Ulm
Dieser Beitrag stammt aus der Studie von Paul Sauer, Die jüdischen Gemeinden in Württemberg und Hohenzollern. Denkmale, Geschichte, Schicksale, hg. von der Archivdirektion Stuttgart (Veröffentlichungen der Staatlichen Archivverwaltung Baden-Württemberg 18), Stuttgart 1966.
Die Studie wird hier in der Originalfassung als Volltext zugänglich gemacht und separat bebildert. Inhalte und Sprachgebrauch entsprechen dem Stand von 1966. Weitere Informationen zur Entstehung und Einordnung der Studie finden Sie hier.
In der von den Staufern gegründeten Stadt Ulm, die im Spätmittelalter unter den schwäbischen Reichsstädten eine führende Stellung einnahm, bestand schon in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts eine kleine jüdische Gemeinde. In der Reichssteuerliste von 1241 sind die Ulmer Juden mit einer Steuer von sechs Mark Silber aufgeführt, einer bescheidenen Summe, wenn man sie mit den Beträgen vergleicht, die die Esslinger (30 Mark) oder gar die Wormser Juden (150 Mark) damals aufbrachten. Zu den frühesten Zeugnissen über die mittelalterliche Judensiedlung in Ulm zählen Grabsteine, die im 17., 18. und 19. Jahrhundert gefunden wurden. Der älteste Grabstein stammt aus dem Jahr 1243 und ist dem Andenken einer Frau Bellet, Tochter des Rabbi Salomo ha-Levi, gewidmet. Ein Grabstein erinnert an Frau Zerujah, Tochter des Rabbi Kalonymos, gestorben am 15. März 1274, ein anderer an Frau Ottilia, gestorben am 7. Juni 1298, die als Hebräerin bezeichnet wird (möglicherweise eine zum Judentum übergetretene Christin oder eine zwangsgetaufte Jüdin, die zum Glauben ihrer Väter zurückgekehrt war). Weitere Grabsteine stammen aus den Jahren 1305, 1306, 1331, 1335, 1341, 1344, 1355, 1361, 1363, 1367, 1379, 1383, 1435, 1457, 1471, 1489 und 1491. Diese monumentalen Zeugnisse, die sich auf drei Jahrhunderte verteilen, lassen auf eine Kontinuität der jüdischen Gemeinde im spätmittelalterlichen Ulm schließen. Diese Annahme wird durch die urkundliche Überlieferung erhärtet. 1281 wird der jüdische Friedhof erstmals erwähnt, der aber nach den Grabsteinfunden schon um 1240 bestanden haben muss. Nach dem Ulmer Stadtrecht von 1296 hatte die Ulmer Judengemeinde, die „universitas iudeorum", die „Jüdischheit", damals den Charakter einer privilegierten Darleihergenossenschaft. Die Juden lebten vornehmlich vom Geldhandel. Seit der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts wuchs die Gemeinde, ihre wirtschaftliche Bedeutung für die Stadt nahm stark zu. 1324 verpfändete Ludwig der Bayer die Judensteuer von Ulm, die damals 50 Pfund Heller im Jahr betrug, ebenso die von Nördlingen an die Grafen Ludwig und Friedrich von Oettingen, denen er 1.000 Pfund Heller schuldig war. 1331 schenkte er das Judenhaus in der Judengasse, das er zuvor Ulrich Chuenzelmann gegeben hatte, „ze einem rechten aigen" dem Grafen Berchthold von Graisbach und Marstetten genannt von Neuffen. Es handelte sich aber hierbei, wie Dicker annimmt, um eine Steuerverpfändung und nicht um eine Schenkung: Der Kaiser beanspruchte von den Juden neben der üblichen Steuer noch eine besondere Häusersteuer.
Die Ulmer jüdische Gemeinde wurde im 14. Jahrhundert der religiöse Mittelpunkt für die in der Umgebung der Reichsstadt ansässigen Juden. Da diese aber auch die nicht in der Stadt ansässigen Juden als Gemeindeglieder mit zu Steuern und Umlagen heranzog, kam sie in Konflikt mit deren Landesherren. So musste ihr König Karl IV. am 1. August 1348 verbieten, die in den österreichischen Städten Schelklingen und Ehingen wohnenden Juden zu besteuern.
Die Stadt Ulm versuchte bereits in den vierziger Jahren des 14. Jahrhunderts, ihre jüdischen Einwohner der städtischen Steuerhoheit zu unterwerfen. König Karl IV., dem bei seiner schwachen Stellung im Reich sehr an der Anerkennung durch die Reichsstädte gelegen war, befreite am 9. Januar 1348 Ulm neben einer Reihe anderer schwäbischer Städte von der Verpflichtung, die Steuer, die sie inzwischen von den Juden erhoben hatte, an die königliche Kammer abzuführen. Trotzdem scheint sich Ulm gegen die Ansprüche Karls weiter „sperrig" gezeigt zu haben. Die Reichslandvögte in Oberschwaben, die Grafen von Helfenstein, vermittelten schließlich am 3. Dezember 1348 einen Vergleich, nach dem Ulm zum Stadtbau, d.h. zum Ausbau der Stadtbefestigung, die Judensteuer erhielt; es hatte sich dafür allerdings zu verpflichten, die Juden, die in Ulm ansässig waren, zu schirmen. Der Vergleich war bereits angesichts des Gespenstes des „Schwarzen Todes" zustandegekommen, in dessen Gefolge es in vielen Städten zu furchtbaren Ausschreitungen gegen die Juden kam. Am 30. Januar 1349 brach auch über die Ulmer jüdische Gemeinde das Verderben herein. Unter der Beschuldigung, die Juden hätten die Brunnen vergiftet und so die Pestseuche verbreitet, stürmte eine Volksmenge das Judenviertel. Ein Chronist nennt als einen der Hintergründe für die Ausschreitungen, in denen sich zugleich die sozialen Spannungen zwischen Patriziern und Zünften entluden: „Ist versehenlich, das ir der maist tail verbrent wurden von irs guts wegen." Es scheint jedoch, dass die Judengemeinde nicht gänzlich vernichtet wurde. Am 10. Oktober 1353 waren „der Juden sinagog und der frowen Juden schul" [= die Frauensynagoge] noch zweckentfremdet, doch schon im Jahr darauf überließen Konrad der Seffler, Ritter, und Krafft, Sohn des verstorbenen Lutz Krafft, auf Geheiß der Bürgerschaft die Synagoge bis an die Mauer, „daran der Juden tantzhus wilunt stund" (das Tanzhaus war sehr wahrscheinlich 1349 zerstört worden) den Ulmer Juden gegen einen jährlichen Zins. 1356 erhielt die „Jüdischheit" von Ulrich Rot, Bürgermeister zu Ulm, und Walter Bitterlin, Bürger zu Ulm, den Judenfriedhof vor dem Neuen Tor gegen einen Jahreszins von 15 Pfund Heller zurück.
Die Ulmer Juden gewannen in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts eine hervorragende wirtschaftliche Bedeutung für die aufstrebende Stadt. Als Karl IV. 1372 die Markgrafschaft Brandenburg erwarb, erlegte er den Reichsstädten eine Sondersteuer auf. Die Stadt Ulm hatte 18.000 Gulden aufzubringen, die Ulmer Juden außerdem noch die enorme Summe von 12.000 Gulden. In jenen Jahren war Jud Jäcklin, Schwiegersohn des Moses (Mozze) und der Juta von Ehingen, der große Kreditgeber der Stadt, die damals nicht nur umfangreiche Gebietserwerbungen machte, sondern auch mit dem Bau des Münsters begann (1377). Nach dem Urteil des jüdischen Historikers Ismar Elbogen (Geschichte der Juden in Deutschland S. 83 f.) beherrschten in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts Jäcklin, der Jude Rapp von Nürnberg, später dessen Witwe, die Räppin, Meier von Erfurt und wenige andere, die zum Teil miteinander verwandt waren, zeitweise den ganzen süddeutschen Geldmarkt. Kaiser Karl IV. schätzte Jäcklin in seiner Funktion als Ulmer Bankier so hoch ein, dass er ihn 1376, als er die Reichsstadt bekriegte, weil sie sich seinen politischen Plänen nicht gefügig zeigte, in die Acht erklärte und dem Grafen Heinrich von Werdenberg alle Schulden erließ, die dieser bei den Juden Jäcklin und Meyer sowie Kelline Jüdin hatte. Der Kaiser musste im Jahr darauf die Achterklärung zurücknehmen. Jäcklin hatte durch sie keinen nennenswerten Schaden erlitten. Im Gegenteil vermochte er jetzt seine Schuldforderungen bei dem Grafen von Werdenberg erneut zur Geltung zu bringen und zu erreichen, dass dieser die Dörfer Ober- und Unterlangenau an Ulm verkaufte (1377). Jäcklin finanzierte in den folgenden Jahren zum Teil auch noch die Erwerbung der restlichen Werdenbergischen Besitzungen durch die Reichsstadt. Ulm verdankt dem großen jüdischen Finanzmann viel. Einige seiner weitschauenden Projekte hätte es ohne ihn schwerlich verwirklichen können. Auch andere Juden leisteten damals der Stadt als Geldgeber gute Dienste. Der Rat zeigte sich durch Verleihung des Bürgerrechts erkenntlich. 1366 wird erstmals ein Jude als Ulmer Bürger erwähnt: Fiflin aus Memmingen, dem die „Jüdeschait gemainlich riche und arme ze Ulme" gestattete, ein Haus bei ihrer Synagoge zu erwerben. Allmählich wurde es zur Regel, dass die Mitglieder der jüdischen Gemeinde das Bürgerrecht der Reichsstadt erhielten. Sie waren aber damit den christlichen Bürgern nicht gleichgestellt. So blieb ihnen der Zugang zu den Zünften verwehrt. Der Rat trat immer mehr als Schutzherr an die Stelle des Kaisers. In dem Ulmer Roten Buch, das 1376 niedergeschrieben wurde, aber auch viele Nachträge und Zusätze aus dem 15. Jahrhundert enthält, findet sich ein noch aus dem 14. Jahrhundert stammender Vermerk: „Es ist auch gesetzt, daz man ain ieglich unzucht, die man an Juden tet, zwivalt bessren so!." Unzucht bedeutet hier Gewalttätigkeit jeder Art. Der Vermerk kann eine Reaktion auf die Ausschreitungen von 1349 in Ulm wie auf die Ermordung der Juden in der benachbarten Reichsstadt Nördlingen im Jahr 1384 sein. Er zeigt gleichzeitig, wie wichtig dem Rat damals der Schutz der jüdischen Gemeinde war.
Mit dem Regierungsantritt König Wenzels (1378) setzten neue Bedrückungen der reichsstädtischen Juden ein. Der allezeit geldbedürftige König wollte ihren Reichtum für seine Kassen nutzen. Da er dies aber nur vermochte, wenn er den Reichsstädten entsprechende Zugeständnisse machte, vereinbarte er 1385 mit 38 Städten, sie sollten ihm einen Betrag von insgesamt 40.000 Gulden bezahlen. Dafür erlaubte er ihnen, die Schuldforderungen der Juden einzuziehen und für ihre Zwecke in Anspruch zu nehmen, wobei allerdings den Schuldnern ein Teil ihrer Schulden erlassen werden sollte. Die eigentlichen Nutznießer dieser Maßnahme waren die Städte, weil sie zumeist nur einen Bruchteil ihrer dabei erzielten Gewinne an den König abführen mussten. Auch die Stadt Ulm zog damals die Schuldbriefe ein, die sich im Besitz der Juden befanden, so von Smaryon Pfefferkorn, von Videl, Sohn des Moses von Ehingen (und Schwager von Jäcklin), und seiner Mutter Juta sowie von Mose, Maigers des Juden von Windsheim Tochtermann, und seinen Söhnen Abraham und Manne. In einem Privileg vom 11. August 1392 sprach König Wenzel Ulm die halbe Judensteuer zu, während er sich künftig mit der anderen Hälfte der Steuer und dem sogenannten Goldenen Opferpfennig begnügen wollte. Der König erkannte damit den Judenschutz durch die Stadt an. 1401 bestätigte König Ruprecht dieses Privileg. Die Könige und Kaiser des 15. Jahrhunderts beanspruchten wiederholt von den Juden Sondersteuern.
Die Lage der jüdischen Gemeinde verschlechterte sich seit der Wende vom 14. zum 15. Jahrhundert zunehmend. Die Zünfte waren hieran sicher nicht unbeteiligt. Die Ulmer Goldschmiedeordnung von 1394 beschränkte den Handel der Juden mit Gold- und Silberwaren. Nachträge aus dem 15. Jahrhundert im Roten Buch bestimmten, dass die Juden von Palmsonntag bis Mittwoch nach Ostern, ebenso am Fronleichnamsfest in ihren Häusern und in ihrer Gasse bleiben sollten, dass sie keine christlichen Ammen halten und dass keine christlichen Frauen oder deren Töchter Judenhäuser betreten dürften. Der Rat verbot Juden die Einstellung christlicher Dienstboten (eehalten). Außerdem ordnete er an, dass die Juden ihr Fleisch „gantz uf dem markt oder gantz von den metzgern lebendig under dem felle" kaufen sollten, dass sie das Vieh im Judenschulhof schlachteten und dort auch das Fleisch, das sie nicht selbst aßen, feilboten. 1421 untersagte ihnen der Rat, mit Lebensmitteln zu handeln, 1425 Geld auf Wolle und Baumwolle zu leihen.
Allem Anschein nach war die Seelenzahl der jüdischen Gemeinde nach 1400 zurückgegangen. Neues Ansehen verschaffte ihr der 1431 in das Ulmer Bürgerrecht aufgenommene Rabbiner Seligmann aus Coburg, der auch als Arzt und Geschäftsmann einen guten Ruf hatte. Der ihm missgünstig gesinnte Rabbiner Simlin, der sich seit 1428 hier befand, entfachte einen üblen Streit, den der bekannte Rabbiner Jakob Weil in Augsburg zugunsten Seligmanns entschied. 1438 bezeichnete Konrad von Weinsberg Lemlin als den reichsten Ulmer Juden. Sein Vermögen war aber im Vergleich zu dem von Jäcklin bescheiden. Während Jäcklin eine Jahressteuer von 100 Gulden aufgebracht hatte, entrichtete Lemlin 1427 eine solche von 5 Gulden 1446 wohnten hier sechs jüdische Familien, denen der Rat damals das städtische Bürgerrecht erneuerte: Seligmann, dessen Tochtermann Mann, Mose, Lemlin, dessen Bruder Borach und der Schwestermann von Borach und Lemlin, außerdem ein Schulrufer und ein Friedhofswärter. Der Rat verlangte von den sechs Juden für die Bürgerrechtserneuerung ein einmaliges Darlehen von 6.000 Gulden oder ein jährliches von 300 Gulden. Jeder von ihnen, der Schulrufer und der Friedhofswärter als Bedienstete der jüdischen Gemeinde ausgenommen, hatte eine Jahressteuer von 2 Gulden zu entrichten, ebenso für die Benutzung der Synagoge und des Friedhofs wöchentlich eine Gebühr von 1 Pfund Heller. Am 4. August 1457 beschloss der Rat, die Juden, die nicht das Ulmer Bürgerrecht besaßen, aus der Stadt auszuweisen. Kaiser Friedrich III., der wie seine Vorgänger von der Sonderbesteuerung der Juden mehrfach Gebrauch machte, forderte am 16. Dezember 1457 in einem Mandat, die Stadt solle die Juden in ihrer „Nahrung und Hantierung" nicht noch mehr beschränken, damit diese nicht abwanderten und seine Kammergerechtigkeit dadurch Schaden erlitte.
1478 betrug die Jahressteuer, die die Juden an die Stadt zu entrichten hatten, 6 Gulden (früher 2 Gulden). In den achtziger Jahren war die kleine jüdische Gemeinde zeitweise ohne Rabbiner. Nicht alle Ulmer Juden waren in Geld- und Handelsgeschäften tätig. Neben einigen gelehrten Rabbinern ist der Buchkünstler Meyerlein zu nennen, dessen Schaffenszeit zwischen 1468 und 1492 liegt. Er hat eine Anzahl von Bucheinbänden geschaffen, die auch heute noch zu den Kleinoden spätgotischer Buchbinderkunst gerechnet werden. Im 15. und 16. Jahrhundert bedienten sich Ulmer Patrizier wiederholt jüdischer Ärzte, obwohl diesen die Stimmung in der Stadt wenig günstig war.
Um 1490 besaß kein Ulmer Jude mehr das Bürgerrecht. Der Chronist Felix Fabri berichtete damals, dass die Juden nicht zur Bürgergemeinde gehörten (qui non sunt in corpore civitatis), dass sie vielmehr den Status von Pfahlbürgern oder Beiwohnern (concomitativi) hatten. Er bezeichnete es als altes Recht der Ulmer, nur drei Juden bei sich zu dulden und von allen fremden Juden, die sich länger als drei Tage in der Stadt aufhielten, für den Tag eine Gebühr von 1 Gulden zu verlangen. Die Zahl der jüdischen Familien, die damals hier wohnten, überstieg zwar drei, war aber doch recht bescheiden. In der Konsequenz der seit langem betriebenen Ratspolitik lag es, sich auch dieser Juden, die den Zünften keine nennenswerte Konkurrenz mehr bedeuten konnten, vollends zu entledigen. 1499 erreichte der Rat schließlich durch seine Klagen über den Wucher und die Betrügereien der jüdischen Einwohner bei Kaiser Maximilian ein Privileg, das ihm gestattete, alle Juden auszuweisen. Der Rat musste sich dafür verpflichten, alle Quatember dem Kaiser eine Messe in den reformierten Mannsklöstern der Stadt lesen zu lassen und nach Maximilians Tod „Begängnisse und Gedächtnisse" zu halten. Die Juden erhielten eine Frist von fünf Monaten zum Verkauf ihrer Habe und zur Auslösung ihrer Pfänder. Die Liegenschaften, bei denen es sich um die Synagoge mit dem Schulhof, dem Kirchhof, einem Spital, einem Bad und elf Wohnhäusern handelte, kauften die Ulmer dem Kaiser um 5.000 Gulden ab.
Die Juden lebten bis 1499 in der alten und in der 1401 erstmals urkundlich genannten neuen Judengasse, die sich beide östlich des Münsters befanden. Dicker setzt die neue Judengasse, die nördliche Parallelgasse zur alten Judengasse, mit dem 1469 erwähnten „Sießloch" gleich. Beide Judengassen waren nicht ghettoartig abgeschlossen, die Patrizierfamilien Krafft und Rot waren hier begütert. Der mittelalterliche Judenfriedhof lag vor dem Neuen Tor bei der Schwestermühle in der Nähe der Blau. Bis heute erinnert an die 1499 vertriebene jüdische Gemeinde, deren Verwaltung „Pfleger" (1402 Seligmann und Lemlin) besorgten, der Judenhof. Im 16. und 17. Jahrhundert hielt der Rat am Ausschluss der Juden fest und erwirkte wiederholt entsprechende kaiserliche Privilegien (1541, 1561 und 1571). Trotz Strafandrohungen vermochte er aber den Handel von Juden, die in der Umgebung der Reichsstadt (beispielsweise in Herrlingen) wohnten, mit Ulmer Bürgern nicht völlig zu unterbinden. Juden, die sich vorübergehend in Ulm aufhielten, mussten stets in Begleitung eines städtischen Amtsdieners sein. Erst im 18. Jahrhundert lockerte der Rat seine Verbote: 1712 gestattete er den Juden gegen ein Taggeld von 10 Kreuzern den Besuch der Ulmer Viehmärkte. 1786 war ein privilegierter Jude in der Stadt selbst wohnhaft. Vornehmlich während der Kriege des 17. und 18. Jahrhunderts hielten sich hier jüdische Heereslieferanten des Schwäbischen Kreises, des Kaisers und der Reichsfürsten, ebenso fürstliche Hoffaktoren auf, ohne dass die Stadt gegen ihre Anwesenheit wirksam Einspruch erheben konnte. Ende des 18. Jahrhunderts war der Direktor des Stadttheaters ein Jude (Gumberg). Nach der Mediatisierung der Reichsstadt durch Bayern (1803) und dem Übergang an Württemberg (1810) erhielten wieder Juden die Erlaubnis, sich in Ulm niederzulassen: 1806 Heinrich Röder (früher Harburger) aus München, 1815 Seligmann Guggenheim aus Hechingen. Die Stadtverwaltung, insbesondere aber die Ulmer Kaufmannschaft waren den Juden, deren wirtschaftliche Konkurrenz sie fürchteten, wenig günstig gesinnt. Erst nach der Verkündigung des württembergischen Gesetzes in Betreff der öffentlichen Verhältnisse der israelitischen Glaubensgenossen vom 25. April 1828 bildete sich allmählich wieder eine israelitische Gemeinde in der Stadt. 1824 lebten hier 13 Juden, 1831 12, 1843 19, 1854 57, 1869 394, 1886 667, 1900 609, 1910 588 und 1933 530. 1845 gestattete ein Dekret der Israelitischen Oberkirchenbehörde die Einrichtung eines Filialgottesdienstes und berief als Vorsängeramtsverweser Simon Einstein aus Laupheim hierher. 1856 wurde Ulm von der Muttergemeinde Laupheim losgelöst und zur selbständigen israelitischen Religionsgemeinde erhoben. 1873 konnte die Gemeinde ihre Synagoge einweihen. 1888 wurde Ulm Sitz eines Rabbinats, dem bis 1906 Dr. Seligmann Fried, später Jesaia Straßburger (1906-15), Dr. Ferdinand Straßburger (1916-27) und Dr. Julius Cohn (1928-39) vorstanden. Einen eigenen Friedhof konnte die Gemeinde bereits 1854 an der Frauenstraße anlegen. 1899 räumte ihr die Stadt eine Abteilung auf dem Städtischen Friedhof an der Stuttgarter Straße ein.
Zahlreiche jüdische Bürger brachten es als Geschäftsleute, Fabrikanten, Arzte, Rechtsanwälte usw. zu Ansehen in der Stadt. Bereits 1860 waren im Besitz von Juden 8 Fabriken, 4 Großhandlungen, 10 Einzelhandlungen und 3 Handwerksbetriebe. Außerdem praktizierten damals hier ein jüdischer Arzt und zwei Rechtskonsulenten (Rechtsanwälte). 1933 gehörten jüdischen Bürgern u.a. 11 Fabriken, 13 Großhandlungen, 35 Einzelhandlungen, 3 Warenhäuser; 6 Juden waren als Ärzte, 9 als Rechtsanwälte tätig. Namen wie Lebrecht, Gläser, Dannhauser, Gundelfinger, Erlanger, Winkler, Wallersteiner, Bernheimer, Ullmann usw. hatten in der Ulmer Wirtschaft einen guten Klang. Einige jüdische Industrielle und Geschäftsleute gehörten der Industrie- und Handelskammer an: Kaufmann K. Dreyfuss (1875-81), Bankier N. Thalmessinger (1890-96), Bankier S. Hellmann (1897-1922), Bankdirektor S. Thalmessinger (1911), Kaufmann J. Adler (1920- 33).
Am öffentlichen Leben nahmen die jüdischen Bürger regen Anteil: Bereits 1861 wurde Fabrikant Leopold Marx in den Bürgerausschuss gewählt, 1869 Rechtsanwalt J. Lebrecht, 1871 Fabrikant Max Neuburger und später noch vier andere. Mitglieder des Gemeinderats waren die Rechtsanwälte Albert Mayer (1899-1909), Salomon Moos (1919-22) und Siegfried Mann (1925-33). Rechtsanwalt Albert Mayer gehörte von 1906-09 dem württembergischen Landtag an. In allen größeren Vereinen der Stadt waren jüdische Bürger vertreten. Im Ersten Weltkrieg ließen 18 Ulmer Juden ihr Leben für ihr deutsches Vaterland. Auf die jüdische Gemeinde entfiel ein höherer Prozentsatz an Gefallenen als auf die christliche Bevölkerung.
Der größte Sohn der Ulmer jüdischen Gemeinde war Albert Einstein (geb. Am 14. März 1879 in Ulm, gest. am 18. April 1955 in Princeton/USA), der durch seine wissenschaftlichen Erkenntnisse entscheidend das Weltbild der modernen Physik geformt hat. Seine Vorfahren väterlicherseits waren 200 Jahre in Buchau am Federsee ansässig gewesen.
Um das kulturelle Leben der Stadt machten sich in den Jahren der Weimarer Republik besonders verdient Prof. Dr. Julius Baum, Direktor des Städtischen Museums, sowie die Kunstmaler Ludwig Moos und Leo Kahn. 1929 verlieh die Philosophische Fakultät der Universität Erlangen dem Privatgelehrten Paul Moos, dessen Arbeiten auf den Gebieten der Musik, der Philosophie und der Ästhetik hohe Anerkennung in der wissenschaftlichen Welt gefunden hatten, die Würde eines Ehrendoktors.
Schon in den achtziger Jahren hatte hier der moderne Antisemitismus auf völkischer Grundlage Anhänger. Die „Ulmer Schnellpost" betrieb damals eine maßlose Judenhetze. Der jüdische Schächter Bernheim wurde unter der haltlosen Anschuldigung, er habe einen Friseurlehrling aus rituellen Beweggründen ermordet, verhaftet. 1891 musste der Stuttgarter Israelitische Kirchenrat von Wassermann in Ulm vor Gericht die These eines Professors Rohling widerlegen, dass der Talmud von den Juden ein rohes, liebloses Benehmen gegen Nichtjuden fordere. Der damalige Oberbürgermeister Dr. Heinrich von Wagner nahm sehr entschieden gegen die Judenhetze Stellung. Seinem Verhalten ist es wesentlich zuzuschreiben, wenn die Woge des Antisemitismus bald wieder abebbte.
In den zwanziger Jahren lebte der Antisemitismus in der Stadt wieder auf. Nach der Machtergreifung durch Hitler entfachte der nationalsozialistische „Ulmer Sturm" eine wüste Presseagitation gegen die jüdischen Bürger. Professor Dr. Baum wurde seines Postens als Direktor des Städtischen Museums enthoben. Die seit 1929 nach Albert Einstein benannte Straße wurde in Fichte-Straße umbenannt. In Ulm sollte nichts mehr an den großen Naturwissenschaftler erinnern, dessen Namen und Ansehen man bei jeder Gelegenheit verunglimpfte. Dem inzwischen nach Göppingen übergesiedelten Privatgelehrten Paul Moos erkannte die Universität Erlangen die Ehrendoktorwürde wieder ab. Am 1. April 1933 fand der organisierte Boykott gegen die jüdischen Geschäfte statt. Die gesellschaftliche und wirtschaftliche Diskriminierung der Juden nahm ständig zu. 1935 wurde ihnen, nach einem Bericht des ausgezeichnet informierten Jewish Chronicle in London, der Besuch des Stadtbads verboten. 1936 musste die israelitische Gemeinde eine besondere Schule für ihre Kinder einrichten, wozu die Stadt allerdings einen finanziellen Beitrag leistete. Trotz der antisemitischen Hasspropaganda gab es auch 1935/36 noch zahlreiche Nichtjuden, die auf die Gefahr hin, öffentlich angeprangert und beschimpft zu werden, in jüdischen Geschäften einkauften oder jüdische Ärzte in Anspruch nahmen. 1936 schändeten unbekannte Täter den alten jüdischen Friedhof. In der sogenannten Kristallnacht im November 1938 kam es zu üblen Ausschreitungen durch Angehörige nationalsozialistischer Parteiformationen. Die Synagoge ging in Flammen auf. Jüdische Bürger wurden schwer misshandelt und in „Schutzhaft" genommen. Die letzten jüdischen Geschäfte und Unternehmen fielen der „Arisierung" oder der Auflösung anheim. 1939 begann die Stadtverwaltung, jüdische Bürger in sogenannte Judenhäuser zwangsumzuquartieren. Die Lebensverhältnisse der Juden, die sich den weiteren Verfolgungen nicht durch die Auswanderung entzogen, wurden immer kümmerlicher. 1941 und 1942 traten zahlreiche jüdische Bürger von hier und von Oberstotzingen aus, wohin sie kurz zuvor umgesiedelt worden waren, den Weg in die Deportation an. Die israelitische Gemeinde war schon 1939 aufgelöst worden, ebenso das Rabbinat. 1945 lebten nur noch wenige Juden in Ulm, die ihre „arischen" Ehepartner vor der Zwangsverschleppung geschützt hatten. Von den 530 jüdischen Bürgern, die 1933 hier ansässig gewesen waren, fanden 112 in der Deportation den Tod.
An die israelitische Gemeinde des 19. und 20. Jahrhunderts erinnern die beiden Friedhöfe. Auf dem alten Friedhof an der Frauenstraße, der als Park angelegt ist, sind nur noch drei Grabsteine erhalten, die anderen fielen der barbarischen Zerstörungswut nationalsozialistischer Fanatiker zum Opfer. Auf dem Städtischen Friedhof an der Stuttgarter Straße hat die Stadt ein Mahnmal für die Bürger errichtet, die durch das nationalsozialistische Regime ermordet wurden. Eine Gedenktafel an der Kreissparkasse hält die Erinnerung an die 1938 zerstörte Synagoge wach.
In dieser Studie nachgewiesene Literatur
- Bild von der Synagoge, in: Jüdische Gotteshäuser und Friedhöfe, 1932, S. 130.
- Brann, M., Jüdische Grabsteine in Ulm, in: Festschrift zum 70. Geburtstag des Oberkirchenrats Dr. Kroner, Stuttgart 1917.
- Dicker, Hermann, Die Geschichte der Juden in Ulm. Ein Beitrag zur Wirtschaftsgeschichte des Mittelalters, Rottweil 1937.
- Keil, Heinz, Dokumentation über die Verfolgung der jüdischen Bürger von Ulm, Ulm 1962.
- Nübling, Eugen, Die Judengemeinden des Mittelalters, insbesondere die Judengemeinde der Reichsstadt Ulm, Ulm 1896.
- Pressel, Friedrich, Geschichte der Juden in Ulm, Ulm 1873.
Zitierhinweis: Sauer, Paul, Die jüdischen Gemeinden in Württemberg und Hohenzollern, Stuttgart 1966, Beitrag zu Ulm, veröffentlicht in: Jüdisches Leben im Südwesten, URL: […], Stand: 20.11.2022
Lektüretipps für die weitere Recherche
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- Bergmann, Ingo, „And Always Remember Me“. Memorial Book for the Holocaust Victims of Ulm, Münster/Westfalen 2013.
- Bergmann, Ingo, 1938. Das Novemberpogrom in Ulm - seine Vorgeschichte und Folgen, hg. vom Dokumentationszentrum Oberer Kuhberg e.V./Haus der Stadtgeschichte - Stadtarchiv Ulm, Ulm 2018.
- Bergmann, Ingo, „Und erinnere dich immer an mich“. Gedenkbuch an die Ulmer Opfer des Holocaust, Münster/Westfalen 2009.
- Dicker, Hermann, Die Geschichte der Juden in Ulm. Ein Beitrag zur Wirtschaftsgeschichte des Mittelalters, Zürich/Rottweil 1937.
- Einstein und Ulm. Forschungen zur Geschichte der Stadt Ulm, hg. von Hans Eugen Specker, 1979.
- Engel, Andrea, Juden in Ulm im 19. Jahrhundert. Anfänge und Entwicklung der jüdischen Gemeinde von 1803-1872, Magisterarbeit im Fachbereich Geschichte der Universität Tübingen, 1982.
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- Fried, Amelie, Schuhhaus Pallas. Wie meine Familie sich gegen die Nazis wehrte, 2008.
- Germania Judaica, Bd.2, 2. Halbband, hg. von Zvi Avneri, Tübingen 1968, S. 843-846.
- Germania Judaica, Bd.3, 2. Teilband, hg. von Arye Maimon/Mordechai Breuer/Yacov Guggenheim, Tübingen 1995, S. 1498-1522.
- Hahn, Joachim/Krüger, Jürgen, „Hier ist nichts anderes als Gottes Haus...“. Synagogen in Baden-Württemberg. Band 1: Geschichte und Architektur. Band 2: Orte und Einrichtungen, hg. von Rüdiger Schmidt (Badische Landesbibliothek, Karlsruhe) und Meier Schwarz (Synagogue Memorial, Jerusalem), Stuttgart 2007.
- Heisele, Ralf, Die Judenverfolgung in Ulm im Spiegel der Lokalpresse, Magisterarbeit Tübingen, 1992.
- Kleemann, Claudia, Die Zwangsverkäufe/Übernahmen der Kauf- und Warenhäuser Hermann Tietz, Schocken (Stuttgart) und Landauer (Stuttgart, Ulm, Heilbronn), in: Ausgrenzung. Raub. Vernichtung. NS-Akteure und „Volksgemeinschaft“ gegen die Juden in Württemberg und Hohenzollern 1933 bis 1945, hg. von Heinz Högerle/Peter Müller/Martin Ulmer, Stuttgart 2019, S. 115-126.
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