Gleichstellung in Württemberg

Die rechtliche Situation der jüdischen Bevölkerung des Königreichs Württembergs 1806-1871

von Stefan Lang

Rund 65 Jahre dauerte es, bis die „Schutzjuden“, die 1806 zum Großteil aus mediatisierten Gebieten in das neue Königreich Württemberg aufgenommen worden waren, dort den Status vollständig gleichberechtigter Staatsangehöriger erhielten. Nur wenige Juden hatten bislang an den Residenzen in Stuttgart und Ludwigsburg sowie wenigen Orten wie Freudental oder Hochberg innerhalb des württembergischen Territoriums leben dürfen – der Rest des alten Herzogtums war jüdischen Bewohnern seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert versperrt gewesen und dieser Ausschluss bildete rund 300 Jahre lang einen Teil der altwürttembergischen Identität. Doch 1806 hatte sich ihre Zahl durch Gemeinden wie Buchau, Laupheim, Jebenhausen, Oberdorf am Ipf, Braunsbach, Buttenhausen oder Mühringen von 534 auf 5.418 gut verzehnfacht und durch Zuzug stieg die Zahl weiter auf 8.256 jüdische Menschen im Jahr 1817 – wobei die jüdischen Untertanen insgesamt zu keinem Zeitpunkt mehr als etwa 0,7 Prozent der Gesamtbevölkerung Württembergs ausmachen sollten.

Die Regelung der äußeren Lebensbereiche der einst vorrangig nur aus fiskalischen Motiven an wenigen Orten geduldeten religiösen Minderheit basierte über Jahrhunderte auf individuellen oder kollektiven Schutzbriefen, deren Inhalte je nach Territorium variieren konnten. Im ausgehenden 18. Jahrhundert sind allmählich erweiterte Rechte für die Juden aus obrigkeitlicher Initiative zu beobachten, wobei die Inhalte meist konkret mit den Juden ausgehandelt wurden. Erste größere Ansätze im Zeichen der Aufklärung bot bereits 1782 das „Toleranzpatent“ des habsburgischen Kaisers Joseph II., mit dem vorrangig wirtschaftlich motivierten Ziel einer Verbesserung der rechtlichen und sozialen Situation der Juden in den österreichischen Herrschaftsgebieten. Im Zuge der Revolution hatte dann die französische Nationalversammlung 1791 die Gleichberechtigung der Juden Frankreichs verkündet, was unter der Herrschaft Napoleons auch bei zahlreichen seiner deutschen Verbündeten zur Anwendung kam.

Versuche einer Vereinheitlichung des Judenrechts in Württemberg 1806-1819

Im Königreich Württemberg versuchte der um eine einheitliche und fortschrittliche Gesetzgebung bemühte König Friedrich I., für die überwiegend aus zuvor adeligen Schutzherrschaften stammenden Juden eine zeitgemäße Regelung ihrer Lebensbereiche zu gestalten. Diese Zielvorgabe konnte zunächst aber nur schrittweise erfolgen, da sich die altwürttembergischen Eliten in Verwaltung, Justiz und Kirche diesen Plänen aktiv und passiv widersetzten. Daher scheiterte 1808 eine von Friedrich in Auftrag gegebene, landesweit geplante und recht fortschrittliche Judenordnung. Ihre 94 Paragrafen wurden insbesondere beim Oberappellationstribunal in Tübingen so lange verwässert und verändert, bis der Regent schließlich stattdessen eine Umsetzung in Etappen vorzog. Andere deutsche Staaten wie Baden (1809), Preußen (1812) oder Bayern (1813) konnten durch umfassende Judenedikte wesentlich schneller zur staatsrechtlichen Gleichbehandlung ihrer jüdischen Untertanen gelangen, auch wenn diese von einer vollen Gleichberechtigung weiterhin deutlich entfernt waren und stark erzieherischen Charakter besaßen.

Nach der Niederlage Frankreichs und der einsetzenden Restauration 1815 machten allerdings einige deutsche Staaten ihre fortschrittliche Judengesetzgebung wieder rückgängig und setzten alte Beschränkungen wieder in Kraft. In Württemberg bestätigte man 1816 unter anderem, dass die Städte und Kommunen unverändert eigenständig über eine Aufnahme von Juden in ihre Bürgerschaft entscheiden durften – mit dem Resultat, dass sich die durch wenige ländliche Siedlungszentren geprägte jüdische Landkarte des Königreichs nur marginal veränderte und die vorhandenen Siedlungsorte bis zur Jahrhundertmitte einen demografischen Höchststand verzeichneten. Immerhin war den Juden seit 1806 der Erwerb von Gütern zur Eigenbewirtschaftung (1807) sowie das Betreiben bürgerlicher Gewerbe und der Eintritt in Handwerkerzünfte (1809) gestattet. Ebenso waren mit dem diskriminierenden „Leibzoll“ und anderen Sonderabgaben religionsspezifische Belastungen weggefallen.

Der Weg zum Emanzipationsgesetz von 1828

Die württembergische Verfassung von 1819 sprach den Juden zwar die Religionsfreiheit und den Zugang zum Hochschulstudium zu, doch die vollständigen Bürgerrechte genossen allein die drei christlichen Konfessionen im Land. Nach einer Eingabe der Abgeordnetenkammer vom Juni 1820 begannen die Vorbereitungen der Regierung für ein umfassendes Gesetz zur Regelung der Lebensverhältnisse von knapp 9.000 jüdischen Württembergerinnen und Württembergern. Hierzu nahm 1821 eine Kommission ihre Arbeit auf, die unter Einbeziehung jüdischer Mitglieder im Juni 1824 einen konkreten Gesetzesentwurf vorlegen konnte. Dieser wurde in den Folgejahren auch publizistisch intensiv und kontrovers diskutiert. Vor allem Vertreter der bürgerlichen altwürttembergischen Führungsschicht und die wirtschaftliche Konkurrenz der Juden versuchten durch Eingaben und Denkschriften die Stimmung und die politischen Entscheidungsträger zu beeinflussen. Entsprechend leidenschaftlich fielen daher die Verhandlungen und Positionierungen während der Parlamentsdebatten aus, bei denen der zuständige Innenminister Christoph Friedrich von Schmidlin den vehementen Gegnern der Judenemanzipation, wie beispielsweise Karl von Hofacker, die Vorzüge einer engen staatlichen Einbindung und Kontrolle der Juden zu vermitteln versuchte. Zentrale Inhalte des schließlich am 25. April 1828 verabschiedeten „Gesetz in Betreff der öffentlichen Verhältnisse der israelitischen Glaubensgenossen“ stellten neben einer kompletten Neuordnung des jüdischen Religions- und Schulwesens vor allem die Ausrichtung der wirtschaftlichen Möglichkeiten dar, die behördliche Festlegung von Familiennamen sowie die Aufhebung des bisherigen Schutzstatus und die Bindung an einen festen Wohnort. Bei der wirtschaftlichen Neuausrichtung sollte speziell der „Schacherhandel“, eine vielseitige Mischform aus Hausier- und Kleinhandel, durch entsprechende Verbote und Hürden als Lebensunterhalt drastisch reduziert werden. Tatsächlich stellten sich diesbezüglich schon bald deutliche Erfolge ein und auch die religionspolitischen Reformen unterstützten eine beschleunigte Integration der jüdischen Untertanen. Die ab 1832 agierende „Israelitische Oberkirchenbehörde“ gliederte die etwa 10.000 Menschen umfassende jüdische Bevölkerung des Landes in 41 religiöse Gemeinden und 13 Rabbinate ein. Der jüdische Jurist Paul Tänzer bezeichnete 1922 das Emanzipationsgesetz von 1828 in der Rückschau als „Grenzscheide zweier Perioden“. Sein Vater Aron Tänzer kam in seiner 1937 erschienenen „Geschichte der Juden in Württemberg“ sogar zu dem Urteil: „Das Gesamtbild zeigt, daß die Regierung mit dem ‚Erziehungsgesetz' vom Jahr 1828 dem Lande selbst den besten Dienst geleistet hatte.“ Trotzdem muss man jenseits der wirtschaftlichen und sozialen Verbesserungen gleichzeitig einen gewissen Verlust von religiöser und kultureller Individualität und Identität durch die staatlichen Kontrollfunktionen berücksichtigen.

Von der Märzrevolution zur vollständigen Gleichstellung 1864 und ihren Folgen

Angesichts der überwiegend positiven Effekte des Gesetzes von 1828 versuchten Vertreter der jüdischen Bevölkerung ab 1833 in verschiedenen Anträgen zu erreichen, dass dieses im Sinn einer vollständigeren Gleichberechtigung erneut überarbeitet würde. Gerade die Freizügigkeit blieb weiterhin sehr eingeschränkt, die ländlichen Lebenswelten dominierten das jüdische Württemberg immer noch sehr deutlich. Nachdem die Regierung allerdings selbst nach wohlwollenden Beurteilungen der Situation jahrelang überwiegend passiv blieb, legte Dr. Carl Weil 1845 als Vertreter der „Israelitischen Oberkirchenbehörde“ im Namen der rund 11.000 jüdischen Untertanen eine Petition vor, die deutlich auf die bisherigen Erfolge des Gesetzes verwies und darlegte, wie unnötig die Befürchtungen der 1820er-Jahre gegen die Judenemanzipation gewesen waren. Dennoch kam erst mit der Revolution von 1848 neue Bewegung in den Gleichstellungsprozess, als man in den „Grundrechten des deutschen Volkes“ formulierte, dass das religiöse Bekenntnis weder die bürgerlichen noch staatsbürgerlichen Rechte einschränken dürfe. 1849/50 schienen dann eine gesetzliche Umsetzung in Württemberg und die Aufhebung religionsbedingter Einschränkungen in greifbare Nähe gerückt zu sein. Als aber die deutsche Bundesversammlung im August 1851 die Grundrechte wieder aufhob, drohte ein Rückschritt auf den Status von 1828. Doch durch eine königliche Verordnung vom Oktober 1851 konnten zumindest einige Milderungen beibehalten werden, weitreichende gesetzliche Zugeständnisse kamen trotz mehrerer Initiativen vorerst nicht zustande.

Ab 1861 trat eine jüdische „Emanzipationskommission“ zusammen, die sich mit einer Eingabe zur Gleichberechtigung an die Ständevertretung wandte. Parallel dazu war die Regierung bereits eigenständig aktiv geworden. Im gleichen Jahr erhielten die württembergischen Juden das aktive und passive Wahlrecht zur Ständeversammlung und ab Dezember 1861 begannen die formalen Initiativen für die bürgerliche und gewerbliche Gleichstellung, die im Juni 1862 durch einen Ministerialbericht unterstützt wurde. Der folgende Gesetzentwurf fand mit seinen fünf Artikeln letztlich die klare Zustimmung beider Ständekammern. Die begleitende Diskussion war inzwischen weit entfernt von der Schärfe des Jahrs 1828, obwohl in den Debatten teilweise frühantisemitische Vorstellungen von vermeintlich rassisch bedingten Eigenschaften der Juden durchscheinen. Unterdessen hatte schon 1862 das Nachbarland Baden seinen jüdischen Untertanen als erster deutscher Staat die rechtliche Gleichstellung gewährt. Nach der königlichen Genehmigung konnte nun am 13. August 1864 das „Gesetz betreffend die bürgerlichen Verhältnisse der israelitischen Glaubensgenossen“ publiziert werden, in allen Synagogen des Landes fanden im Anschluss Dankesgottesdienste statt.

Die Folgen der Gleichberechtigung der 1864 insgesamt 11.610 Menschen zählenden jüdischen Bevölkerung Württembergs, die mit der etwas später folgenden Aufhebung des Verbots von Mischehen abgeschlossen und mit der Reichsgründung 1871 ohnehin deutschlandweit verankert wurde, zeigte sich insbesondere in der Entwicklung der Siedlungsstruktur. Diese wandelte sich deutlich vom ländlichen zum urbanen Sektor, wobei neben dem dominanten Zentrum Stuttgart als Schwerpunkte Heilbronn, Ulm, Göppingen, Schwäbisch Hall und Esslingen hervorzuheben sind. Wirtschaftlich profitierte das Land während der Folgejahrzehnte speziell im Bereich der Textilindustrie und deren Schwesterbranchen vielfach von der Leistungsfähigkeit jüdischer Unternehmer. Als Gegenreaktion auf die Gleichstellung der Juden und ihre gesellschaftliche Assimilation entwickelte sich jedoch der von den traditionellen, wirtschaftlich-religiösen Elementen der Judenfeindschaft abweichende rassische Antisemitismus. Dieser findet sich beispielsweise in den weitverbreiteten Schriften des einflussreichen württembergischen Staatsrechtlers Robert von Mohl und schlug sich als politisches Randphänomen später phasenweise in Organen wie der „Ulmer Schnellpost“ mit radikalen Positionen nieder.

Literatur

  • Brenner, Michael/Meyer, Michael A., Deutsch-Jüdische Geschichte in der Neuzeit, München 1996-1997.
  • Erb, Rainer/Bergmann, Werner, Die Nachtseite der Judenemanzipation. Der Widerstand gegen die Integration der Juden in Deutschland 1780-1860, Berlin 1989.
  • Jeggle, Utz, Judendörfer in Württemberg, Tübingen 1999.
  • Paul, Ina Ulrike, Quellen zu den Reformen in den Rheinbundstaaten, in: Quellen und Studien zur Entstehung des modernen württembergischen Staates, Band 7: Württemberg 1797-1816/19, München 2005.
  • Sauer, Paul, Die jüdischen Gemeinden in Württemberg und Hohenzollern. Denkmale, Geschichte, Schicksale, Stuttgart 1966.
  • Tänzer, Aron, Die Geschichte der Juden in Württemberg, Frankfurt 1937.
  • Tänzer, Paul, Die Rechtsgeschichte der Juden in Württemberg 1806-1828, Stuttgart 1922.
  • Weber, Ottmar, Die Entwicklung der Judenemanzipation in Württemberg bis zum Judengesetz von 1828, Stuttgart 1940.

Zitierhinweis: Stefan Lang, Gleichstellung in Württemberg, in: Jüdisches Leben im Südwesten, URL: […], Stand: 03.09.2021.

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