Über das Projekt
Von Robert Kretzschmar und Christian Keitel
Was ist das Besondere an Urfehden? Welche Auswertungsmöglichkeiten bieten Entnazifizierungsakten? Was sollte bei der Nutzung von handgezeichneten Karten, was bei digitalen Geodaten bedacht werden? Nach der Vorlage der Archivalien im Lesesaal des Archivs oder bei der Ansicht der Digitalisate am Bildschirm können sich viele Fragen stellen. Einige von ihnen sollen nun in der Südwestdeutschen Archivalienkunde beantwortet werden. Sie beschreibt einzelne Archivaliengattungen und Quellentypen vom Frühmittelalter bis in die unmittelbare Gegenwart[1] und bezieht sich dabei auf den südwestdeutschen Raum in seinen historischen Dimensionen. Um möglichst nahe an den nachweisbaren Beständen bleiben zu können, konzentrieren sich die Beiträge nicht ausschließlich, aber vorrangig auf Überlieferungen in baden-württembergischen Archiven.
Dieses Modul soll nachhaltig der kollaborativen Fortschreibung der Archivalienkunde dienen und eine Struktur für die Ergebnissicherung darstellen, auf die überörtlich in der Lehre zurückgegriffen werden kann. Es soll den Austausch zwischen Archiven und historischer Forschung wie auch innerhalb der Forschung erleichtern und die Lehre instrumental unterstützen. Hier sind perspektivisch gute Bedingungen für Verknüpfungen mit anderen quellenkundlichen Angeboten gegeben, vor allem der Museen und Bibliotheken. Verlinkungen aus LEO-BW in das Online-Findmittelsystem des Landesarchivs bieten Zugänge zu digitalen Beständeübersichten und Findmitteln und verbinden Erschließungsdaten und Archivgut mit quellenkundlichen Informationen. Die Zielgruppen der Südwestdeutschen Archivalienkunde sind „jeder und jede Interessierte“ und „alle Nutzerinnen und Nutzer von Archiven“. Die Artikel sollen dementsprechend wissenschaftliche Anforderungen erfüllen, aber zugleich konzise und gut lesbar verfasst sein. Sie sollen sich nicht im Detail verlieren, sondern zur Vertiefung weiterführende Hinweise geben. Zentrale Punkte der Artikel sind die Definition der Unterlagen, ihre Genese im Entstehungskontext, der Quellenwert und ihre Auswertungsmöglichkeiten.
Da sich das Modul an alle Interessierten und damit auch an solche ohne Vorkenntnisse richtet, besteht eine wichtige Funktion auch darin, durch Verlinkungen grundwissenschaftliche Angebote im Netz zusammenzuführen, um sie bekannt und über eine „Einstiegsseite“ zugänglich zu machen.
Zur Förderung des Dialogs sind interaktive Funktionen wichtige Elemente des Angebots, denn jede Anmerkung, Anregung und Ergänzung ist willkommen. Das Modul soll zum Diskurs anregen.
Für über 200 der mehr als 260 Artikel, die derzeit vorgesehen sind, haben sich bereits viele Autorinnen und Autoren gefunden. Die Beitragenden stammen zum größeren Teil aus dem Archivwesen, aber auch aus der Forschung und anderen Institutionen wie Schulen, Museen und Bibliotheken stammen. Gerade auch für jüngere und jüngste Überlieferungen bis in die Gegenwart ließen sich viele Verfasser aus den verschiedenen Archivsparten gewinnen.
Schon durch die breite und vielfältige Zusammensetzung der Beteiligten wird das Ziel erreicht, der Archivalienkunde neue Beachtung und Wertschätzung zu verschaffen, ihre Fortentwicklung bis in das Digitale Zeitalter kollaborativ zu realisieren und mit dem epochenübergreifenden Projekt einen konkreten Beitrag zur Stärkung der Historischen Grundwissenschaften zu leisten. Durch die Überschreitung der Zeit- und Mediengrenzen soll ein neuer Bezugsrahmen für die übergreifende Betrachtung entstehen, der forschungshemmende Fächergrenzen aufbricht. Die gezielte Nutzung des fachspezifischen Wissens von Archivarinnen und Archivaren für die Quellenkunde sowie der Erfahrungen, die Historikerinnen und Historiker bei der Auswertung von Archivalien gewonnen haben, führt beide Welten wieder zusammen und stärkt den Dialog. Zugleich erfolgt eine breite Adressierung potentiell Interessierter jenseits der Forschung mit Möglichkeiten der Partizipation. Das übergeordnete Ziel der Südwestdeutschen Archivalienkunde besteht bei all dem gerade nicht darin, abschließend und quasi dogmatisch ein neues Gerüst für die Kategorisierung und Beschreibung einzelner archivalischer Quellen vorzulegen. Angeregt werden sollen vielmehr die Diskussion und eine mehrdimensionale Sicht auf Archivgut.
Aufgebaut wurde das Modul im Rahmen eines Projekts,[2] das von Oktober 2016 bis März 2018 unter der Federführung des Landesarchivs Baden-Württemberg in Zusammenarbeit mit dem Institut für Geschichtliche Landeskunde und Historische Hilfswissenschaften an der Universität Tübingen durchgeführt und vom Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg im Rahmen der „Landesinitiative Kleine Fächer“ gefördert wurde. Letztere soll der Stärkung „strukturprekärer“ Disziplinen dienen, zu denen auch die Historischen Grundwissenschaften gerechnet werden. Die „aktuelle Relevanz“ des Vorhabens konnte im Projektantrag „mit der bundesweit prekären Situation der traditionellen Historischen Grundwissenschaften“ begründet werden, „die mit ihrer […] Fokussierung auf das Mittelalter und die Frühe Neuzeit bei der historischen Forschung vor dem Hintergrund vielfältigster neuer Fragestellungen und Methoden während der zurückliegenden Jahrzehnte an Resonanz verloren haben und deren Lehrstühle in der Folge an den Hochschulen abgebaut wurden.“ Verwiesen werden konnte dazu auf den 2015 erfolgten Aufruf im VHD-Journal „Quellenkritik im digitalen Zeitalter. Die Historischen Grundwissenschaften als zentrale Kompetenz der Geschichtswissenschaft und benachbarter Fächer“ von Eva Schlotheuber und Frank Bösch und die breite Diskussion darüber in HSozKult.[3]
Anmerkungen
[1] Vgl. auch Aurast/Keitel/Kretzschmar/Neuburger, „Südwestdeutsche Archivalienkunde“ sowie demnächst Kretzschmar, Archivalische Quellenkunde.
[2] Die Projektleitung lag bei Robert Kretzschmar und Christian Keitel. Koordinierende Aufgaben und die Redaktion der Beiträge lagen in den Händen von Anna Aurast als Projektbearbeiterin. Die Einbindung in LEO-BW hat Andreas Neuburger in Zusammenarbeit mit Daniel Fähle und Wolfgang Krauth umgesetzt.
[3] http://www.hsozkult.de/debate/id/diskussionen-2866 (28.11.2017)
Literatur
- Aurast, Anna/Keitel, Christian/Kretzschmar, Robert/Neuburger, Andreas, „Südwestdeutsche Archivalienkunde“ – ein neues Angebot in LEO-BW zur Stärkung der Historischen Grundwissenschaften, in: Archivar 71 (2018), Heft 1 (im Druck).
- Keitel, Christian, Vorschläge zur gemeinsamen Klassifikation konventioneller und digitaler Archivalien, in: Moderne Aktenkunde, hg. von Holger Berwinkel/Robert Kretzschmar/Karsten Uhde (Veröffentlichungen der Archivschule Marburg. Hochschule für Archivwissenschaft 64), Marburg 2016, S. 131–144.
- Kretzschmar, Robert, Archivalische Quellenkunde im frühen 21. Jahrhundert. Ein „Kleines Fach“ mit potentiell großer Wirkung (erscheint Anfang 2018 in einem Tagungsband des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung).
- Quellenkunde der Habsburgermonarchie (16. – 18. Jahrhundert). Ein exemplarisches Handbuch, hg. von Josef Pauser/Martin Scheutz/Thomas Winkelbauer (MIÖG Ergänzungsband 44), Wien/München 2004.
- Quellenkunde zur westfälischen Geschichte vor 1800. Online-Ausgabe, Stand: März 2016, hg. von Stefan Pätzold/Wilfried Reininghaus (Materialien der Historischen Kommission für Westfalen 6).
- Papritz, Johannes, Archivwissenschaft, Bd. 1, Marburg 1998.
- Schellenberg, Theodore R., The Appraisal von Modern Records, in: Bulletins of the National Archives 8 (1956), S. 233–278.
- Schellenberg, Theodore R., Die Bewertung modernen Verwaltungsschriftguts. Übersetzt und hg. von Angelika Menne-Haritz (Veröffentlichungen der Archivschule Marburg 17), Marburg 1990.
- Serielle Quellen in südwestdeutschen Archiven, hg. von Christian Keitel/Regina Keyler, Stuttgart 2005.
- Unbekannte Quellen: „Massenakten“ des 20. Jahrhunderts. Untersuchungen seriellen Schriftguts aus normierten Verwaltungsunterlagen, hg. von Jens Heckl, 3 Bde. (Veröffentlichungen des Landesarchivs Nordrhein-Westfalen 32, 43, 55), Düsseldorf 2010–2012, Duisburg 2015.
Zitierhinweis: Robert Kretzschmar, Christian Keitel, Über das Projekt, in: Südwestdeutsche Archivalienkunde, URL: […], Stand: 16.11.2017