Verschickt ins Stift

von Hannah Rosenberg und Nicole Hoffmann

Verschickt, verdrängt, vergessen!? In Rheinland-Pfalz gab es etwa 80 Erholungsheime, in die von Ende der 40er-Jahre bis hinein in die 80er Kinder ohne Begleitung ihrer Eltern zu mehrwöchigen Kuren verschickt wurden. Einige der damals Verschickten melden sich heute zu Wort, um von ihren zum Teil traumatischen Erlebnissen dort zu berichten. Unter der Leitung von Prof. Dr. Nicole Hoffmann, Prof. Dr. Wiebke Waburg und Dr. Hannah Rosenberg greifen verschiedene Projekte am Institut für Pädagogik der Universität Koblenz den diesbezüglichen Bedarf an gesellschaftlicher wie persönlicher Aufarbeitung auf. Im Folgenden wird Einblick in eines der Projekte gewährt.

Am Beispiel des Viktoriastifts, einer großen Einrichtung der Kinderkur-Verschickung im rheinland-pfälzischen Bad Kreuznach, interessierte uns in diesem Projekt exemplarisch, wie der Alltag in einer Kinderheilstätte damals aussah. Wie können wir heute erfahren, wie die Tage gestaltet waren, wie die Versorgung aussah, welche medizinischen Behandlungen angesetzt wurden, wie die Räumlichkeiten aussahen, welchen Konzepten gefolgt wurde und wie es den Kindern damals ging? Anhand von Archivbeständen, Schriftdokumenten, Bildern und Gesprächen mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen stellten wir in der Zeit von Oktober 2022 bis September 2023 und im Auftrag der heutigen Trägerinstitution des Viktoriastifts möglichst viele Quellen zusammen, die Auskunft zur damaligen Praxis geben.[1] Von den ehemals ins Viktoriastift Verschickten wurde dabei unter anderem der Wunsch geäußert, einen Besuch vor Ort zu realisieren, von dem im Folgenden berichtet wird.

Das Direktorium des Viktoriastifts erklärte sich bereit, im April 2023 einer Gruppe von ehemaligen Verschickungskindern diesen Besuch zu ermöglichen und mit ihnen in einem geschützten, nicht-öffentlichen Raum ins Gespräch zu kommen. Vor dem Hintergrund der Kenntnis um die zum Teil traumatisierenden Erfahrungen, die die Betroffenen vor Ort gemacht haben, wurde das folgende Programm dieser „Reise in die Vergangenheit“ gezielt zusammengestellt. Flankierend standen stets zwei Kolleginnen bereit, die im Fall von möglichen Flashbacks beratend zur Seite stehen konnten.

In ihrer Begrüßung thematisierten die Mitglieder des Direktoriums des Viktoriastifts zunächst den hohen Stellenwert, den die Aufarbeitung des Themas „Verschickung“ für ihre Einrichtung hat.

Es folgte von Seiten der Universität eine inhaltliche Eröffnung zum Thema im Allgemeinen, zu Bad Kreuznach als Kurort sowie zur Geschichte des Viktoriastifts im Speziellen. Damit sollte die Dimension des Phänomens umrissen und zudem verdeutlicht werden, dass das Geschehene in einen größeren Zusammenhang einzuordnen ist, wenngleich hier die persönlichen Schicksale im Fokus standen.

Der nächste Programmpunkt war mit „Gehört werden“ überschrieben: In einem moderierten Gespräch hatten nun die Gäste Gelegenheit, ausführlich von ihren Erfahrungen im Kontext der Verschickung zu berichten. In den Erzählungen wurde deutlich, wie sehr die zum Teil traumatisierenden Erfahrungen die Teilnehmenden bis zum heutigen Tage beschäftigen. Insbesondere auch den Mitgliedern des Direktoriums davon zu berichten, war für viele der Betroffenen von hoher Bedeutung. Sie legten dabei eine bemerkenswerte Offenheit an den Tag.

Unter der Überschrift „Erinnern I“ wurden die Teilnehmenden im Anschluss von Mitgliedern des Direktoriums des Viktoriastifts durch die – mittlerweile komplett sanierten und damit auch veränderten – Räumlichkeiten und das Außengelände geführt. In Gesprächen erinnerten sich die Ehemaligen gemeinsam mit dem Direktorium, welchen Zweck die Räume früher hatten. Hierbei kamen so einige, auch unangenehme, Erinnerungen hoch; zum Beispiel der Zwang, falls einem das Mittagessen nicht bekam, das eigene Erbrochene essen zu müssen oder die für die Kinder damals unverständliche und bedrohlich wirkende Praxis der Solebäder. Auch hier war es uns wichtig, die Betroffenen nicht allein zu lassen, sondern sie stets zu begleiten.

In einem informellen Rahmen konnten danach bei einem gemeinsamen Imbiss das Gesehene besprochen und auch neue Kontakte der ehemals Verschickten untereinander geknüpft werden.

In dem Programmpunkt „Erinnern II“ hatten sowohl die ehemals Verschickten als auch die Kolleginnen und Kollegen des Direktoriums Gelegenheit, sich anhand exemplarisch ausgewählter und datenschutzrechtlich unbedenklich einsehbarer Dokumente aus den Sammlungsbeständen des Stifts mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen (z.B. Zeitungsauschnitte, Werbeflyer für die Kuren, Fotomaterial, Architektenpläne aus Zeiten einer frühen Umbauphase etc.).

In einer auf Wunsch der ehemaligen Verschickungskinder gemeinsamen Abschlussrunde – die Betroffenen hatten im Vorfeld die Wahl, ob sie ausschließlich untereinander, mit den Kolleginnen der Universität und/oder den Mitgliedern des Direktoriums stattfinden sollte – wurden die Eindrücke des Tages noch einmal genannt und ausgewertet. Dabei wurde deutlich, dass das Programm für die Betroffenen ein wichtiger Baustein in ihrer persönlichen Aufarbeitung des Geschehenen war, der zu Klärung, Konkretisierung und Kontextualisierung der Erinnerungen beitragen konnte. Freilich blieben auch Fragen offen, doch lässt sich insgesamt festhalten, wie wertvoll solche Veranstaltungen sein können, wenn die von allen Seiten respektvoll gestaltete Auseinandersetzung mit erfahrenem Leid und dessen persönliche Verarbeitung im Vordergrund stehen.

Zu den Autorinnen: Prof. Dr. Nicole Hoffmann ist Professorin an der Universität Koblenz, Institut für Pädagogik, Arbeitsbereich Weiterbildung und Genderforschung. Kontakt: hoffmann@uni-koblenz.de

Dr. Hannah Rosenberg ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Koblenz, Institut für Pädagogik, Arbeitsbereich Weiterbildung und Genderforschung. Kontakt: rosenberg@uni-koblenz.de

Anmerkungen

[1] Vgl. die Projekthomepage.

Literatur

Zum Thema: Heimort-Besuche

Zum Thema: Trauma, auch Flashbacks, allgemein

  • Herman, Judith, Die Narben der Gewalt. Traumatische Erfahrungen verstehen und überwinden, 5., aktualisierte Auflage, Paderborn 2018.
  • Levine, Peter A., Trauma und Gedächtnis. Die Spuren unserer Erinnerung in Körper und Gehirn, 4. Auflage, München 2022.
  • Rüther, Eckart/Sachsse, Ulrich/Schäfer, Ulrike, Hilfe und Selbsthilfe nach einem Trauma. Ein Ratgeber für Menschen nach schweren seelischen Belastungen und ihren Angehörigen, 2. Auflage, Göttingen 2014.

Zum Thema: Geschichte des Viktoriastifts in Bad Kreuznach

Zitierhinweis: Hannah Rosenberg und Nicole Hoffmann, Verschickt ins Stift, in: Heimkindheiten, URL: […], Stand: 21.02.2024.