Dialektforschung und Varietätenlinguistik
Eine Teildisziplin der Linguistik ist die Varietätenlinguistik, die sich mit den verschiedenen Varietäten und Ausformungen des Deutschen befasst. Neben regionalen Ausprägungen, den Dia- oder auch Regiolekten, die in bestimmten Regionen verbreitet sind, werden auch andere sprachliche Besonderheiten und Differenzierungsmerkmale untersucht, die sich in einer modernen, komplexen Gesellschaft ausbilden: Soziolekte beispielsweise sind sprachliche Varietäten sozialer Schichten und Gruppen; aber auch spezifische Berufs- und Fachgruppen pflegen ihre „eigenen“ Sprachen, die für den Laien mitunter kaum verständlich sind – beispielsweise das berühmte Juristendeutsch. Jugendsprachen, die sich zum Teil einer eigenen Grammatik und vieler Anglizismen bedienen, sind wiederum Beispiele für einen generationentypischen -lekt.
Während die Dialektologie, die sich mit Dialekten und räumlich differenzierten Ausprägungen des Deutschen befasst, auf eine längere Tradition zurückblicken kann, ist die Varietätenlinguistik ein neueres Paradigma innerhalb der Linguistik. Der Terminus Varietätenlinguistik bringt eine Perspektiverweiterung zum Ausdruck – neben der räumlich-dialektalen Differenzierung hat sich die Perspektive auf viele andere Differenzierungsmerkmale erweitert, beispielsweise auf soziale, fachliche, generationenspezifische, genderspezifische oder berufliche Kriterien, die für die Hervorbringung von Sprachen relevant sein können. Zugleich rückt die Varietätenlinguistik verstärkt funktionale und soziale Aspekte von Sprache in den Fokus. Dia- oder Regiolekte werden dabei neben funktionalen oder Soziolekten als eine von mehreren sprachlichen Varietäten des sogenannten Standarddeutschen verstanden, auch wenn diese besonders wirkmächtig sind. Zugleich ist ein Dialekt aber auch eine ganz bestimmte Art von Varietät, die sich durch ihr Verhältnis zum sogenannten Standarddeutschen konstituiert. Denn die Standardsprache und die Mehrheit der Varietäten schließen sich nicht gegenseitig aus; sie definieren sich nicht als Gegensatz zum Standarddeutschen. Die Fachsprache eines Juristen ist beispielsweise ein Teil des Standarddeutschen und keine Varietät, die mit dem Standarddeutschen inkompatibel wäre. Juristinnen und Juristen, die sich ihrer Fachsprache bedienen, sprechen standarddeutsch und Funktiolekt zugleich. Ebenso lassen sich auch Dialekte mit Funktio- oder Soziolekten kombinieren. Dem gegenüber gestaltet sich das Verhältnis zwischen dem Standarddeutschen und dem Dialekt grundlegend anders, denn Dialekt und Standardsprache schließen sich, jedenfalls im gegenwärtigen Verständnis, gegenseitig aus: Wer sich der Standardsprache bedient, spricht nicht Dialekt und umgekehrt. Natürlich gibt es auch Grau- und Übergangsbereiche zwischen dem Standarddeutschen und den Dialekten.
Während man leicht zwischen Fachsprache und Alltagssprache wechseln oder beides miteinander kombinieren kann, ist es innerhalb einer Dialektregion möglich, dass Sprecherinnen und Sprecher aus älteren Generationen in der gesprochenen Sprache tatsächlich nur ihren Dialekt beherrschen, auch wenn deren Zahl zurückgehen dürfte. Der ironische Werbeslogan der baden-württembergischen Regierung „Wir können alles. Außer Hochdeutsch“ legt das jedenfalls nahe. Somit sind Dialekte als besondere Varietäten anzusehen.
Sprach- und Dialektregionen in Baden-Württemberg: Ein Überblick
Auf dem Gebiet des heutigen Baden-Württemberg lassen sich zwei Großdialekte unterscheiden, nämlich das Fränkische und das Alemannische. Gemeinsam mit dem Bayerischen gehören diese Dialekte zur oberdeutschen Sprachfamilie; lediglich das im Raum Mannheim-Heidelberg verbreitete Rheinfränkische gehört nicht dazu. Die Unterscheidung oberdeutsch und niederdeutsch geht auf die zweite, die sogenannte Althochdeutsche Lautverschiebung zwischen dem 6. und 8. Jahrhundert zurück, die die ober- und mitteldeutschen Sprachen ergriff, während die niederdeutschen Dialekte davon nicht oder weniger stark erfasst wurden. Neben der zweiten Lautverschiebung wirkten sich auch die frühneuhochdeutsche Diphtongierung und Monophtongierung unterschiedlich aus. Auch auf diese verschiedenen Lautentwicklungen gehen die Unterschiede zwischen dem heutigen Standarddeutschen, das den ostmitteldeutschen Dialekten am nächsten kommt, und den schwäbisch-alemannischen Dialekten zurück.
Innerhalb dieser Großdialekte gibt es zahlreiche Untergruppen, Variationen und Mischformen. Zu den fränkischen Dialekten, die überwiegend im nördlichen Drittel des heutigen Bundeslandes gesprochen werden, gehören beispielsweise Kurpfälzisch und Hohenlohisch. Das Kurpfälzische, das zur Gruppe der rheinfränkischen Sprachen gehört, wird im Raum Mannheim-Heidelberg gesprochen, das Hohenlohische, das zu den ostfränkischen Dialekten gehört, ist im Landkreis Schwäbisch Hall, im Hohenlohekreis und in Bad Mergentheim verbreitet. Das Alemannische deckt das mit Abstand größte Gebiet ab und wird in den südlichen zwei Dritteln von Baden-Württemberg gesprochen. Dieser Großdialekt lässt sich wiederum unterteilen in Schwäbisch, das vor allem in Ost- und Zentralwürttemberg gesprochen wird, sowie in Oberrhein-Alemannisch, Hoch- oder auch Süd-Alemannisch und Bodensee-Alemannisch. Umgangssprachlich werden diese drei Dialekte auch als „badisch“ bezeichnet. Streng genommen ist „badisch“ aber kein eigener, kohärenter Dialekt, sondern eine Sammelbezeichnung für diejenigen verschiedenen alemannischen Dialekte und Unterdialekte, die auf dem Territorium des ehemaligen Großherzogtums Baden gesprochen werden. Sowohl das Schwäbische als auch die im Westen gesprochenen alemannischen Dialekte gehören zum Großdialekt des Alemannischen. Auch das Schwäbische weist eine große Bandbreite mit beträchtlichen Unterschieden auf. Ostschwäbisch wird im Osten von Württemberg gesprochen, also in der Gegend zwischen Aalen und Ulm.
Sprachräume korrespondieren nur bedingt mit staatlichen Verwaltungsgrenzen, daher reicht das Ostschwäbische weit ins Bundesland Bayern hinein und wird im gesamten Regierungsbezirk Bayerisch-Oberschwaben gesprochen. Zentralschwäbisch wird im Zentrum von Württemberg gesprochen, also innerhalb eines Kreises, der die Städte Böblingen, Tübingen, Reutlingen, Kirchheim und Waiblingen umfasst. Auch auf der Schwäbischen Alb ist das Zentralschwäbische vorherrschend. Westschwäbisch wird wiederum in den westlich gelegenen, an Baden grenzenden württembergischen Landkreisen sowie den östlichen, noch zum Regierungsbezirk Karlsruhe gehörenden Landkreisen gesprochen, also in der Gegend um Pforzheim und Calw. Calw war lange eine württembergische Oberamtsstadt und kam erst mit der Verwaltungsreform 1973 zum Regierungsbezirk Karlsruhe. Daneben gibt es noch das Südschwäbische, das in einem Streifen zwischen dem Obersee-Alemannischen und dem Zentralschwäbischen gesprochen wird.
Die Sprachgrenzen und Einteilungen sind fließend; es gibt Übergänge und gegenseitige Wechselwirkungen zwischen benachbarten Dialekten, da auch die Menschen benachbarter Regionen in einem Austausch stehen, sich beeinflussen lassen und den Sprachgebrauch selbst beeinflussen. Allerdings gibt es weiche, durchlässige und weniger durchlässige, schärfere Grenzen. Vaihingen an der Enz ist ein Beispiel für eine weiche, durchlässige Grenze. Hier ist neben dem Schwäbischen auch das Fränkische stark vertreten; Worte aus dem Fränkischen finden Eingang in das Schwäbische und umgekehrt. Als eine der schärferen Grenzen zwischen dem Westschwäbischen und dem Oberrhein-Alemannischen galt lange der Kniebis, wobei sich diese Grenze im Laufe der Zeit in Richtung des badischen Rheintals verschoben hat.
Auch der ostwürttembergische Raum zwischen Ellwangen und Crailsheim, also das Jagsttal gilt als scharfe Sprachgrenze, wo sich das Ostschwäbische und das Ostfränkische gegenüberliegen. In Crailsheim dominiert bereits das Fränkische, während in Ellwangen Schwäbisch gesprochen wird. Die Stabilität der Sprachgrenze hat auch mit den Verhaltensweisen der Einwohner und „mentalen Grenzen“ zu tun: Während die Crailsheimer eher in Richtung Nürnberg und Würzburg orientiert sind, sind die Ellwanger eher an Stuttgart und Ulm orientiert, wo sie beispielsweise größere Einkäufe erledigen. Die Menschen im Umland von Ellwangen schicken ihre Kinder auf die Ellwanger Schulen, während im Umland von Crailsheim die dortigen Schulen bevorzugt werden. Ein „Grenzübertritt“ findet offenbar nur selten statt. Interessanterweise blieb diese Sprachgrenze auch über die Verwaltungsreform von 1973 hinaus stabil, als manche der umliegenden Orte, die an Ellwangen orientiert sind, dem Landkreis Crailsheim und damit dem „falschen Sprachraum“ zugeordnet wurden.
Literatur
- Klausmann, Hubert, Die Erforschung regionaler Varietäten in Baden-Württemberg – Rückblick und Ausblick, in: Keller-Drescher, Lioba / Tschofen, Bernhard (Hg.): Dialekt und regionale Kulturforschung, Tübingen 2009, 113-124.
- Klausmann, Hubert, Schwäbisch – Entstehung, Gliederung und Entwicklung eines südwestdeutschen Dialekts, in: Hirbodian, Sigrid / Wegner, Tjark (Hg.): Was ist schwäbisch?, Ostfildern 2016, S. 59-82.
Felix Teuchert