr­hundert und der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts einzelne Juden gewohnt. Die Dorfordnung von 1599 bestimmte im Kapitel „Politische Articul", dass bei Strafe niemand etwas von Juden entleihen sollte. 1729 verbot der Vogt von Flein den dortigen Untertanen, sich mit Juden von Sontheim und Talheim in Viehhandels­geschäfte einzulassen.

1778 nahm Württemberg in dem ihm als Lehen heimgefallenen sogenannten Schmid­berg'schen Schlösschen, dem westlichen Teil der Talheimer oberen Burg (der östliche Teil, der zwei Drittel der Burg umfasste, war hessisches Lehen und damals im Besitz von Christoph von Gemmingen), zunächst 4, später 8 jüdische Familien auf, die bisher zu recht ungünstigen Bedingungen in Horkheim im Schutz des Kriegsrats von Buhl gelebt hatten. Die Ganerben, der Deutschorden und Christoph von Gem­mingen, die allein die Dorfherrschaft in Talheim beanspruchten, betrachteten die ohne ihre Zustimmung erfolgte Aufnahme von Juden in den westlichen Teil der Burg als einen Eingriff in ihre Rechte. Sie zerstörten daher 1793, als ihre Proteste beim württembergischen Oberamt in Lauffen unbeachtet blieben, den Betraum, den die Juden mit dem Einverständnis Württembergs in dem an der alten Burgmauer neu erbauten Back- und Waschhaus eingerichtet hatten, und konfiszierten einen Teil der Kultgegenstände, die sie erst 1803 zurückgaben.

Nachdem ganz Talheim württembergisch geworden war (1806), waren die Juden nicht mehr gezwungen, ausschließlich in der „Judenburg" ihren Wohnsitz zu neh­men, sondern sie konnten sich jetzt auch im Dorf selbst niederlassen sowie Haus­ und Grundbesitz erwerben.

Bis zur Vereinigung mit der Ortsgemeinde 1828 besaß der gewählte Vorsteher der jüdischen Gemeinde eine Stellung, die der des Schultheißen einer württembergischen Dorfgemeinde vergleichbar war. Später beschränkten sich seine Befugnisse auf kirchliche Angelegenheiten. Schon vor 1800 hatten die Talheimer Juden in der Person von Salomon Aron aus Königsbach bei Pforzheim einen Schullehrer und Vorsänger. In Fragen der Religion und des Gottesdienstes nahmen sie den Rabbiner in Freudental in Anspruch, mit dem sie 1828 einen Vertrag (sogenannter Rabbinatsbrief) geschlossen hatten. 1832 wurde die hiesige jüdische Gemeinde bei der Neuordnung der kirchlichen Verhältnisse der israelitischen Religionsgemeinschaft in Württemberg Filiale der jüdischen Kirchengemeinde Sontheim und dem Rabbinat Lehrensteinsfeld zugewiesen. Von 1849 bis zur Auflösung im Jahre 1939 bildete Talheim eine selbständige israelitische Religionsgemeinde. Da der Betraum in dem Back- und Waschhaus an der Burgmauer der wachsenden Gemeinde nicht mehr genügte, wurde das Backhaus 1836 vergrößert und zu einer Synagoge umgebaut, in der sich 1851 auch das Frauenbad, die israelitische Schule und die Lehrerwohnung befanden. Ein eigenes israelitisches Schulhaus richtete die Gemeinde 1857 in der Langen Gasse ein. Der Unterricht des ersten jüdischen Lehrers in Talheim beschränkte sich wohl auf die Unterweisung in der mosaischen Religion. 1827 erhielten die jüdischen Kinder beim Lehrer der evangelischen Ortsschule Privatunterricht. 1836 wurde der Volksschullehrer und Vorsänger Isaak Sänger aus Oberdorf hierher ver­setzt, 1837 eine freiwillige israelitische Konfessionsschule begründet, die bis 1914 bestand. 1861 betrug die Schülerzahl 31, 1900 noch 17. 1843 legte die israelitische Gemeinde Sontheim im Schozachtal einen Friedhof an, auf dem auch die Talheimer und Horkheimer Juden ihre letzte Ruhestätte fanden. Zuvor waren die hiesigen jüdischen Einwohner auf dem fast 20 km entfernten Judenfriedhof Affaltrach beerdigt worden.

1828 mussten die württembergischen Juden allgemein Familiennamen annehmen. Die hier verbreitetsten Namen waren: Hirsch, Hirschfeld, Königsbacher, Levi, Löwenthal, Manasse, Straus und Wertheimer. 1824 lebten in Talheim 63 Juden, 1831 62, 1843 78, 1854 95, 1860 122, 1873 102, 1886 85, 1900 85, 1910 77 und 1933 82.

Seit 1860 ging die Zahl der jüdischen Einwohner durch Auswanderungen hauptsächlich nach Amerika (zwischen 1854 und 1910 wanderten allein 50 dorthin aus, außerdem 5 nach Belgien) und durch Abwanderungen in die größeren Städte (Heil­bronn, Stuttgart usw.) langsam aber stetig zurück. Die Folge waren Überalterung und in gewissem Umfang Verarmung. In Talheim blieben in der Regel die weniger wohlhabenden Familien zurück, die sich vom Handel, vornehmlich vom Viehhandel, ernährten.

Aus dem Ersten Weltkrieg kehrten Moritz Hirschfeld und Gustav Manasse nicht zurück.

Der Antisemitismus war in Talheim vor 1933 unbekannt. Hier lebten evange­lische und katholische Christen mit Juden seit mehr als 100 Jahren zusammen, ohne dass der Frieden unter den Konfessionen in dieser Zeit jemals ernsthaft gestört worden wäre. Es gibt viele Zeugnisse des guten Einvernehmens zwischen Christen und Juden. Erst der Nationalsozialismus, der die Judenfeindschaft von außen hereintrug, brachte es fertig, dass auch hier die Juden isoliert und aus der dörflichen Lebensgemeinschaft ausgeschlossen wurden. Er vermochte durch seine Agitation Anhänger zu gewinnen und durch seinen Terror die Bevölkerung einzuschüchtern; den passiven Widerstand eines Teils der Einwohnerschaft gegen seine Rassenpolitik konnte er aber nicht gänzlich brechen. 1937 musste ein Metzgermeister aus dem Gemeinderat ausscheiden, weil er trotz des Verbots der Partei Vieh beim Juden gekauft hatte. In der Kristallnacht vom 9. auf den 10. November 1938 kam es in Talheim zu keinen Ausschreitungen gegen die entrechteten jüdischen Mitbürger. In der nächsten Nacht übernahmen es, wohl verstohlenerweise durch Talheimer Nationalsozialisten unterstützt, Sontheimer SA-Leute, die Inneneinrichtung der Synagoge mit Äxten gründlichst zu demolieren und die Juden zu misshandeln. In den ersten Kriegs­jahren haben christliche Einwohner ihren durch wiederholte Wohnungszusammen­legungen und andere Maßnahmen unter unerträglichen Bedingungen lebenden jüdischen Nachbarn heimlich Nahrungsmittel zugesteckt und ihnen in ihrer hoffnungslosen Lage die menschliche Anteilnahme nicht versagt.

Nicht einmal die Hälfte der Talheimer Juden wanderte zwischen 1933 und 1939 aus, 16 jüdische Bürger starben am Wohnort und mindestens 31, meist ältere Leute, mussten in den Jahren 1941/42 den Todesweg nach dem Osten antreten. Die Synagoge, im Krieg als Gefangenenlager benutzt, zerfiel und wurde schließlich 1952 abgebrochen.

 

In dieser Studie nachgewiesene Literatur

  • Beschreibung des Oberamts Heilbronn, 2. Teil, 1903.
  • Bild von der Synagoge, in: Jüdische Gotteshäuser und Friedhöfe, 1932, S. 128.
  • Geschichte der Juden in Talheimm, in: Gemeindezeitung für die israelitischen Gemeinden Württembergs Jg. 1 Nr. 10, 15. Januar 1925, S. 193 f.
  • Nebel, Theobald, Die Geschichte der jüdischen Gemeinde in Tal­heim. Ein Beispiel für das Schicksal des Judentums in Württemberg, Talheim 1963.
  • Zur Geschichte der Jüdischen Gemeinde in Talheim, in: Ebenda., Jg. 2, Nr. 2, 1. Februar 1926.

 

Zitierhinweis: Sauer, Paul, Die jüdischen Gemeinden in Württemberg und Hohenzollern, Stuttgart 1966, Beitrag zu Talheim, veröffentlicht in: Jüdisches Leben im Südwesten, URL: […], Stand: 20.11.2022

Lektüretipps für die weitere Recherche

  • Angerbauer, Wolfram/Frank, Hans Georg, Jüdische Gemeinden in Kreis und Stadt Heilbronn, Heilbronn 1986, S. 230-235.
  • Die Geschichte der jüdischen Gemeinde in Talheim, 1963.
  • Germania Judaica, Bd.3, 2. Teilband, hg. von Arye Maimon/Mordechai Breuer/Yacov Guggenheim, Tübingen 1995, S. 1448.
  • Hahn, Joachim/Krüger, Jürgen, „Hier ist nichts anderes als Gottes Haus...“. Synagogen in Baden-Württemberg. Band 1: Geschichte und Architektur. Band 2: Orte und Einrichtungen, hg. von Rüdiger Schmidt (Badische Landesbibliothek, Karlsruhe) und Meier Schwarz (Synagogue Memorial, Jerusalem), Stuttgart 2007.
  • Nebel, Theobald/Däschler-Seiler, Siegfried, Die Geschichte der jüdischen Gemeinde in Talheim, 1990.
  • Sauer, Paul, Die jüdischen Gemeinden in Württemberg und Hohenzollern, 1968, S. 173-176.
  • Württemberg - Hohenzollern – Baden (Pinkas Hakehillot. Encyclopedia of Jewish Communities from their foundation till after the Holocaust), hg. von Joseph Walk, Yad Vashem/Jerusalem 1986, S. 92-94.
Suche