Schwarze Häuser: Ein Kinderbuch zum Thema Verschickung

von Sabine Ludwig

Bei meinem ersten Kinderkuraufenthalt im Frühjahr 1961 war ich sechs Jahre alt und sollte im Fichtelgebirge fit für die Einschulung gemacht werden. Der zweite fand November/Dezember 1964 auf der Insel Borkum statt.

Traumatisch war vor allem der erste. Zu dem Zeitpunkt konnte ich noch nicht lesen und schreiben und hatte keinerlei Möglichkeiten, mit meinen Eltern in Kontakt zu treten. Dort in Bayern habe ich all das erlebt, wovon fast alle ehemaligen Verschickungskinder berichten: Nachts nicht auf die Toilette gehen zu dürfen, Aufessen bis zum Erbrechen, Schläge wegen vermeintlichem Ungehorsam usw.

Als im Herbst 1964 wieder ein Brief vom Sozialamt mit dem Angebot zu einer „Kinderkur“ ins Haus flatterte, war es mein eigener Wunsch, noch einmal sechs Wochen fern von zu Hause zu sein. Ich wurde in der Schule gemobbt und hielt mich für erwachsen genug, kein Heimweh mehr zu haben. Das war natürlich ein großer Irrtum. Immerhin konnte ich mich diesmal meinen Eltern mitteilen, wenn auch nur mit einem „Code“. Das waren die schwarzen Häuser, die ich mit Bleistift auf all meine Briefe zeichnete und die meinen Eltern signalisieren sollten, wie schlecht es mir geht.

Ich hatte immer vor, über meine Erfahrungen als Verschickungskind ein Buch zu schreiben und alle, mit denen ich darüber sprach, meinten, das würde dann ja wohl eins für Erwachsene werden. Aber warum eigentlich? Ich habe das alles als Kind erlebt und davon wollte ich Kindern und Jugendlichen erzählen. Als Erzählperspektive habe ich jedoch nicht meine eigene, die der zehnjährigen Fritze gewählt, sondern die von Uli, einer 13jährigen, die bereits mehrere Kuraufenthalte hinter sich hat, und somit nüchtern auf das Geschehen und vor allem auch auf Fritze blicken kann, die zu Beginn des Buches unter extremem Heimweh leidet. Hauptfiguren sind neben Uli und Fritze noch zwei weitere Mädchen, die achtjährige Anneliese und die 12jährige Freya. Nach und nach werden die vier zu Freundinnen und versuchen, sich gemeinsam gegen das grausame Regiment im Heim zu wehren.

Alles, wovon ich in dem Buch erzähle, sei es der „Milchsuppen¬aufstand“ oder der tote Schweinswal am Strand, Sturmflut und Heizungsausfall, aber vor allem der unglaubliche Hunger – das Essen war meist verdorben und ungenießbar - habe ich mit wenigen Abstrichen erlebt. Reine Fiktion dagegen ist das „Happy End“, das heißt, am Ende ereilt die Bösen ihre gerechte Strafe. Aber genau das war mir wichtig, ich wollte die jungen Leserinnen und Leser nicht mit all dem Schmerz allein¬lassen.

Als das Buch 2014 erschien, bekam ich unzählige Mails und Briefe – von Erwachsenen. Viele waren dankbar, dass endlich jemand ihre Geschichte aufgeschrieben hat.

Im Jahr 2019, beim ersten bundesweiten Zusammentreffen von ehemaligen Verschickungs¬kindern auf Sylt, habe ich aus dem Buch gelesen, im Publikum saßen Männer um die sechzig, die geweint haben, weil sie sich darin wiederfanden.

Aber wie ist das mit meiner Zielgruppe? Fühlt die sich ebenfalls angesprochen? Eindeutig ja! Natürlich machen Kinder – glücklicherweise - nicht mehr die Erfahrungen schwarzer Pädagogik wie meine Generation, aber viele erleben auch heute noch Ausgrenzung, physische und psychische Gewalt. Ich bringe zu jeder Lesung meine Briefe mit den schwarzen Häusern darauf mit. Die Kinder bewegt besonders, dass ich das alles selbst erlebt habe und sie stellen auch ganz andere Fragen als sonst bei Lesungen. Nicht mehr: „Wie viele Seiten hat das Buch?“ oder „Wie viel Geld verdienen Sie?“ sondern „Haben Sie noch Kontakt zu den Mädchen von damals?“ oder „Warum haben Ihre Eltern Sie nicht abgeholt?“. Es entsteht jedes Mal eine rege und auch sehr persönliche Diskussion, bei der auch ich viel von den Kindern erfahre. Werde ich gefragt, ob ich mit dem Buch zeigen wollte, wie schlecht es den Kindern früher ergangen ist, so muss ich verneinen. Jegliche pädagogische Absicht liegt mir fern. Es mag seltsam klingen, aber in erster Linie wollte ich ein Buch schreiben, das gelesen werden kann wie eine spannende Abenteuergeschichte aus vergangener Zeit, und wenn es überhaupt eine Botschaft gibt, dann die, dass Freundschaft über vieles hinweghilft.

In den ersten Jahren nach Erscheinen des Buches war es vor allem bei Schullesungen gar nicht so einfach, die Lehrerinnen und Lehrer davon zu überzeugen, dass die „Schwarzen Häuser“ eine geeignete Lektüre für ihre Klasse sein könnte. „Ach nein, lesen Sie lieber was Lustiges“ hieß es oft. Inzwischen wird das Buch aber immer mehr als Schullektüre eingesetzt und ich bekomme Briefe von Schulklassen, die mehr über das Thema erfahren wollen.

Zur Autorin: Sabine Ludwig ist eine deutsche Schriftstellerin und Übersetzerin. In ihrem Kinderbuch „Schwarze Häuser“, erschienen 2014, verarbeitet sie ihre eigenen Erlebnisse als Verschickungskind.

Zitierhinweis: Sabine Ludwig, Schwarze Häuser: Ein Kinderbuch zum Thema Verschickung, in: Heimkindheiten, URL: […], Stand: 21.02.2024.