Dialekt heute: dem Untergang geweiht?

Von Rudolf Bühler

Mundartbühne
Ein selbstbewusster Umgang mit Mundarten: Die Stuttgarter Mundart-Bühne, 1977 [Quelle: Hauptstaatsarchiv Stuttgart J 153 Nr 930, 1 Plakat/ J 153 Nr 930, 1]

Unser heutiges Verständnis über den Dialekt ist sicher auch durch die Art seiner Darstellung in den modernen Massenmedien beeinflusst. In den regionalen Programmen des Fernsehens und des Rundfunks wird die Mundart auf eine bestimmte Nische reduziert, sie findet meist nur auf der Bühne statt, in der Comedy, im Kabarett, an der Fastnacht. Und im „Tatort“. Hier darf manchmal die Nebenrolle, als Sidekick sozusagen, etwas Lokalkolorit in die Sendung streuen und ein bisschen Schwäbisch, Pfälzisch oder Fränkisch zu Gehör bringen. Neben dem sozialen Stigma schwingt hier eine weitere verbreitete Ansicht mit: Unsere gesprochene Sprache sei rückständig, nicht zukunftsfähig, dem Untergang geweiht.

Wer intensiv Untersuchungen zu den Mundarten in Baden-Württemberg durchführt, begegnet wahrscheinlich regelmäßig der Befürchtung, dass der Dialekt nun bald und unwiderruflich aus der alltäglichen Kommunikation verschwinde. Die Vorstellung davon, dass unsere gesprochene Sprache dem Untergang entgegeneile, sterbe oder sich auf andere unumkehrbare Weise aus der Welt verabschiede, ist nicht neu. Bereits in der Mitte des 19. Jahrhunderts sorgte der verstärkte Bau von Eisenbahnstrecken im damaligen Deutschen Bund für keine guten Hoffnungen über die Zukunft der Mundarten. Die gestiegene Mobilität der Bevölkerung, so die Prognose, werde zu einer Entwurzelung der Menschen und zum Verlust ihrer regionalen Idiome führen. Die spätere Reichsgründung war Auslöser für die Sorge, dass der politischen nun auch eine sprachliche Vereinheitlichung folgen würde. Die Errichtung des Deutschen Kaiserreiches und die damit verbundene allgemeine Schulpflicht hatten zwar den Einzug der Hochsprache in viele Bereiche der Administration und des sozialen Lebens bestimmter Bevölkerungsgruppen zur Folge, und die auf dem Land lebende Mehrheit der Bevölkerung konnte durchaus von den technischen Neuerungen der Jahrhundertwende profitieren. Sprachlich wurden jedoch die modernen Gerätschaften und mechanischen Apparate wie Putzmühlen, Windfegen, Dresch- und Zugmaschinen, die seither in der Landwirtschaft großflächig Einzug fanden, lautlich wie lexikalisch den mundartlichen Vorgaben der jeweiligen Region ganz gut angepasst. Neuerungen wie die Kartoffel, die Gartenerdbeere oder das zur Konservierung eingekochte Obst lieferten im Gebiet des heutigen Baden-Württemberg zu ihrer Zeit ebenso neue Begriffe für den dialektalen Sprachgebrauch wie es heute die G’friere (Gefriertruhe), die Speis (Speisekammer), der Hahnen (Wasserhahn), das Vesper (Zwischenmahlzeit/kaltes Abendessen), Göckele (Brathähnchen), Mäpple (Federmäppchen) und süße Stückle (süße Gebäckstücke) in der zeitgenössischen Umgangssprache tun. Und im Zeitalter der Digitalisierung hat es der Dialekt auch in die zahlreichen Chatforen des Internets geschafft sowie in die besonders bei der jüngeren Generation beliebten Kommunikations-Apps.

Wenn also bei aller Befürchtung, der Dialekt werde ausstreben, unsere gesprochene Sprache so produktiv ist, und ihr bis in heutige Tage auch der Sprung ins digitale Kommunikationszeitalter gelungen scheint, woher droht dann tatsächlich Gefahr? Ein Grund ist sicher, dass heute ein großer Teil unserer Kommunikation in einer schriftlichen Form stattfindet, in der man angehalten ist, sich möglichst der Hochsprache zu bedienen. Oft wird dabei jedoch übersehen, dass es auch in der Hochsprache Lautungen, Formen und Begriffe gibt, die gleichwertig verwendet werden dürfen. Es ergibt sich bei diesen Varianten häufig eine Nord-Süd-Verteilung innerhalb des Sprachgebiets in Deutschland. Vermutlich ist es kein besonders großer Vorteil für die Dialekte in Baden-Württemberg, wenn auch bei den süddeutschen Dialektsprecherinnen und -sprechern die Meinung verbreitet ist, die norddeutsche Variante sei stets die „richtigere“. „Hannoverismus“, wie man diese Vorstellung in der Forschung nennt, im Norden spreche man das „beste“ Deutsch, oder „Standardismus“, wie die Überzeugung bezeichnet wird, es gebe stets nur eine einzige richtige sprachliche Form - diese Unsicherheiten in Bezug auf die eigene im Schriftlichen gebrauchte Varietät kann sich nun auch auf die Alltagssprache übertragen. Beim regelmäßigen Kontakt mit Sprecherinnen und Sprechern anderer Dialekte oder der Standardsprache kommt es schließlich zu einer häufigeren Verwendung einer regionalsprachlichen Varietät. Eine wichtige soziale Funktion des Dialekts, die in der Alltagssprache Anwendung findet, kann hierbei allerdings verloren gehen. Die Mundart ist – nicht nur im ländlichen Raum – wichtig zur Herstellung von Nähe und Vertrautheit. In den letzten Jahren haben sich einige Werbekampagnen von Unternehmen, die sich im Südwesten beheimatet fühlen, diesen Aspekt zunutze gemacht und gezielt mit dialektal gefärbten Slogans oder mit Hinweis auf die eigene Dialektkompetenz für ihr regionales Engagement und um das Vertrauen bei den Kunden geworben.

Besonders im ländlichen Raum können sich unter bestimmten Voraussetzungen starke Dialektmerkmale auch unter Angehörigen der jüngeren Generation halten. Die Beispiele für stabilen Dialektgebrauch im Land sind zahlreich und beschränken sich nicht nur auf eine bestimmte Region. Das sogenannte „Hausch-Mausch-Gebiet“ im Norden des Landes am Übergang zwischen Süd-, Ost- und Unterfränkisch, in dem die alten westgermanischen s-Lautungen in Wörtern wie Haus, Maus, Eis, Gans, Käse oder Glas als sch ausgesprochen werden, ist seit Beginn der detaillierten Mundartforschung vor etwa 150 Jahren praktisch unverändert. Die Verwendung des ach-Lautes nach den vorderen Vokalen i, e, ä am südlichen Oberrhein auch bei jungen Erwachsenen ist ein Beleg dafür, wie sich die Identifikation mit der eigenen Region und die Loyalität zur überlieferten Sprache gegenseitig bestärken und ergänzen können. Zwischen Ostalbkreis und dem Landkreis Schwäbisch Hall besteht eine stabile Dialektgrenze, an der sich zwei Mundarträume, die ihren Dialekt als Marke tragen, mit starkem Selbstbewusstsein und hohem Prestige gegenüberstehen.

Und doch hat es der Dialekt in der Alltagssprache schwer. Es sind nun diese vier Aspekte – der Unterschied zwischen Stadt und Land, eine weiter gestiegene Mobilität der Dialektsprecherinnen und -sprecher, vermehrter Sprachkontakt und das verhaltene Selbstvertrauen in die eigene sprachliche Kompetenz – welche die baden-württembergische Landesregierung im April 2019 in einer Stellungnahme zu einem fraktionsübergreifenden Antrag vor dem Landtag zu der Feststellung veranlasste, dass die Mundarten unseres Bundeslandes schützenswert seien.

Dem fehlenden Selbstvertrauen der Sprecherinnen und Sprecher kann von der öffentlichen Hand zumindest die Gewissheit vermittelt werden, dass ihre Alltagssprache wertgeschätzt und als zugehörig zu ihrer eigenen Identität erachtet wird. Die Schule kann als Ort der Bildung nicht nur vom Gebrauch des Dialekts abraten, sondern auch Vorteile vermitteln, die Dialektsprecherinnen und -sprecher durch die Möglichkeit besitzen, ihre Varietät situativ wählen zu können. Letztendlich muss das Bewusstsein dafür aus der Mitte der Gesellschaft kommen. So können es auch medial präsente gesellschaftliche Vorbilder aus dem Bereich des Sports oder der Politik sein, die ganz selbstbewusst und selbstverständlich mit ihrem Dialektsprechen umzugehen wissen. Ein stärkeres gegenseitiges Verstehen-Wollen und Verstanden-Werden-Wollen aller Gruppen im Land würde unsere Kommunikationskultur nicht nur beleben, sondern auch bei der Überwindung scheinbarer Verständnisbarrieren helfen. Es müsste im Fernsehen nicht mehr gleich jede Person untertitelt werden, die sich in regionaler Umgangssprache äußert. Damit wäre es den Mundarten auch möglich, im öffentlichen Diskurs ihre Nische als Bühnen- und Kunstsprache zu verlassen. Zumindest im medialen Umgang wären sie wieder auf dem Wege, wertgeschätzt zu werden. Damit wären Mundart, Dialekt und regionale Umgangssprache erwartbare und akzeptierte Sprachstufen unserer Kommunikation und Teil der Alltagssprache im Südwesten. So müssen uns auch im Südwesten die Mundarten nicht trennen, sondern sollten im Sinne einer pluralistischen Gesellschaft eine Einheit bilden, „deren Charakteristikum die Vielfalt ist“, wie es der Tübinger Kulturwissenschaftler Hermann Bausinger in seinem Buch „Der herbe Charme des Landes. Gedanken über Baden-Württemberg“ formuliert hat.

Literatur

  • Bausinger, Hermann, Der herbe Charme des Landes. Gedanken über Baden-Württemberg. (4. Auflage), Tübingen 2011.
  • Bühler, Rudolf/Klausmann, Hubert/Nast, Mirjam (Hrsg.), Schule - Medien - Öffentlichkeit. Sprachalltag und dialektale Praktiken aus linguistischer und kulturwissenschaftlicher Perspektive [Untersuchungen des Ludwig-Uhland-Instituts für Empirische Kulturwissenschaft, 124], Tübingen 2020.

 

Zitierhinweis: Rudolf Bühler, Dialekt heute: dem Untergang geweiht?, in: Alltagskultur, URL: […], Stand: 08.08.2020

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