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Purim in Gailingen - Berty Friesländer-Bloch berichtet

Gailingen auf der Badischen Gemarkungskarte, 1877/79, oben der jüdische Friedhof, Quelle: Landesarchiv BW, GLAK H-1 Nr. 528 1877

Gailingen auf der Badischen Gemarkungskarte, 1877/79, oben der jüdische Friedhof, Quelle: Landesarchiv BW, GLAK H-1 Nr. 528 1877

An diesem Wochenende wird in den jüdischen Gemeinden Purim gefeiert. Einen fast legendären Ruf hatte das Fest in Gailingen am Hochrhein, wo sich vor der Zeit des Nationalsozialismus eine der größten jüdischen Landgemeinden des Südwestens befand. Hier wurde 1896 Berta – Berty – Bloch geboren, die in den 1920er Jahren als Journalistin für verschiedene Zeitungen arbeitete. Als Autorin verfasste sie Texte über das jüdische Leben in ihrem Umfeld. Ihre besondere Liebe gehörte, schon seit der Kinderzeit, der Kleinkunstbühne. In deren Mittelpunkt stand der „Musikalisch-dramatischen Verein Juno“, dem sie angehörte. Mit unzählige Stücken humoristisch-musikalischen Inhalts, Liedern, Couplets, Glossen und Sangesgeschichten konnte sie ein wachsendes Publikum gewinnen. Rückblickend schrieb sie über das in ihrem Heimatort gepflegte kulturelle und gesellschaftliche Leben:

„Man gründete gemeinsame [jüdisch-christliche] Theatervereine […] Selbst die Tanzstunden wurden gemeinsam besucht sowie die weitherum bekannten einzigartig schönen jüdischen Bälle und sonstigen Veranstaltungen aller Art, wobei besonders der jüdische Purim (Fasching) mit seinen Umzügen und seinem urwüchsigen Humor und Mummenschanz nicht zu überbieten war. Von weit herum, auch aus der Schweiz, waren jeweils die Schaulustigen herbeigeeilt, um zu schauen, mitzuerleben und mitzumachen. Es ist nicht zu viel gesagt, wenn man den damaligen Gailinger Purim etwa mit der Basler Fasnacht, noch mehr aber mit dem Kölner Karneval vergleicht. Der Mummenschanz begann schon vier Wochen vor dem kalendarischen Zeitpunkt und alt und jung beteiligte sich daran. Über all diese Schilderungen aus meiner ehemaligen Heimatgemeinde habe ich verschiedene Büchlein und Chroniken herausgegeben, teilweise in Form von Lustspielen und Sketchen, die ich unter eigener Regie und Mitwirkung stets zur erfolgreichen Aufführung brachte. Um nur einige wenige davon zu nennen: „Ein Donnerstagmorgen vor der Metzg”, „In der jüdischen Rasierstube”, […] „Aren errsch Dich“ (Aron Du irrst Dich) Dann die Chroniken: „Die Megille der einstigen Gailinger-Kehille“ und „4 Woche lang vor Purem“."

„Kehille“ steht für die jüdische Gemeinde Kehillah. „Megille“ ist die Estherrolle, Megillat Esther, in der es um Purim und Auslegungen der Esthergeschichte geht.

1933 hatte Berty Bloch den Kaufmann Moses Friesländer geheiratet. Pläne zur Auswanderung nach Palästina scheiterten an den Kosten. Der Ehemann, der schon 1937 verhaftet und 1940 gemeinsam mit seiner Familie in die Pyrenäen deportiert wurde, starb 1941 in Rivesaltes. Berty und dem gemeinsamen Sohn, der 1937 geboren worden war, gelang nacheinander die Flucht. Es folgten Jahre der Internierung in der Schweiz und schließlich das dortige Bleibe- und Bürgerrecht. Nach dem Zweiten Weltkrieg konnte Berty Friesländer-Bloch nicht mehr an ihre früheren Bühnenerfolge anknüpfen. Stattdessen publizierte sie und hielt Vorträge über aktuelle politische Themen, Frieden und Völkerverständigung. Besonders lag ihr die Erinnerung an die Gailinger Juden am Herzen. So beschäftigte sie sich unter anderem mit der jiddischen Mundartforschung. Ihre Werke sind heute vor allem als Dokumentation des alemannischen Judentums, seines Alltags und seiner Sprache bedeutsam. Berty Friesländer-Bloch starb 1993 in hohem Alter in Gossau bei St. Gallen.

Zum Weiterlesen:

  • Die Biografie von Manfred Bosch in: Baden-Württembergische Biographien IV, hg. von Fred Ludwig Sepaintner im Auftrag der Kommission für geschichtlicher Landeskunde BW, Stuttgart 2007, S. 86-88 (nur als Printversion)
  • Eine Übersicht zu den Werken von Berty Friesländer-Bloch finden Sie auf LEO-BW
  • Das Zitat im Text stammt aus folgendem Beitrag von Berty Friesländer-Bloch: Jiskor – zu deutsch: „Zum Gedenken an Gailingen“, in: Hegau. Zeitschrift für Geschichte, Volkskunde und Naturgeschichte des Gebietes zwischen Rhein, Donau und Bodensee 27/28 (1970/71), S. 450 – 453 (online als PDF)
  • Mehr über Purim in Gailingen sowie weiterführende Links finden Sie im Themenmodul Jüdisches Leben auf LEO-BW 
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