Herzger von Harlessem, Gertraud Mathilde Karoline 

Geburtsdatum/-ort: 04.08.1908; Bremen
Sterbedatum/-ort: 24.07.1989;  Überlingen
Beruf/Funktion:
  • Malerin
Kurzbiografie:

1928 Abitur am Gymnasium in Bremen, Bewerbung an der Vereinigten Staatsschule für Freie und Angewandte Kunst in Berlin-Charlottenburg

1928–1929 Studium der Malerei und Plastik bei Professor Robert Erdmann in Berlin-Charlottenburg

1929–1930 Ausbildung an der Johannes-Itten-Schule in Berlin

1930–1933 Ausbildung an der Kunstgewerbeschule Burg Giebichenstein in Halle (Saale) und Bekanntschaft mit Walter Herzger

1933–1934 in Dresden bei den Eltern

1935–1936 in Bremen, Bürotätigkeit in der Otto Mielck Handelsgesellschaft

1936–1937 Aufsichtsdame in den Ausstellungen des Paula Modersohn-Becker-Museums Böttcherstrasse und als Organisatorin bei der Bremer Werkschau GmbH

1938–1939 Studienaufenthalte in Palinuro bei Neapel und am Bodensee, Reisen nach Florenz, Rom und Ischia gemeinsam mit Walter Herzger

1940 Rückkehr nach Bremen und Heirat

1941 wohnhaft in Bad Pyrmont

1942 Übersiedlung nach Öhningen auf der Halbinsel Höri am Bodensee

1951–1957 Arbeit in der Nähmaschinenfabrik Bernina in Steckborn, Schweiz

1958 Reise nach Pisa, Rom, Neapel, Centola und Palinuro; während der Professur von Walter Herzger ab 1958 zeitweise in Karlsruhe lebend

1963 Hausbau in Gaienhofen

1963–1985 Regelmäßige Aufenthalte in Südfrankreich bei der Tochter

Weitere Angaben zur Person: Religion: evangelisch
Verheiratet:

1940 (Bremen) Walter Herzger (1901-1985)


Eltern:

Vater: Gryso Ludolf William von Harlessem (1870–1938), Großkaufmann im Tabakgeschäft

Mutter: Antonia Maria Karoline, geb. Danner (1877–1959)


Geschwister:

Griso Hans von Harlessem (1907–1941), Kaufmann


Kinder:

Sabine (geb. 1940)

GND-ID: GND/123003342

Biografie: Andreas Gabelmann (Autor)
Aus: Baden-Württembergische Biographien 7 (2019), 245-247

Werk und Schaffen von Herzger von Harlessem fanden zu Lebzeiten kaum Anerkennung. Spätestens ab 1940 stand sie im Schatten ihres Mannes Walter Herzger, der ihre künstlerische Tätigkeit massiv unterdrückte, so dass sie ihre Malerei nur noch heimlich ausüben konnte. Sie teilte damit das tragische Schicksal zahlreicher Künstlerinnen des 20. Jahrhunderts, die zugunsten von Familie und Ehepartner ihr schöpferisches Tun zurückstellten und sich nur mühsam zu behaupten vermochten.

Herzger von Harlessem führte ein bewegtes Leben mit Stationen in Berlin, Halle, Dresden, Italien, Bremen und auf der Höri am Bodensee. Jahrzehntelang blieb ihr Werk im Verborgenen. Erst 1982 trat sie mit ihren Arbeiten bei einer Ausstellung auf der Höri an die Öffentlichkeit. Dem Betrachter offenbarte sich ein vielfältiges Schaffen zwischen sachlicher Beobachtung und experimentierfreudiger Expressivität, mit dem Herzger von Harlessem einen eigenständigen Anteil an der modernen Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts im deutschen Südwesten gewann.

Herzger von Harlessem wuchs in großbürgerlich-wohlhabenden Verhältnissen musisch-künstlerisch gebildet auf. Mutter und Vater, Mitinhaber der Firma H. F. Ed. Meyer in Bremen und 1912 Gründer der Rohtabaksgesellschaft „Rohta“, waren langjährige Mitglieder im Bremer Kunstverein, die Mutter war mit vielen Künstlern, darunter den Malern Adolf Linné (1876–1929) und Georg Rohde (1874–1959), eng befreundet. Die Eltern förderten die künstlerischen Ambitionen ihrer Tochter, 1928 bewarb sich Herzger von Harlessem an der Vereinigten Staatsschule in Berlin, die unter der Leitung von Bruno Paul (1874–1968), mit dem die Mutter bekannt war, einen hervorragenden Ruf genoss.

Durch die Ablehnung ließ sich Herzger von Harlessem nicht entmutigen, blieb in Berlin und trat in das Studienatelier für Malerei und Plastik von Robert Erdmann ein. Schon bald enttäuscht vom allzu akademischen Zwang suchte sie neue Orientierung und meldete sich 1929 zum Unterricht bei Johannes Itten (1888–1967) in dessen Ausbildungsstätte in Berlin an. Aus dieser modernen Gestaltungsund Formenlehre bezog Herzger von Harlessem die entscheidenden Grundlagen für ihr weiteres Schaffen: freie Empfindung und konstruktives Denken unter Berücksichtigung der Eigengesetzlichkeiten von Form und Farbe. Erste Zeichnungen, Gemälde, Holzschnitte und Materialstudien entstanden.

Mit diesem Rüstzeug wechselte Herzger von Harlessem 1930 an die angesehene Kunstgewerbeschule Burg Giebichenstein in Halle, wo ihr gestalterisches Temperament in der Malklasse von Erwin Hahs (1887–1970) einen enormen Aufschwung erlebte. Vor allem in der Technik des Farbholzschnittes, aber auch in Radierungen, Lithographien und Aquarellen gelangte Herzger von Harlessem zu einer außergewöhnlichen Freiheit des Ausdrucks. Dort lernte Herzger von Harlessem auch ihren späteren Ehemann kennen, der die Druckgraphikwerkstatt leitete.

Das NS-Regime unterbrach 1933 jäh die Karriere des jungen Künstlerpaares. Unter dem Druck der neuen Machthaber mussten beide Halle verlassen und standen vor einer ungewissen Zukunft. Herzger von Harlessem ging zunächst nach Dresden, wohin ihr Ehemann folgte, sich dann aber zum Exil in Italien entschloss. Herzger von Harlessem blieb in Deutschland und fand ab 1935 eine Anstellung bei der Bremer Werkschau, wo sie bis 1937 zuerst als Aufsichtsdame, dann als Mitorganisatorin der Ausstellungen im Paula Modersohn-Becker-Museum Böttcherstrasse wirkte. In dieser Zeit führten sie erste Studienfahrten an den Bodensee. 1938 folgte sie Walter Herzger nach Süditalien und lebte mit ihm in Palinuro bei Neapel in der preisgünstigen Wohnung ihrer Worpsweder Freundin, der Malerin Lisel Oppel (1897–1960).

Bei Ausbruch des II. Weltkrieges kehrten beide nach Bremen zurück und heirateten. Im Verlauf der späten 1930er Jahre empfand Walter Herzger das künstlerische Talent seiner Frau zunehmend als Konkurrenz für das eigene Schaffen. Nach Heirat und Geburt der Tochter Sabine untersagte er ihr künstlerisches Arbeiten. Herzger von Harlessems Bilder entstanden fortan im Verborgenen. „Nein, ich habe es nicht akzeptiert, aber ich habe auch nicht offen revoltiert dagegen“ (Interview mit Andrea Hofmann 1988, Abschrift im Nachlass Herzger von Harlessem), äußerte sie später.

Vor der Bombardierung von Bremen wichen Herzger von Harlessem und Tochter 1941 zunächst nach Bad Pyrmont aus, flohen dann aber in die Abgeschiedenheit der Bodenseeregion, wo sie 1942 in Kattenhorn, dann in Öhningen auf der Höri Unterkunft fanden. Es begann eine entbehrungsreiche Zeit, aber Herzger von Harlessem konnte vorübergehend wieder malen. Ab 1946 fand auch der aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekehrte Walter Herzger von Harlessem hier eine neue Heimat. Die kleine Familie richtete sich ein und lebte von 1946 bis 1963 in einem alten, baufälligen Bauernhaus in Hemmenhofen unter bescheidenen Verhältnissen. Nach dem Bau des eigenen Hauses oberhalb von Gaienhofen 1963 waren die Lebensumstände besser. Freundschaftliche, teils enge Kontakte bestanden zu den anderen Künstlern der Höri sowie zu den Malerinnen Ilse Schmitz (1904–1979), Grete Kindermann (1914–1951) und Rosemarie Schnorrenberg (geb. 1926).

Herzger von Harlessems künstlerische Tätigkeit musste sich in dieser Zeit auf das Bemalen von Spanschachteln zum Verkauf beschränken. Zur Grundsicherung der Familie und um ihrem Mann das freie künstlerische Schaffen zu ermöglichen, arbeitete sie bis 1957 sieben Jahre in der Nähmaschinenfabrik Bernina im schweizerischen Steckborn im Akkord am Fließband. Erst als Walter Herzger von Harlessem an der Karlsruher Kunstakademie lehrte, wurde die finanzielle Situation erträglicher. Seit 1963 dank Aufenthalten bei der Tochter in Südfrankreich, hatte Herzger von Harlessem wieder die Möglichkeit zu zeichnen und kleinere Aquarelle und Pastelle zu schaffen.

Im Fokus ihres Werks stand der Mensch: Bildnisse, Darstellungen von Kindern beim Spielen, Menschen bei der Arbeit oder in der Natur. Daneben prägten Landschaftsansichten, Interieurs oder Stillleben ihr motivisches Spektrum. Als Inspiration diente meist die persönliche Lebensumgebung. In ihrer Bildsprache bewegten sich ihre Arbeiten am ehesten im Kontext des Expressiven Realismus.

Der Großteil des Werkes von Herzger von Harlessem entstand in den 1930er Jahren. Kaum jemand auf der Höri wusste von ihrer künstlerischen Tätigkeit: „Wenn Leute zu Besuch kamen, dann hat mein Mann ihnen immer nur die Schachteln gezeigt. Das hat mich schon geärgert“, erinnerte sich Herzger von Harlessem (Interview, 1988). Ohne Kenntnis des inzwischen erkrankten Walter Herzger – „Er hätte das nie akzeptiert“ (ebd.) – beteiligte sich seine Frau 1982 an der Ausstellung „Künstler in Hemmenhofen“ auf der Höri, die zuvor vergessene malerische und druckgraphische Werke wieder ans Licht der Öffentlichkeit brachten. „Ich wäre schon anders vorangekommen, wenn die Unterbrechung nicht so lange gewesen wäre“ (ebd.), bedauerte Herzger von Harlessem ihre schwierigen, von Einschränkungen, Kompromissen und Ungerechtigkeiten bestimmten Schaffensumstände. Doch die wenigen späten, von Licht, Luft und Farbigkeit erfüllten Bilder der 1980er Jahre zeugen von ungebrochener Ausdruckskraft der Künstlerin, die sich letztlich ihren Freiraum wieder erkämpft hatte.

Quellen:

Nachlass in Gaienhofen; A Burg Giebichenstein, Hochschule für Kunst und Design Halle (Saale); PrivatA Sabine Herzger-Verdet, Gaienhofen; StadtA Singen/BildA Kulturamt; Itten-A, Zürich; A des Paula Modersohn-Becker-Museums, Bremen.

Werke: Kunstmuseum Singen; Hesse-Museum, Gaienhofen; Städt. Wessenberg-Galerie, Konstanz; Sammlung Burg Giebichenstein, Halle (Saale); Paula Modersohn-Becker Museum, Bremen.
Nachweis: Bildnachweise: Foto (um 1930) S. 243, Fotograf Werner Rohde, Nachlass Gaienhofen.

Literatur:

Johannes Itten, Der Unterricht, 1973; Lovis Gremliza, Die Lovis-Presse, Schwenninger Drucke 1947–1949, 1985; Andrea Hofmann, Künstler auf der Höri, 1989; Barbara Lipps-Kant, Gertraud Herzger von Harlessem 1908–1989, 1993; Angela Dolgner, Gertraud Herzger von Harlessem. Gemälde, Zeichnungen, Graphik, in: Die Burg, Zeitschrift der Hochschule für Kunst und Design Halle, Nr. 9, 1995, 60–63; AK Frauen im Aufbruch?, Künstlerinnen im dt. Südwesten 1800–1945, Städt. Galerie im Prinz-Max-Palais Karlsruhe, 1995; AK Eigenwillig, Künstlerinnen am Bodensee 1900–1950, Städt. Wessenberg-Galerie Konstanz, 2005; Andrea Dietz, Künstlerinnen der Höri, 2007; Angela Dolgner, Gertraud Herzger von Harlessem, Eine Künstlerin aus dem Umfeld von Johannes Itten und Erwin Hahs, 2008.

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