Die "gute Stube"

Von Frank Lang, Museum der Alltagskultur

Das Schlafzimmer der Gayers
Die „gute Stube“ der Familie Gayer in der virtuellen Rekonstruktion [Quelle: Heiko Stachel]

War die Stube in Bauernhäusern früher der Hauptaufenthaltsraum und gleichzeitig der Ort für häusliche Arbeit gewesen, so änderte sich das allmählich nach der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Man übernahm bürgerliche Wohnvorstellungen. So auch die Familie Gayer: Die Wohnstube wurde zur „guten Stube“ und mit Sitzmöglichkeiten, einem Ofen und Sekretär sowie einem Buffetschrank für das feine Geschirr ausgestattet.

Die Stube der Familie Gayer war lange Zeit ein mit vielerlei Aktivitäten erfüllter Raum gewesen, sie war Mittelpunkt des täglichen Lebens, vor allem am Abend. Dort wurde im Familienkreis, oft auch mit den Nachbarn zusammen, gearbeitet. Man hatte zu flicken, Wolle zu spinnen oder auch die geernteten Tabakblätter aufzufädeln. Letzteres war eine in den nordwürttembergischen Tabakanbaugebieten, in denen die Gayers wohnten, typische Tätigkeit in den Abendstunden. Nach der Ernte wurden die Tabakblätter büschelweise auf Bindfänden aufgefädelt, um sie dann zum Trocknen aufzuhängen.

Ende der 20er-Jahre waren die alten Bretterfußböden durch das Putzen mit dem Sand uneben geworden und damit in den Augen der Bewohner unansehnlich. Sie wurden durch einen Riemenfußboden aus Lärchenholz ersetzt. Sichtbare Deckenbalken wurden verputzt. Auch sonst gab es Neuerungen. Nicht etwa, weil die Familie plötzlich zu Reichtum gelangt wäre: Den „neuen“ Ofen erstand sie „gebraucht“ auf einer Auktion und die Wandvertäfelung konnte sie vergünstigt von einem Sägewerk als Werbemuster beziehen.

So unbewohnt, wie die „gute Stube“ zu sehen ist, war sie nach den 20er-Jahren fast immer. Im Winter wurde sie kaum mehr beheizt, im Sommer diente der gusseiserne Ofen als Kühlschrank. Gegessen, gearbeitet und gelebt wurde fortan in der Küche. Nur noch bei großen Festen wie Weihnachten, an Geburtstagen und bei „hohem“ Besuch kam für kurze Zeit wieder Leben in die Stube.

Anfang der 70er-Jahre erfuhr die Stube durch eine Sitzbank eine Aufwertung: Die Tochter von Frau Gayer, die mit einem ganz anderen, immensen Warenangebot groß geworden war, hatte für ihre eigene Küche 1964 eine gepolsterte Eckbank beim Versandhaus erworben. Doch nach wenigen Jahren waren die Polster unansehnlich geworden. Sie wurden mit Kunststoff überzogen, aber trotz dieser Reparatur landete die Bank bald im Abstellraum; der Polsterer hatte die Ecken nicht exakt genug gearbeitet. Erst Jahre später kam die Tochter auf die Idee, das ausrangierte Möbelstück bei ihren Eltern in die Stube zu stellen, wo bisher noch eine einfache Holzbank gestanden hatte. Für die Eltern bedeute das eine Verbesserung gegenüber der hölzernen Sitzbank.

 

Zitierhinweis: Frank Lang, Die "gute Stube" der Familie Gayer, in: Alltagskultur im Südwesten, URL: […], Stand: 19.11.2020

Der Text stammt im Wesentlichen aus der Publikation „Museum für Volkskultur in Württemberg. Themen und Texte Teil 1. Stuttgart 1989/90“.

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