Wirth, Christian 

Geburtsdatum/-ort: 24.11.1885;  Ober-Balzheim
Sterbedatum/-ort: 26.05.1944; bei Erpelle (Hrpelje)
Beruf/Funktion:
  • Kriminalpolizist, Manager von NS-Kranken- und Judenmorden
Kurzbiografie: 1905–1907 Wehrdienst beim Württ. Grenadier-Regiment 123
1908–1910 Freiwilliger, zweijährig, beim Württ. Grenadier-Regiment 123, Abgang als Unteroffizier der Reserve
1910 Eintritt in Schutzpolizei in Heilbronn; Wechsel nach Stuttgart; Heirat
1913 Fahnder der Kriminalpolizei bei der Polizeidirektion in Stuttgart
1914–1919 Kriegs- bzw. Militärpolizeidienst beim Württ. Reserve-Infanterie-Regiment 246 und Ersatzbataillon des Infanterie- Regiments 119 (seit Ende 1917), letzter Rang Offiziersstellvertreter
1919 Rückkehr zur Kripo, Dienststellenführer im Außendienst; Beförderung zum Kriminalwachtmeister
1922–1923 NSDAP-Mitgliedschaft (bis Verbot)
1930 Wiedereintritt in NSDAP (davor: DNVP)
1940–1941 Tötungsanstalten Brandenburg, Grafeneck, Hartheim, Hadamar, Bernburg
1941 Herbst: Aufbau des Vernichtungslagers Bełżec und Erster Kommandant
1942–1943 Inspekteur der Vernichtungslager Bełżec, Sobibór und Treblinka der „Aktion Reinhard“ (nach R. Heydrich) und Flughafenlager Lublin; Kriminalrat und SS-Sturmbannführer
1943–1944 Leiter der Abteilung R in Triest
1949 Zentralspruchkammer Ludwigsburg: Minderbelasteter
Weitere Angaben zur Person: Religion: ev., später: gottgläubig
Verheiratet: 1910 Maria, geb. Bantel (geboren 19.8.1888)
Eltern: Vater: David Wirth, Küfermeister in Ober-Balzheim
Geschwister: 16
Kinder: 2 Söhne
GND-ID: GND/12885359X

Biografie: Volker Rieß (Autor)
Aus: Württembergische Biographien 3 (2017), 254-256

Wirth kam als 14. von 17 Kindern zur Welt als bereits neun der Geschwister tot waren; zwei der drei nachfolgenden Geschwister starben noch als Kleinkind. Nach Besuch der Volksschule und Fortbildungsschule arbeitete Wirth in seinem Lehrberuf als Säger. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs wurde Wirth, inzwischen Vater eines Kleinkinds, auf eigenen Wunsch zum Kriegsdienst entlassen. Beim württembergischen Reserve-Infanterie-Regiment 246 an der Westfront bald schon verwundet, nahm er nach Genesung ab Dezember 1914 an den Massenschlachten in Flandern bzw. Nordostfrankreich mit Auszeichnung teil (Eisernes Kreuz I. Klasse; Goldene Württembergische Verdienstmedaille). Juli 1917 übernahm Wirth den Regimentspionierpark unter Oberaufsicht des Bauoffiziers. Dezember 1917 bis Mai 1919 war er als Schutzpolizist beim Ersatzbataillon des Infanterie-Regiments 119 in Stuttgart und bekämpfte erfolgreich Korruption. Zurück bei der Kripo und nicht wie viele andere seiner Generation arbeits- und wurzellos, agierte Wirth im rechtsradikalen Spektrum. Er war von 1922 bis zum Verbot Mitglied der NSDAP. Danach war er Mitglied der Deutschnationalen Volkspartei, um dann 1930 wieder in die NSDAP einzutreten. Juni 1933 trat er der SA bei. Berufspolitisch engagierte sich Wirth in der Arbeitsgemeinschaft Nationalsozialistischer Beamter und polizeigewerkschaftlich seit 1919 als Mitglied des Reichsverbandes der Kriminalbeamten Deutschlands und später des Landesverbandes der Polizeibeamten Württembergs. Letztere verstand sich als überparteiliche, nationale und verfassungstreue Polizeigewerkschaft. 1932 rief sie ihre Mitglieder auf, Hindenburg zum Reichspräsidenten zu wählen. Wirth sollte wegen seiner bekannten Einstellung auf einem Verbandstag bloßgestellt werden. Dies gelang nicht. Im März 1933 griff der Kommissar für das Polizeiwesen in Württemberg, von Jagow, den Landesverband der Polizeibeamten Württembergs an. Wirth setzte als Mitglied des geschäftsführenden Ausschusses dessen Gleichschaltung um, die in Selbstauflösung endete. Die Landeskameradschaft Württemberg im Bund deutscher Polizeibeamter unter Landeswart Wirth übernahm Büromöbel und Mitglieder. Daneben war Wirth noch Leiter der Ortsgruppe Stuttgart dieser NS-Berufsorganisation, Vertrauensmann für die Kreisleitung der NSDAP Stuttgart, stellvertretender Gausachbearbeiter des Amtes für Beamte der Fachschaft 9 Polizei und Hauptvertrauensmann des Amts für Beamte, Kreis Stuttgart. Außerdem wurde Wirth 1937 ehrenamtlicher Mitarbeiter des SD (Parteigeheimdienst der NSDAP) in Stuttgart. Auf dessen Antrag wurde er 1939 von der 119. SA-Standarte in die SS überführt und SS-Obersturmführer. Schon während der Weimarer Zeit war Wirth fünfmal befördert worden. Danach ermittelte er erfolgreich gegen NS-Führer, die sich an Ausschreitungen gegen politische Gegner beteiligt hatten, und ging gegen Korruption bei Polizisten vor. Februar 1939 wurde er zum Beisitzer der Dienststrafkammer in Stuttgart bestellt. Auch außerhalb seines Geschäftsbereichs wurde Wirth bei wichtigen und heiklen Fällen eingesetzt. Ohne systematischen Polizeiunterricht genossen zu haben und entsprechenden Rang leitete er seit Januar 1938 ein Kriminalkommissariat. Frühjahr bis Juli 1939 war Wirth zum Aufbau der deutschen Kripo im neu errichteten Protektorat Böhmen-Mähren abgeordnet.
1939, noch vor Kriegsbeginn, fiel die Entscheidung zur Tötung von erwachsenen Anstaltspfleglingen (NS-Euthanasie). Im Oktober begann unter Einschaltung des Württembergischen Innenministeriums der Aufbau der Tötungsanstalt Grafeneck, die spätestens Januar 1940 betriebsbereit war. Ob Wirth beteiligt war, ist nicht belegt, aber wahrscheinlich, da er im selben Monat zur Landespflegeanstalt Brandenburg bei Berlin abgeordnet wurde, wo er an einer Demonstrationsvergasung teilnahm. Wirth war zeitweise organisierend, überwachend und leitend in Brandenburg und Grafeneck für den nichtärztlichen Bereich zuständig. Dies betraf u. a. die Verschleierung der Krankenmorde und den Tötungsablauf. Kaum war der Vernichtungsbetrieb in Brandenburg und Grafeneck angelaufen, wurde Wirth zur dritten Vergasungsanstalt nach Hartheim bei Linz geschickt. Hatte er in Brandenburg noch gerichtlich untergebrachte Psychiatriepatienten arglistig in die Gaskammer gelockt, erschoss er in Hartheim vier typhusverdächtige Patientinnen, damit sich die Krankheit nicht während der Vergasungsprozedur auf das Personal ausbreitete. In Hartheim und Hadamar, welches das Ende 1940 geschlossene Grafeneck ersetzte, ging Wirth gegen Korruption und Exzesse vor. Auch in der Tötungsstation Bernburg war er zur Kontrolle. Am 24. August 1941 wurde die Vergasungsaktion durch Hitler gestoppt. Man ging zunächst von einer nur vorübergehenden Unterbrechung aus, hielt einen Großteil des Personals und die noch existierenden Mordanstalten betriebsbereit. Ende August schlug Brack, Funktionär der Kanzlei des Führers und Chef der NS-Euthanasieorganisation, vor, Wirth zum SS-Hauptsturmführer zu befördern. Februar 1943 ordnete dies Himmler an. Erst August 1943 setzte er eine Beförderung unter Auslassung des Hauptsturmführers zum Sturmbannführer durch. Die Polizeibürokratie hatte Wirth bereits im Januar 1943 zum Kriminalrat (Entsprechung: Sturmbannführer) gemacht, mit dem Zusatz, das er sich „des besonderen Schutzes des Führers sicher sein“ dürfe. Zuvor musste Wirth erst die Kriminalkommissar-Prüfung zu bestehen, bevor er – persönlich durch Reinhard Heydrich, Chef des Reichsicherheitshauptamts, ernannt – 1941 Kriminalkommissar werden durfte.
Nach dem Euthanasie-Stopp tauchte Wirth wiederholt in der Kanzlei des Führers auf und erzählte bereits im Spätsommer 1941, dass er in eine Euthanasie-Anstalt im Raum Lublin versetzt sei. Wahrscheinlich am 13. Oktober 1941 erhielt Odilo Globocnik, SS-und Polizeiführer Lublin, von Himmler den Auftrag, ein Judenvernichtungslager zu errichten. Es wurde dies Bełżec. Als es gegen Jahresende fertig war, erschien Wirth mit ehemaligen Euthanasiemitarbeitern und eröffnete ihnen ihre Aufgabe, dort alle Juden „umzulegen“. Von März bis Sommer 1942 lief eine Art Probebetrieb (mindestens 90 000 Opfer). Mordmittel war wie bei der Euthanasieaktion erst CO aus Flaschen, dann Motorenabgase. Abschließend ließ Wirth neue, größere Gaskammern bauen. Mai 1942 wohnte er der Probevergasung in Sobibór, dem zweiten Vernichtungslager, bei und ernannte den Lagerleiter. Nach Inbetriebnahme Treblinkas, dem dritten Vernichtungslager der „Aktion Reinhard“, kam es unter Kommandant Eberl, zuvor Leiter der Euthanasieanstalt Bernburg, durch zu viele Transporte aus dem Ghetto Warschau Ende August 1942 zum Zusammenbruch des Lagerbetriebs. Eberl wurde abgesetzt. Wirth blieb für drei Wochen, um den Vernichtungsvorgang zu optimieren. Später kam er immer wieder zur Inspektion. Er ließ auch hier neue, größere Gaskammern bauen und machte Stangl, bis dahin Kommandant von Sobibór, zum neuen Lagerchef. Die Täuschung der Opfer bei der Ankunft durch Ansprachen gehörte wesentlich zum Tötungsvorgang in allen drei Vernichtungslagern. Auch dies war Wirths Idee.
Wirth wurde Inspekteur der „Aktion Reinhard“, nach der Aussage seines Adjutanten schon im August 1942. Nachdem Ende 1942/Anfang 1943 die Tötungen reibungslos liefen, wurde Wirth zusätzlich mit der Zweigstelle des Bekleidungswerkes der Waffen-SS, Außenstelle Lublin, im sogenannten Flughafenlager, betraut. Dort wurde die Verwertung der Hinterlassenschaften und Wertsachen der Mordopfer durch Arbeitsjuden abgewickelt.
Nach der Ermordung von 1,5 – 1,7 Millionen, zu allermeist polnischer, Juden wurde die„Aktion Reinhard“ im Herbst 1943 beendet. Wirth und seine Leute, mit den ukrainischen Trawniki-Männern der Lagerwachen, kamen nach Istrien zu Globocnik. Der war Ende August 1943 zum Höheren SS- und Polizeiführer Adriatisches Küstenland mit Sitz in Triest ernannt worden. Wirths Leute beschlagnahmten nun jüdisches Vermögen und halfen bei der Deportation von Juden nach Auschwitz. In kleinem Ausmaß kam es zu Tötungen und Verbrennung der Opfer im Wirth unterstehenden Lager in einer ehemaligen Reisfabrik im Vorort San Saba von Triest. Immer mehr aber wurde Wirths Truppe zur Sicherung gegen jugoslawische und italienische Partisanen eingesetzt. Dabei wurde Wirth am 26. Mai 1944 auf einer Fahrt von Triest nach Fiume (Rijeka) bei einem Partisanenüberfall erschossen. Er wurde feierlich auf dem Soldatenfriedhof Opicina beigesetzt (1959 auf Kriegsgräberstätte Costermano umgebettet).
Wirths antisemitische Einstellung ist belegt. Bei seinem Personal war er gefürchtet (Spitzname: „wilder Christian“). Er war stolz auf seine Leistungen und Erfindungen. Typisch und grotesk zugleich waren sein Sinn für Details und formale Korrektheit. Wirth war sich durchaus bewusst, an welchem ungeheuerlichen Verbrechen er mitgewirkt hatte, und fürchtete am Ende als lästiger Mitwisser beseitigt zu werden.
Quellen: Personalakte im HStAS und StAL; weitere vgl. Literatur, Rieß.

Literatur: Auswahl: Adalbert Rückerl, NS-Vernichtungslager im Spiegel deutscher Strafprozesse. Belžec. Sobibor. Treblinka. Chelmno, 1977; Gitta Sereny, Am Abgrund. Eine Gewissenserforschung, 1979; Yizhak Arad, Belžec, Sobibor, Treblinka. The Operation Reinhard Death Camps, 1987; Henry Friedlander, Der Weg zum NS-Genozid. Von der Euthanasie zur Endlösung, 1997; Michael Wedekind, Nationalsozialistische Besatzungs- und Annexionspolitik in Norditalien 1943 bis 1945, 2003; Volker Rieß, Christian Wirth – Inspekteur der Vernichtungslager, in: Klaus-Michael Mallmann/Gerhard Paul (Hrsg.), Karrieren der Gewalt, 2004, 239-251; Michael Tregenza, Aktion T4. Le sécret d’Etat des nazis: l’extermination des handicapés physiques et mentaux, Paris 2011.
Suche
Durchschnitt (0 Stimmen)