Bettnässen

von Tabea Öhrlich und Clara Driehsen

Während der 50er- bis 80er-Jahre wurden schätzungsweise acht Millionen Kinder in Erholungs- und Kurheime für meist drei bis sechs Wochen verschickt. Berichten ist zu entnehmen, dass Enuresis - das nächtliche Einnässen - in vielen Heimen ein großes Problem war. Auch Kinder, die bereits trocken waren, begannen während des Aufenthalts wieder einzunässen – dies hielt meist auch zu Hause weiter an. Von Enuresis spricht man bei Kindern ab dem sechsten Lebensjahr, da in diesem Alter die Reinlichkeitserziehung in der Regel abgeschlossen ist. Das nächtliche Einnässen ist mit 10 Prozent betroffener 7-Jährigen jedoch keine Seltenheit. Die Gründe dafür können vielfältig sein. Darunter fallen körperliche Aspekte wie die hormonelle Entwicklung, eine noch nicht ausreichend entwickelte Blase oder ein tiefer Schlaf. Das Einnässen bei Kindern, die bereits trocken waren, wird hingegen meist auf psychische Ursachen zurückgeführt. Hierbei sind intensiver Stress, ein erlebtes Trauma oder starke und herausfordernde Veränderungen im Leben wie der Tod eines Familienmitglieds, ein Umzug, der Schuleintritt oder die Geburt eines Geschwisterchens mögliche Gründe. Bei diesem Fall wird häufig zu einer Therapie geraten.

Auch in Kur- und Erholungsheimen litten die Kinder häufig unter psychischen Belastungen, wie den Trennungsschmerz von zu Hause, Heimweh während des Aufenthalts, die Strenge des Personals in den Einrichtungen und starre Reglementierungen unter anderem bei der Toilettennutzung, die in vielen Heimen üblich war. Häufig waren die Toiletten von 20 bis 8 Uhr und während des Mittagsschlafs verschlossen. Stattdessen wurden in einigen Einrichtungen Nachttöpfe oder Eimer in die Schlafsäle gestellt. Aufgrund der Unzugänglichkeit der Toiletten sowie dem Ekel und der Scham stattdessen den Eimer zu verwenden, machten Kinder wiederholt ins Bett. Das Personal passte auf, dass während dieser Zeit niemand unerlaubterweise die Sanitäranlagen benutzte. Berichten zufolge standen Mitarbeiter*innen der Kur- und Erholungsheime auf den Fluren und kontrollierten, dass niemand die Nachtruhe missachtete, um auf die Toilette zu gehen.

Neben dem Toilettenverbot führte in manchen Heimen auch die geringe Anzahl der Toiletten zum Bettnässen. In dem evangelischen Kinderkurheim Burhave/Oldenburg beispielsweise standen Berichten zufolge vier Toiletten für insgesamt 30 Kinder zur Verfügung. Mehreren Erzählungen ehemaliger Verschickungskinder ist zu entnehmen, dass die Sanitäranlagen zudem aufgrund fehlender Reinigung häufig verunreinigt und verstopft waren. Das Problem wurde manchmal erst nach einigen Tagen behoben, wodurch noch weniger Toiletten zur Verfügung standen.

Der Bestrafungskatalog, auf den in Fällen des Bettnässens meist zurückgegriffen wurde, war lang. In vielen Heimen war es üblich, dass die betroffenen Kinder ausgeschimpft, geprügelt und gedemütigt wurden. Trotz oder gerade aufgrund der Sensibilität des Themas wurde das Einnässen nicht diskret behandelt. Einzelne Betroffene erzählen von Demütigungen und Bloßstellungen. Berichten ist zu entnehmen, dass vor der ganzen Gruppe auf die Bettnässer*innen hingewiesen wurde und die Kinder ihre nassen Laken vor den Augen aller auswaschen mussten. Die Matratze wurde daraufhin meist einfach umgedreht. Andere Betroffene erzählen, dass Kinder sich nach dem Einnässen im Schlafsaal umziehen mussten und in einigen Fällen die anderen Heimkinder dazu angehalten wurden sie auszulachen. Auch von körperlichen Strafen wie Ohrfeigen oder dem stundenlangen barfüßigen Stehen im Flur wird berichtet. Und das, obwohl das in vielen Heimen herrschende Problem der Enuresis erst durch die Bedingungen in den Einrichtungen in diesem Ausmaß hervorgerufen wurde. Jedoch gab es auch Heime, in denen sensibel mit dem Einnässen der Kinder umgegangen wurde. Ohne Aufmerksamkeit auf die nassen Betten zu lenken, wurden dort die Laken von dem Personal gewechselt. Ziel war es, Scham und Anspannung zu vermeiden. Stattdessen haben sich die Betreuer*innen liebevoll um die Kinder gesorgt, um Sicherheit und Geborgenheit zu vermitteln. Dennoch bezeichneten 16 Prozent der befragten ehemaligen Heimkinder in einer im Jahr 2020 von Christiane Dienel und Anja Röhl durchgeführten Studie das Toilettenverbot als traumatisches Erlebnis.

Ob Kur- und Erholungsheime bettnässende Kinder aufnahmen, unterschied sich von Einrichtung zu Einrichtung. Den Aufnahmeformularen und Prospekten mancher Heime ist zu entnehmen, dass Betroffene von dem Aufenthalt ausgeschlossen und auf Kosten der Eltern zurückgeschickt wurden. Die Erholungsheime „Hubertus” in Scheidegg und „Ihlingshof” in Oberreute lehnten beispielsweise grundsätzlich die Aufnahme von Kindern bereits im Vorfeld ab, von denen dieses Problem bekannt war. Andere Einrichtungen sahen das gelegentliche Bettnässen jedoch nicht als Aufnahmehindernis und warben sogar damit, dass Kinder erfahrungsgemäß nach ihrem Aufenthalt nicht mehr von Enuresis betroffen seien.

Um der Mehrarbeit, die durch bettnässende Kinder verursacht wurde, entgegenzuwirken, erhoben einige Heime eine „Bettnässerpauschale” für Kinder mit Enuresis. Dieser Entschädigungsbetrag wurde den Eltern oder der Entsendestelle in Rechnung gestellt. Die Entsendestellen weigerten sich jedoch häufig diese Pauschale zu zahlen und forderten die Heime auf, den Betrag von den Eltern begleichen zu lassen. Das Geld sollte den Mitarbeitenden zum Beispiel in Form von Personalausflügen zugutekommen. Denn das Bettnässen stellte für einige Heime eine große Herausforderung und einen großen Mehraufwand dar. Besonders schwierig war es für Heime, die nicht im Haus waschen konnten. Zudem brachten einige Kinder nicht genügend Wechselkleidung mit und die Einrichtungen hatten meist keine ausreichend großen Bestände an Wäsche, auf die im Notfall zurückgegriffen werden konnte. In verschiedenen Elternbriefen wird deshalb darum gebeten, genügend Kleidung für die Kinder einzupacken.

Zu den Autorinnen: Verfasst wurde der Artikel von Tabea Öhrlich und Clara Driehsen. Beide haben sich im universitären Kontext, im Rahmen eines Seminars, mit dem Thema „Verschickungskinder“ befasst. Tabea Öhrlich konnte als Studentin der Erziehungswissenschaft und Sozialen Arbeit im achten Fachsemester eine sozialpädagogische Perspektive auf das Thema Heimkinder einbringen. Clara Driehsen studiert im sechsten Fachsemester Empirische Kulturwissenschaft an der Eberhard-Karls-Universität in Tübingen. Durch das Kulturwissenschaftsstudium konnte sie Kenntnisse der Archivarbeit in den Text mit einfließen lassen und die Thematik aus einer kulturwissenschaftlichen Perspektive bearbeiten.

Ermöglicht wurde dieser Artikel durch eine Kooperation zwischen der Eberhard-Karls-Universität Tübingen und dem Landesarchiv Baden-Württemberg, die durch die freiberufliche Kulturwissenschaftlerin Gudrun Silberzahn-Jandt und Corinna Keunecke, zuständige Mitarbeiterin zum Thema Kinderverschickung im Landesarchiv Baden-Württemberg, ins Leben gerufen wurde.

Literatur

  • Folberth, Sepp (Hg.), Kinderheime, Kinderheilstätten in der westdeutschen Bundesrepublik, Österreich und der Schweiz, München 1956.
  • Ottmann, Anton, Gewitternächte in Nickersberg. Das „Kinderkurheim“ des Dr. Bartsch. Eine Dokumentation, Bretten 2021.
  • Röhl, Anja, Das Elend der Verschickungskinder. Kindererholungsheime als Orte der Gewalt, Gießen 2021.
  • Wendt, Rainer, Kindererholung. Ein sozialpädagogisches Curriculum, Stuttgart 1975.

Zitierhinweis: Tabea Öhrlich und Clara Driehsen, Bettnässen, in: Heimkindheiten, URL: […], Stand: 21.02.2024.