Die jüdische Bevölkerungsentwicklung in Württemberg und Hohenzollern (1806-1933)

von Stefan Lang

Innenraum der Stuttgarter Synagoge in der Hospitalstraße um 1910.  
Innenraum der Stuttgarter Synagoge in der Hospitalstraße um 1910. [Quelle: Landesmedienzentrum Baden-Württemberg]

Das Ende des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation im Jahr 1806 brachte langfristig tiefgreifende Veränderungen für das Leben der Juden in Südwestdeutschland mit sich. Die politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Transformationsprozesse des 19. Jahrhunderts beeinflussten und prägten die kleine religiöse Minderheit, die im neuen Königreich Württemberg nie mehr als ein Prozent der Gesamtbevölkerung stellte, besonders stark. Neue Grenzen und Verkehrswege erschwerten und eröffneten gleichermaßen wirtschaftliche Spielräume. Technischer Fortschritt, Zugang zum Hochschulwesen und Industrialisierung ergaben im Zusammenspiel mit neuen rechtlichen Freiheiten sukzessive Chancen zum gesellschaftlichen Aufstieg. Die freie Wahl der Wohnorte ab der Mitte des 19. Jahrhunderts und eine phasenweise starke Auswanderungsbewegung nach Nordamerika veränderten die demographische und topographische Prägung der jüdischen Gemeinden. Innerhalb eines Jahrhunderts wandelte sich die Siedlungsstruktur der Juden in Südwestdeutschland ganz überwiegend vom ländlichen Raum hin zu einer verstärkten Urbanisierung.

Zunahme der jüdischen Bevölkerung im Königreich Württemberg durch die Mediatisierung 1806

Bis 1806 lebten nur wenige Juden auf dem Gebiet des Herzogtums Württemberg, insgesamt 534 Personen verteilten sich in diesem Jahr auf sieben Gemeinden – darunter die Residenzorte Stuttgart und Ludwigsburg sowie vor allem die direkt der Herzogsfamilie unterstellten Dörfer Freudental, Aldingen und Hochberg. Durch die mediatisierten neuwürttembergischen Herrschaftsbereiche kamen nun allerdings 4.884 jüdische Untertanen aus 50 weiteren Gemeinden hinzu – bis auf die kleine Reichsstadt Buchau am Federsee fast ausschließlich aus ehemals adeligen Territorien. Alle übrigen früheren Reichsstädte hatten ebenso wie Württemberg im 15. und frühen 16. Jahrhundert ihre jüdischen Bewohner ausgewiesen und diesen Rechtszustand dauerhaft beibehalten. Die neuerworbenen jüdischen Siedlungsorte waren 1806 weitläufig im Königreich verteilt, bildeten aber gewisse Schwerpunkte. So dominierten beispielsweise in Oberschwaben die beiden großen Gemeinden Buchau und Laupheim, während im früher altwürttembergischen Bereich zuvorderst Jebenhausen und Buttenhausen sowie Wankheim, Freudental und Hochberg zu nennen sind. Bis auf Buchau handelte es sich hier meist um einst ritterschaftliche oder freiherrliche Schutzjudengemeinden. Gleiches galt für die Judendörfer im früher habsburgischen Einflussbereich um Horb und Rottenburg, wie Mühringen, Baisingen, Rexingen oder Nordstetten. Im nördlichen neuwürttembergischen Gebiet existierten einige jüdische Ansiedlungen im Umfeld von Schwäbisch Hall, darunter Braunsbach, Steinbach und Unterlimpurg sowie zahlreiche Orte mit jüdischer Bevölkerung im früher schwäbisch-fränkischen und schwäbisch-pfälzischen Grenzbereich um Heilbronn und Mergentheim. Auch in Nordost-Württemberg waren in der Nähe von Bopfingen und im früher gräflich-oettingischen Herrschaftsbereich unter anderem mit Oberdorf, Aufhausen, Lauchheim und Pflaumloch wichtige jüdische Gemeinden vorhanden.

Dominanz des Landjudentums in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts

Nachdem in Württemberg 1808 eine umfassende Vereinheitlichung der bisher sehr unterschiedlichen Rechtsverhältnisse der früheren Schutzjuden gescheitert war, kompensierte man diese staatlich notwendigen Angleichungen in Form von schrittweisen rechtlichen Zugeständnissen. Davon ausgenommen blieb allerdings weitgehend die freie Wahl des Wohnorts. So wurde 1816 nochmals ausdrücklich bestätigt, dass die Gemeinden, die bislang keine Juden in ihre Bürgerschaft aufgenommen hatten, weiterhin selbstständig über deren Zuzug entscheiden konnten. Deshalb blieben bis auf einige Ausnahmen die vorhandenen Siedlungsstrukturen vorerst weiterhin bestehen, was zum starken Anwachsen des jüdischen Bevölkerungsanteils in den bisherigen Orten führte. Auch durch einen gewissen Zuzug aus bayerischen, badischen und pfälzischen Gemeinden stieg die jüdische Bevölkerung des Königreichs von den 5.418 Menschen in 57 Orten des Jahres 1806 auf 8.256 in 79 Orten im Jahr 1817. 1821 lebten 8.892 Juden in einer Gesamtbevölkerung von 1.444.165 Menschen im Königreich, in der Hauptstadt Stuttgart zählte man damals 104 jüdische Einwohner. Das Emanzipationsgesetz von 1828 änderte trotz erweiterter beruflicher Möglichkeiten und weiteren staatlichen Regelungen in Bezug auf die Religionsausübung zunächst wenig an der jüdischen Landkarte Württembergs. Von den 10.179 im Jahr 1832 gezählten Juden lebten 93 Prozent weiterhin auf dem Land und oft in den traditionellen Schwerpunkten. Die 16 größten ländlichen Gemeinden stellten damals 5.619 Menschen und damit mehr als die Hälfte aller württembergischen Juden: Laupheim (649), Buchau (580), Oberndorf (507), Jebenhausen (485), Rexingen (355), Freudental (354), Aufhausen bei Neresheim (298), Baisingen (218), Berlichingen (213), Braunsbach (201) und Niederstetten (200). In Stuttgart waren es dagegen nur 142, Ludwigsburg 69, Schwäbisch Hall 30 und Ulm 13 Personen. Württemberg war ab 1818 administrativ in vier Kreise geteilt, die wiederum in die Amtskörperschaften von 64 „Oberämtern“ untergliedert wurden, deren Gemeinden sich um eine namensgebende Oberamtsstadt gruppierten. Durch das 1821 eingerichtete „Statistisch Topografische Bureau“ (ab 1885: Königliches Statistisches Landesamt) kann man die demografische Entwicklung der jüdischen Bevölkerung des Königreichs auf mehreren Ebenen sehr präzise nachverfolgen. So teilten sich 1841 die 11.563 jüdischen Einwohner Württembergs folgendermaßen auf: Jagstkreis 4.857 Personen, vor allem in den Oberämtern Neresheim, Künzelsau, Mergentheim und Gerabronn, Neckarkreis 2.507, Donaukreis 2.342 überwiegend durch die Oberämter Riedlingen und Göppingen und der Schwarzwaldkreis mit 1857 Personen.

Hohe Auswandererzahlen der württembergischen Juden im Zeitraum 1840-1870

In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zählte das noch weitgehend agrarisch geprägte Württemberg zu den ärmsten Regionen Deutschlands und war häufig von wirtschaftlichen Krisen betroffen. Daher suchten viele vorrangig jüngere Menschen ihr Glück in der Auswanderung, vorwiegend nach Nordamerika. Durch landwirtschaftliche Reformen und insbesondere die durch den Eisenbahnbau Mitte der 1840er-Jahre dynamisierte Industrialisierung wandelte sich das Gesicht des Landes. Ab den 1860er-Jahren wurde zunächst meist die Textilindustrie in einigen Regionen zum dominierenden Wirtschaftszweig. Viele der jüdischen Landgemeinden hatten indes während der 1840er-Jahre ihren demographischen Höhepunkt erlebt. Aufgrund der weiterhin bestehenden Wohnortbeschränkungen, die sich erst nach 1850 und dann ab der rechtlichen Gleichstellung 1864 auflösten, sowie wegen ihrer unbefriedigenden wirtschaftlichen und rechtlichen Situation wanderten zahlreiche Juden von Württemberg nach Nordamerika aus. Dabei scheint es je nach Gemeinde durchaus Unterschiede gegeben zu haben, was wohl zugleich an der individuellen Ausrichtung und den Erfahrungswerten größerer Familienverbände gelegen zu haben scheint. So sind beispielsweise aus Laupheim und Jebenhausen besonders viele Auswanderer zu verzeichnen, dagegen vergleichsweise wenig aus Buchau, Buttenhausen, Mergentheim, Braunsbach, Freudental oder Baisingen. Aus Oberndorf, Gerabronn, Mühringen, Hochberg, Nordstetten, Berlichingen oder Wankheim suchten gleichfalls etliche jüdische Einwohner ihr Glück jenseits des Atlantiks. Am gut dokumentierten Beispiel Jebenhausen zeigen sich sowohl die Dynamik des Phänomens, als auch dessen familiäre und zeitliche Komponenten: Zwischen 1830 und 1870 wanderten 329 Personen aus der Gemeinde, die 1845 mit 550 Menschen ihren demografischen Höhepunkt erreicht hatte, ins Ausland ab – davon 317 nach Nordamerika. Von dieser Zahl entfielen 152 Personen und damit knapp die Hälfte allein auf die vier Familienverbände Einstein, Dörzbacher, Ottenheimer und Rosenheim, der Rest verteilte sich auf weitere 28 Familien. Der zeitliche Schwerpunkt ist dabei klar im Abschnitt 1848 bis 1856 zu verorten. Die Hochphase der jüdischen Auswanderungsbewegung aus Württemberg scheint insgesamt von den späten 1840er-Jahren bis etwa 1870 zu liegen, speziell die 1850er-Jahre sind dabei extrem häufig vertreten. Auch deshalb stieg die jüdische Bevölkerung des Landes nicht mehr besonders stark an, 1856 waren es 12.559 Menschen.

Im Zeitraum von 1841 bis 1895 schwankte die Zahl der jüdischen Bewohner Württembergs insgesamt zwischen 11.090 und dem Höchstwert von 13.331 Menschen im Jahr 1880 – allerdings folgte bis 1895 ein wohl erneut auswanderungsbedingtes Absinken auf 11.887 Personen. Der höchste Anteil der Juden an der Gesamtbevölkerung des Landes wurde 1846 mit 0,71 Prozent erreicht, kurz vor der massiven Auswanderung in den folgenden Jahren. Der prozentuale Anteil blieb von 1858 (0,66 Prozent) bis 1885 ebenfalls sehr stabil, mit dem Höchstwert dieser Phase von 0,68 Prozent im Jahr 1875. 1895 sollten es nur noch 0,57 Prozent sein. Der Anteil von Juden an der lokalen Bevölkerung konnte speziell auf dörflicher Ebene manchmal sehr hoch ausfallen und bis zu 50 Prozent betragen, auf der Ebene der Oberämter waren es jedoch höchstens zwischen 2 - 4 Prozent und dies überwiegend in der Phase 1806 bis 1871, mit Schwerpunkt im Jagst- und Donaukreis. Der höchste Prozentsatz lag 1832 mit 6,67 Prozent Bevölkerungsanteil beim Oberamt Horb, wo die Zahl der Juden sogar die der Evangelischen übertraf (5,36 Prozent). In Stuttgart machten die jüdischen Einwohner trotz des enormen Wachstums der Gemeinde nur maximal 1,62 Prozent (1871) aus, 1933 waren es gerade einmal 1,08 Prozent.

Steigende Dynamik der jüdischen Urbanisierung ab 1864

Zum Zeitpunkt der vollständigen rechtlichen Gleichstellung 1864 lebten 11.610 jüdische Württemberger in der Gesamtbevölkerung von 2.437.574 Menschen. Zwar zählte der Jagstkreis mit 4.080 Menschen die meisten jüdischen Einwohner, doch aufgrund der sehr stark angewachsenen Stuttgarter Gemeinde sowie durch Heilbronn und Esslingen hatte der Neckarkreis 3.482 im Vergleich zu 1841 enorm aufgeholt, während der Donaukreis mit 2.654 leicht zugelegt und der Schwarzwaldkreis mit 1394 merklich an jüdischer Bevölkerung eingebüßt hatte. Der hier bereits deutlich greifbare Trend zu einer Konzentration auf einige städtische Großgemeinden sowie eine gewisse wirtschaftlich bedingte Verlagerung jüdischer Wohnorte jenseits der religiösen Zentren setzten sich in den Folgejahren mit großer Dynamik fort. Ab den 1860er-Jahren kamen jüdische Einwohner dabei in Städte, die zuvor 300 - 400 Jahre keine solchen erlaubt hatten. Darunter waren ehemalige Reichsstädte wie Reutlingen, Biberach oder Ravensburg und ebenso altwürttembergische Amtsstädte wie Freudenstadt, Kirchheim, Nürtingen, Balingen oder Heidenheim sowie die einst habsburgischen Städte Rottenburg und Horb. Ulm, Esslingen, Heilbronn und Rottweil hatten dagegen schon früher im 19. Jahrhundert sukzessive Juden den Zuzug gestattet, auch hier erfolgte in den 1860er-Jahren nochmals ein kräftiger Schub. Das industriell aufblühende Göppingen nahm zwischen 1849 und 1904 ganze 37 Familien aus dem nahen Jebenhausen auf und erhielt wie andere Gemeinden an der Filstalachse durch jüdische Textilunternehmer wirtschaftlich eminent wichtige Impulse. Selbst in Regionen mit weniger ausgeprägtem frühindustriellem Profil, wie auf der Schwäbischen Alb oder im Tübinger und Rottweiler Raum, entstanden in diesen Jahrzehnten größere und kleinere Fabriken im Textil- und Bekleidungssektor.

Im Jahr der Reichsgründung 1871 war Stuttgart inzwischen mit 2.064 Mitgliedern die größte württembergische Judengemeinde geworden und weitere städtische Gemeinden wie Heilbronn, Ulm, Göppingen, Esslingen und Schwäbisch Hall hatten innerhalb kurzer Zeit erheblich an jüdischer Bevölkerung zugelegt. Durch Auswanderung und eine im Gesamtverhältnis sowie offenbar durch den Urbanisierungsprozess mitbedingte, relativ niedrige Geburtenrate sank der jüdische Bevölkerungsanteil vom Höhepunkt der 1880er-Jahre im Folgejahrzehnt trotzdem markant ab, 1890 waren es 12.639 Personen und 0,62 Prozent aller Württemberger.

Absinken des jüdischen Bevölkerungsanteils seit dem Ende des 19. Jahrhunderts

Die Volkszählung von 1895 ergab eine Zahl von 11.887 Personen jüdischen Glaubens in Württemberg, wobei der Neckarkreis (5.213) mit Stuttgart und Heilbronn weit vor dem Jagstkreis (3.133), dem Donaukreis (2.229) und dem Schwarzwaldkreis (1.312) führte. Noch waren Oberämter mit kleinstädtischen und dörflichen Gemeinden in ihrem jüdischen Bevölkerungsanteil einigermaßen stabil, wie die Oberämter Mergentheim, Gerabronn, Künzelsau und Laupheim. Doch gingen hier die jüdischen Einwohnerzahlen zugunsten der größeren Städte und einer breiteren Verteilung im mittelstädtischen Bereich ebenfalls langsam zurück. Stuttgart meldete damals unter den 35 über 5.000 Menschen zählenden württembergischen Städten und Gemeinden 2.718 jüdische Einwohner, Heilbronn 818, Ulm 643, Cannstatt 406, Göppingen 306, Crailsheim 276, Schwäbisch Hall 142, Esslingen 131, Tübingen 105 und Rottweil 99. Alle anderen blieben unter 100 Personen, neun bewegten sich im einstelligen Bereich und in sechs dieser Gemeinden lebten überhaupt keine Juden, darunter Aalen oder Schorndorf.

Im Gegensatz zur Gesamtbevölkerung stieg die Zahl der Juden Württembergs im 20. Jahrhundert kaum mehr an, 1910 waren es nach der Volkszählung 11.982 Menschen. Auch der Trend zur Urbanisierung setzte sich weiterhin merklich fort: Wie Berlin für Preußen wurde Stuttgart für Württemberg zum absoluten Zentrum der jüdischen Einwohnerschaft – 1910 lebten dort 4.291 jüdische Einwohner. Dank der Stuttgarter Dominanz und weiteren großen Gemeinden wie Heilbronn und Ludwigsburg stellte mittlerweile der Neckarkreis mit 6.249 Personen die meisten jüdischen Einwohner und über die Hälfte der jüdischen Landesbevölkerung. Mit 2.412 Personen folgten der Jagstkreis sowie mit 1935 der Donaukreis und mit 1359 der Schwarzwaldkreis, wovon allein 738 aus dem Oberamt Horb stammten.

Am Ersten Weltkrieg beteiligten sich die Juden Württembergs ab 1914 mit 2.132 Kriegsteilnehmern überdurchschnittlich stark, was über 17 Prozent der jüdischen Bevölkerung entsprach. Die in dieser Zahl enthaltenen 1.610 Frontsoldaten machten wiederum 15,4 Prozent aller deutsch-jüdischen Frontkämpfer aus. 263 Gefallene und 509 Verwundete waren von den jüdischen Gemeinden des Königreichs zu beklagen. Allein aus Stuttgart und Cannstatt rückten 520 Männer aus, von denen 98 fielen. Dieser Aderlass an jungen Männern führte im Kontext der allgemein ohnehin rückläufigen jüdischen Bevölkerungsentwicklung in Württemberg direkt und perspektivisch nochmals zu einem Einschnitt. So lebten bereits vor dem Dritten Reich 1932 nur noch 10.901 jüdische Einwohner im freien Volksstatt Württemberg, davon nun 78,5 Prozent in den Stadtgemeinden.

Die Volkszählung von 1933 führte 10.023 „Glaubensjuden“ im Land auf, davon allein 4.490 in Stuttgart. Nach der NS-Rassedefinition lebten zudem 386 weitere Juden in der Hauptstadt, die nicht der „israelitischen“ Landeskirche angehörten. In ganz Deutschland stellten die Juden damals mit 499.682 Menschen 0,8 Prozent der Bevölkerung. Dagegen machten die Juden 1933 in Württemberg lediglich 0,37 Prozent der Gesamtbevölkerung aus, nochmals ein Rückgang zu den 0,42 Prozent von 1925 (10.827 Personen). Hundert Jahre zuvor war es 1832 mit 0,68 Prozent fast der doppelte Bevölkerungsanteil gewesen. Die 16 kleinstädtischen und dörflichen Orte, die damals mit 5.619 Menschen mehr als die Hälfte aller württembergischen Juden gestellt hatten, waren 1933 auf 1.117 Menschen gesunken. Einige früher große dörfliche Gemeinden wie Jebenhausen, Pflaumloch, Nordstetten oder Aufhausen waren mittlerweile fast oder komplett verschwunden. Außer den vier größten städtischen Gemeinden Stuttgart, Heilbronn (790), Ulm (516) und Göppingen (314) überschritten nur Rexingen (262) und Laupheim (231) die Zahl von 200 Personen, acht weitere Gemeinden bewegten sich zwischen 100 und 200 Mitgliedern. Nach dem Schema der 1924 aufgelösten württembergischen Kreiseinteilung stand 1933 weiter der frühere Neckarkreis mit 6.090 Personen und den Großgemeinden Stuttgart und Heilbronn klar an der Spitze, gefolgt vom Donaukreis mit 1.538, dem Jagstkreis mit 1.513 und dem Schwarzwaldkreis mit 882 Personen. Allein an diesen Zahlen ist im Vergleich zum 19. Jahrhundert klar ersichtlich, wie sehr sich die jüdische Bevölkerung aus den ländlichen Gebieten deutlich in einige städtische Zentren verlagert hatte. Die Zahl der Rabbinate hatte sich im Zug dieses strukturellen Prozesses von 41 im Jahr 1832 auf neun im Jahr 1933 reduziert: Buchau, Göppingen, Heilbronn, Horb, Mergentheim, Schwäbisch Hall, Stuttgart (Stadt), Stuttgart (Bezirk) und Ulm.

Vergleichbare Entwicklungen in Hohenzollern

Im kleinen Fürstentum Hohenzollern-Hechingen, das um 1850 etwa 20.000 Einwohner umfasste, dominierte die bedeutende Gemeinde von Hechingen, deren Wurzeln bis ins 15. Jahrhundert zurückreichen und die mit Unterbrechungen eine stetige Größe der jüdischen Siedlungslandschaft Schwabens dargestellt hatte. Gleiches galt in kleinerem Maßstab für Hohenzollern-Sigmaringen mit Haigerloch und Dettensee, auch hier existierte seit dem 16. Jahrhundert eine kontinuierliche jüdische Bevölkerung. Die Eigenständigkeit der jeweils in Oberämter gegliederten hohenzollerischen Fürstentümer endete 1849/1850 im Kontext der Revolution von 1848 mit der Abdankung der Regenten zugunsten Preußens, in dessen Territorium die südwestdeutschen Herrschaftsgebiete künftig als „Hohenzollernsche Lande“ integriert wurden. Damit lief dort die bisher eigenständige Judenpolitik zugunsten der im Vergleich fortschrittlicheren preußischen Richtlinien aus, obwohl auch diese noch Einschränkungen für die jüdischen Untertanen beinhalteten.

In den hohenzollerischen Gebieten sind im Verlauf des 19. und 20. Jahrhunderts mit Württemberg vergleichbare Entwicklungen zu beobachten, auch wenn dort keine nennenswerten inländisch-demografischen Strukturverschiebungen stattfanden. Trotz der prinzipiellen Gleichberechtigung ab 1850 blieben Juden in Preußen lange beim Zugang zum Staatsdienst benachteiligt und konnten erst ab 1901 wählen, da sie als „unverbürgert“ definiert waren. Wie in Württemberg erlebten die dortigen Gemeinden um die Mitte des 19. Jahrhunderts ihre jüdischen Bevölkerungshöhepunkte: Hechingen im Jahr 1842 mit 809 Personen, damals rund ein Viertel der städtischen Einwohnerschaft, sowie Haigerloch mit 323 Personen 1844 und Dettensee schon 1830 mit 173 Personen. Während Hechingen nach 1850 im kurzer Zeit erhebliche jüdische Bevölkerungsverluste durch Aus- und Abwanderung zu verzeichnen hatte, 1858 waren es 469 und 1885 331 Menschen, blieb die Gemeinde Haigerloch bis ins frühe 20. Jahrhundert vergleichsweise stabil und zählte 1905 immerhin 254 Mitglieder. Diese Zahl reduzierte sich bis 1933 weiter auf 213 Personen. In Hechingen, wo jüdische Bewohner ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts maßgeblich am industriellen und gewerblichen Fortschritt der Stadt beteiligt waren, lebten 1925 noch 125 und 1933 lediglich 101 Personen. In Sigmaringen hatten sich zwischenzeitlich einige jüdische Familien niedergelassen, jedoch kam es dort zu keiner eigenen Gemeindebildung – 1933 waren es etwa zehn Personen.

Literatur

  • Bumiller, Casimir, Juden in Hechingen. Geschichte einer jüdischen Gemeinde in neun Lebensbildern aus fünf Jahrhunderten, Hechingen 1991.
  • Burkhardt, Martin, Zur Wirtschafts- und Berufssituation der Juden in Württemberg und Hohenzollern vor 1933 - ein Überblick, in: Ausgrenzung, Raub, Vernichtung. NS-Akteure und "Volksgemeinschaft" gegen die Juden in Württemberg und Hohenzollern 1933 bis 1945, hg. von Heinz Högerle/Peter Müller/Martin Ulmer, Stuttgart 2019, S. 19-31.
  • Eitel, Peter, Oberschwaben im Kaiserreich (1870 - 1918), in: Geschichte Oberschwabens im 19. und 20. Jahrhundert, Bd. 2, Ostfildern 2015.
  • Hahn, Joachim, Erinnerungen und Zeugnisse jüdischer Geschichte in Baden-Württemberg, Stuttgart 1988.
  • Jeggle, Utz, Erinnerungen an die Haigerlocher Juden. Ein Mosaik, Tübingen 2000.
  • Jeggle, Utz, Judendörfer in Württemberg, Tübingen 1999.
  • Rohrbacher, Stefan, Die jüdische Landgemeinde im Umbruch der Zeit. Traditionelle Lebensform, Wandel und Kontinuität im 19. Jahrhundert, Göppingen 2000.
  • Sauer, Paul, Die jüdischen Gemeinden in Württemberg und Hohenzollern. Denkmale, Geschichte, Schicksale, Stuttgart 1966.
  • Sauer, Paul, Die Schicksale der jüdischen Bürger Baden-Württembergs während der nationalsozialistischen Verfolgungszeit 1933-1945, Stuttgart 1968.
  • Taddey, Gerhard, ...geschützt, geduldet, gleichberechtigt... Die Juden im baden-württembergischen Franken vom 17. Jahrhundert bis zum Ende des Kaiserreichs (1918), Ostfildern 2005.
  • Taddey, Gerhard, Kein kleines Jerusalem. Geschichte der Juden im Landkreis Schwäbisch Hall, Sigmaringen 1992.
  • Tänzer, Aron, Die Geschichte der Juden in Jebenhausen und Göppingen. Mit erweiternden Beiträgen über Schicksal und Ende der Göppinger Judengemeinde 1927, hg. von Karl-Heinz Rueß, Weißenhorn 1988.
  • Tänzer, Aron, Die Geschichte der Juden in Württemberg, Frankfurt 1937.

Zitierhinweis: Stefan Lang, Die jüdische Bevölkerungsentwicklung in Württemberg und Hohenzollern (1806-1933), in: Jüdisches Leben im Südwesten, URL: […], Stand: 02.02.2022.

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