Kinderfeste
Von Felix Teuchert
Im 19. Jahrhundert verbreitete sich an vielen Orten die Tradition des Kinder- und Heimatfestes. Die Ursachen dafür sind wohl vielfältiger Natur: Zum einen wurde die Kindheit zunehmend als eine eigene Lebensphase entdeckt, die von der Jugend- und Erwachsenenzeit zu unterscheiden und entsprechend zu gestalten war durch Bildung und Erziehung, aber auch durch Spiel und Freiräume. Zum anderen gab es traditionsreiche Kinderfeste mit einer langen Tradition wie in Biberach oder Ravensburg, die mit der Verbesserung von Kommunikation und Transport einen immer höheren Bekanntheitsgrad erreichten und in anderen Orten nachgeahmt wurden. In der kleinen Stadt Laupheim beispielsweise verbreitete sich 1876 die Kunde von einem „großartigen Kinderfest“ in Waldsee, was die Forderung aufkommen ließ, auch in Laupheim ein Kinderfest abzuhalten. Viele dieser im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert entstandenen Kinderfeste waren als „Kinder- und Heimatfeste“ gedacht; sollten also nicht nur exklusiv Kinder und Jugendliche ansprechen, sondern von der gesamten Stadtbevölkerung begangen werden, um die regionale oder kommunale Verbundenheit und Identität zu stärken, regionalen Besonderheiten einen Ausdruck zu verleihen und an stadt- oder regionalgeschichtliche Ereignisse zu erinnern. Vor allem sollten die Tradition und überliefertes Brauchtum auf diese Weise der nachfolgenden Generation vermittelt und über den Wechsel der Generationen hinaus bewahrt werden. Kinder und Jugendliche erhielten im Rahmen dieser Stadt- oder Heimatfeste eigene Programmpunkte oder bestritten Wettkämpfe oder Aufführungen, die von der gesamten Stadtbevölkerung bewundert werden konnten.
Das Kinderfest in Sindelfingen (1928)
Eines der traditionsreichen Ereignisse im Jahreslauf der Stadt Sindelfingen ist der sogenannte Kuchenritt, der ein in Sindelfingen praktiziertes traditionsreiches Volksfest ist. Der Kuchenritt geht der Legende nach auf Herzog Ulrich von Württemberg zurück. Der Sage nach empfingen die Sindelfinger den aus der Verbannung zurückkehrenden Herzog mit 26 Reiswagen. Nach einer anderen Legende sei der im Wald verirrte Herzog von Sindelfinger Burschen aufgefunden worden. Aus Dankbarkeit hierüber habe der Herzog den Kuchenritt gestiftet, der im Gemeindeprotokoll von 1658 erstmals schriftlich belegt ist. Nach einer anderen Deutung geht der Kuchenritt auf einen Ritt der Müllerburschen zu den außerhalb der Stadt gelegenen Mühlen zurück, um von dort einen Kuchen mitzubringen und der Obrigkeit zu übergeben – ein symbolischer Ausdruck der Abgabepflicht. Eine Aktennotiz von 1778 gibt immerhin Aufschluss über den Ablauf des Kuchenritts: „Allhier zu Sindelfingen ist es schon mehrere Jahre observenmäßig, daß die leedige Pursche von drei hiesigen Müllern alljährlich am Pfingstdienstag einen sogenannten Mühlkuchen erhalten, solchen mit vielen nichts bedeutenden Feyerlichkeiten in jeder Mühle […] zu Pferde abholen, sofort sich an einem bestimmten Platz versammeln und mit einander um die Wette reuten und dann die Kuchen in den Wirtshäusern beim Schmausen und Tanzen verzehren.“ Im Laufe der Zeit entwickelte sich der Kuchenritt zu einem groß angelegten Volksfest, zu welchem auch ein Kinderfest gehörte. Bestandteil war auch ein Festzug, der von den städtischen Vereinen und Schulen mit allerlei originellen Kostümen bestritten wird. In den 80er-Jahren wurde die Tradition des Kuchenritts aufgegeben, im Jahr 2013 aber wiederbelebt. 2017 beteiligten sich rund 800 bunt gekleidete Grundschüler an dem Fest, zogen nebst historisch kostümierten Reitern ins Stadion ein und überbrachtem dem Oberbürgermeister lokalspezifische Gaben. Dafür erhielten die Schulen wiederum Körbe mit Laugenkringeln sowie Geld, das in verschiedene Projekte fließen soll. Vermutlich steht auch der überwiegend von Kindern und Jugendlichen bestrittene Festzug, der im Filmausschnitt von 1928 zu sehen ist, im Zusammenhang mit dem Kuchenritt.
Das Kinderfest in Schwenningen (1955)
Diese kurze Filmsequenz – innerhalb der Filmsammlung einer der wenigen Farbfilme – zeigt einen Kinderumzug in der Stadt Schwenningen. Die Kinder sind größtenteils verkleidet, beispielsweise als Marienkäfer, Schmetterlinge oder andere Tiere und Pflanzen. Viele der Kinder tragen Blumenkörbe, Blumengestecke, bunte Fahnen oder Laternen. Bei diesem sommerlichen Kinderfest, das am 2. Juli 1955 stattfand, handelt es sich um das erste Kinderfest in Schwenningen. Die Tradition der Kinderfeste, die sich in vielen Orten im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert ausbreitete, scheint sich in Schwenningen erst in der Nachkriegszeit durchgesetzt zu haben. In dieser Zeit war die unmittelbare Nachkriegsnot bereits überwunden und das sogenannte Wirtschaftswunder im vollen Gange. Der Alltag konsolidierte sich; Konsum und Freizeit kam nach der entbehrungsreichen Zeit ein wachsender Stellenwert zu, was auch in solchen Festen wie dem Schwenninger Kinderfest von 1955 einen Niederschlag fand. Was genau der Anlass für dieses Fest war und wer es initiierte, ist allerdings nicht bekannt. Das zweite Schwenninger Kinderfest, das im Juli 1957 stattfand, wurde anlässlich des Jubiläums „50 Jahre Stadt Schwenningen“ veranstaltet. Schwenningen wurde 1907 zur Stadt erhoben, nachdem die Einwohnerzahl Schwenningens die 10.000 überstiegen hatte und die württembergische Gemeindeordnung vorsah, dass alle Gemeinden mit einer Einwohnerzahl von über 10.000 zur mittleren Stadt erklärt werden sollten. Bis dahin war Schwenningen, das für seine Uhrenindustrie und Feinmechanik bekannt geworden war, das größte Dorf in Württemberg. Die Aufnahmen von 1957 zeigen einen Kinderumzug mit farbenträchtigen Kostümen, Mottowagen, Musikkapellen, aufsteigenden Luftballons sowie Kinder beim Essen und Trinken und beim Einlösen von Losen.
Literatur
- Vogt, Friedrich E., Volkskultur, in: Heeb, Reiner (Hg.): Der Kreis Böblingen, Stuttgart 1983, S. 172-181.
- Bumiller, Casimir (Hg.), Geschichte der Stadt Villingen-Schwenningen. Bd. 2: Der Weg in die Moderne, Villingen-Schwenningen 2017.
Zitierhinweis: Felix Teuchert, Kinderfeste, in: Alltagskultur im Südwesten, URL: […], Stand: 19.11.2020